II.
Aus Sueben und Turkerern werden „Schwaben“
1. Die Hunnen waren fort – aber jetzt mussten die Sarmaten auswandern
Mit dem Sieg der germanischen Völker auf der Balkanhalbinsel über die Hunnen waren zwar die gehassten fremden Herren verschwunden. Aber die bisher ereignislosen Zeiten dort waren auch vorüber. Denn nun begannen die dort lebenden germanischen Völker, sich gegenseitig anzugreifen.
Über die Gründe dafür hat die einzige antike Quelle für diese Vorgänge, der Historiker Jordanes 1 , leider nichts berichtet. Dieser Jordanes soll seiner Abstammung nach angeblich ein Gote gewesen sein; doch scheint das nicht gesichert. Historiker trauen ihm manches Wissen über die seiner Zeit vorausgegangenen Zeiten der Hunnen-Herrschaft zu, aber er hat davon offenbar nur wenig verraten. Außerdem kennt man sein Geschichtswerk nur durch Auszüge, die ein etwas späterer Geschichtsschreiber in lateinischer Sprache, Cassiodor, überliefert hat.
Deutsche Historiker der Neuzeit haben sich – wenn überhaupt – ausschließlich mit den Germanen jener Zeit im Nordteil der Balkanhalbinsel beschäftigt und die wahrscheinlich mindestens ebenso zahlreichen Sarmaten in der gleichen Region völlig außer Acht gelassen.
Man kann aus den spärlichen Andeutungen des Jordanes nur schließen, dass die Ostgoten, die Gepiden, Heruler, Rugier, Sueben, Vandalen, Langobarden oder Skiren, diese Stämme mit germanischer Sprache, die seit langem im heutigen Ungarn und Rumänien oder in der Nachbarschaft lebten, in den Jahren der hunnischen Zwangsherrschaft gehindert waren, ihre gegenseitigen Abneigungen mit dem Schwert kundzutun, wie sie das früher so gerne getan hatten. Die Furcht vor dem Eingreifen der hunnischen Oberherrn hatte das verboten. Jetzt konnten sie wieder nach Herzenslust aufeinander einschlagen.
Die daran nicht beteiligten Sarmaten in der Nachbarschaft muss das schwer betroffen haben. Wahrscheinlich nahm alle paar Monate ein hungriges Germanenheer seinen „Mundvorrat“ von den Herden der Sarmaten mit, an denen es vorbei kam. Außerdem wurden vermutlich die Herden immer wieder von den durchziehenden oder kämpfenden Germanen in ein gefährliches „Stampede“ versetzt.
Die Eigentümer dieser Herden, die sarmatischen Adligen, waren zwar tapfere Krieger, aber ihre kleinen Schwurgemeinschaften von Kriegern und Gesinde lebten nicht in enger Nachbarschaft mit anderen Sarmaten, sondern mit bewusst größerem Abständen zu den Herden des Nachbarn. Daher waren sie nun nicht in der Lage, sich gegen Heere von Germanen zur Wehr zu setzen, wenigstens nicht ohne längere Vorbereitungen.
Bei diesem Volk scheint es nie ein ausgeprägtes Gefühl einer „völkischen“ Einheit gegeben zu haben (ebenso wenig übrigens wie bei den gleichzeitigen Germanen!!). Selbst die kulturelle Verbundenheit in den alten Stämmen der Sarmaten, die sich vielleicht in gemeinsamen religiösen Riten und kultureller Verbundenheit zeigte - und höchstwahrscheinlich noch lange in einer gemeinsamen Farbe der Adelsmäntel -, war jetzt, nach dem Ende der Hunnenzeit, die so Vieles verändert hatte, im Verblassen.
Ein „vereintes Volk der Sarmaten“ hätte vielleicht sich gegenüber den Germanen behaupten können, denn schließlich waren die Krieger dieses Volkes an Tapferkeit und Kampftüchtigkeit den Germanen wahrscheinlich durchaus ebenbürtig. Aber ein solches „vereintes Volk“ gab es eben nie.
Die größten Einheiten von Kriegern, die sich noch zusammenfinden konnten, waren vielleicht die „Dracones“ (Regimenter); sie waren wohl nicht nur im Militäreinsatz, sondern auch im zivilen Leben wohl organisierte Einheiten. Sie umfassten offenbar je ca. 500 – 600 Kriegern und höchstens 2000 Frauen, Kindern und Gesinde aus der unteren Kaste.
Die Befehlshaberschaft dieser Schwurverbände lag sicher bei den Anführern („Fürsten“) der alten Adelsfamilien, deren jüngere Söhne gewissermaßen von Natur aus die unteren „Offiziersstellen“ in diesen halb militärischen, halb zivilen Bevölkerungssplittern besetzten. Die adligen Familien in einem solchen Draco – untereinander vermutlich ziemlich nahe verwandt – könnten vielleicht insgesamt je etwa 40 – 60 Mitglieder gezählt haben.
Die vorstehenden Behauptungen sind, wie fast alle Feststellungen über die Sarmaten, nicht in irgendwelchen alten Schriften zu finden, sondern entstanden aus logischen Überlegungen, die man anstellen kann, wenn schon viele Indizien zusammen gekommen sind, die etwas über die Lebensweise dieses Volkes aussagen.
Bei den Sarmaten in Pannonien dürfte sehr rasch nach dem Ende der Hunnenherrschaft auf der Balkan-Halbinsel und damit dem Beginn der Kriege von Germanen untereinander der Gedanke aufgetaucht sein, aus der jetzt so ungemütlich gewordenen Heimat auszuwandern. Das konnte nur in relativ kleinen Gruppen geschehen; höchstens, dass sich zwei oder drei benachbarte Dracones zusammentaten, die wahrscheinlich auch durch eine Verwandtschaft der führenden Adelsgeschlechter verbunden waren.
Nur so lässt sich erklären, dass in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts n. Chr. überall in Osteuropa und auch in Mitteleuropa Anzeichen für die Ausbreitung sarmatischer Herrschaften über „einheimische“ Bauern sichtbar werden und zur gleichen Zeit dieses einst große und menschenreiche Volk offenbar spurlos verschwindet (siehe dazu das Kapitel III.1 in diesem Buch).
Sehr wahrscheinlich lag es nicht nur am Fehlen antiker Autoren, die sich speziell für dieses Volk interessierten, sondern auch daran, dass eben ab dem Beginn des 6. Jahrhunderts einfach keine Sarmaten mehr da waren, über die hätte berichtet werden können.
Zwei solcher Auswanderungszüge von Sarmaten ins heutige Deutschland hatten langfristig bedeutende Wirkungen für unser Land. Schon bald nach dem Jahr 455 müssen zwei oder drei Dracones aus dem Sarmatenstamm der Jazygen von Ungarn aus nach Nordwesten gezogen sein, in den Tälern der March und der oberen Elbe bis durch den Durchbruch der Elbe durchs Elbsandsteingebirge und von dort weiter nach Westfalen. Ihr Schicksal und ihre spätere Entwicklung beschreiben die beiden Bände dieser Buchreihe 2: Die Westfalen und ihr weißes Ross, sowie 3: Herzog Widukinds Geheimnis.
Fast zu gleicher Zeit, vielleicht nur ein oder zwei Jahre später, zogen andere Sarmaten vom Stamm der Roxolanen auf dem gleichen Weg nach Thüringen. Möglicherweise hatten sich zu dieser Auswanderung alle Reste dieses Stammes zusammengetan, die noch in der pannonischen Puszta ihre Herden weiden ließen. Denn diese Neuankömmlinge waren immerhin so stark, dass sie rund um den Harz ein kräftiges Königreich begründen konnten. Erst durch einen blutigen Kriegszug der verwandten Könige der Merowinger aus dem fernen Gallien rund 80 Jahre später wurde dieses Königreich dem „Reich der Franken“ einverleibt. Die Schicksale dieses Teils der Sarmaten beschreibt der Band 4: Thüringen war einmal ein Königreich.
Doch zu gleicher Zeit scheint es auch Wanderungen von Sarmaten-Gruppen nach Norden (Böhmen, Galizien, Polen, Baltikum, deutsche Ostseeküste) und Osten und später auch nach Süden gegeben zu haben. Sie haben dort in jener Umbruchszeit Europas neue Völker begründet, jeweils gebildet aus einer „Unterschicht“ von slawischen oder baltischen oder germanischen Bauern und einer „Oberschicht“ von sarmatischen Adligen. Dies wird etwas ausführlicher und mit Quellenangaben dargestellt im Band 1: Sarmaten – Unbekannte Väter Europas.
Um den Lesern dieses Buches wenigstens einen Überblick über diese bisher von der westeuropäischen Geschichtsforschung weitgehend übersehenen, aber so wichtigen Vorgängen zu geben, wird das Kapitel 1 im Teil III dieses Buches eine kurzgefasste Zusammenfassung der entsprechenden Erklärungen in Band 1 bieten.
2. Der Weg der Turkerer nach Schwaben
Einen anderen Weg und andere Gründe als die im vorigen Kapitel erwähnten Sarmaten zu ihrer Auswanderung nach Deutschland hatten die Sarmaten, die nach „Schwaben“ kamen. Auch vollzog sich ihr Zuzug erst etliche Jahre nach den im vorigen Kapitel erwähnten „Völkerzügen“.
Dieser Stamm der Sarmaten scheint im 5. Jahrhundert nicht im eigentlichen Pannonien (Ungarn) gelebt zu haben, sondern weiter südlich, im heutigen Serbien. Vielleicht war dieser Stamm daher zunächst nicht so stark von den ständigen Kriegen der Germanen auf der Balkanhalbinsel untereinander betroffen wie die weiter donau-aufwärts lebenden Sarmaten.
Zu diesem Stammesnamen „Turkerer“ (in lateinischen Quellen „Torci“ geschrieben) existiert ein Hinweis in der frühmittelalterlichen Geschichtsliteratur, den aber die modernen Historiker nie ernst genommen haben. Warum sollte auch „Torci“ etwas anderes als „Türken“ bedeutet haben? Weil das aber historisch nicht passen konnte, hat die Geschichtswissenschaft ab dem 19. Jahrhundert diesen Hinweis in „Thuringi“ oder ähnliche Worte umgedeutet oder aber am liebsten ganz außer Acht gelassen.
Die Geschichtsquelle, die diese „Torci“ erwähnt, ist die sogenannte „Chronik des Fredegar“ aus dem frühen 7. Jahrhundert. Dieser Mönch lebte im westlichen Teil des Frankenreichs und hat – anders als sein Vorgänger im Bemühen um eine aufklärung der Frühgeschichte der „Franken“, Gregor von Tours – offenbar zahlreiche „Stories“ gehört und aufgeschrieben, die bei alten Adelsgeschlechtern noch zu seiner Zeit mündlich umliefen. Diese Geschlechter waren Nachkommen der sarmatischen Adligen, die die Fürsten aus der späteren Merowinger-Dynastie auf ihrem abenteuerlichen Weg von der Donau bei Budapest bis nach Nordfrankreich begleitet hatten. Hierzu Genaueres im Band 6 dieser Buchreihe : Die Ahnen der Merowinger und ihr „fränkischer“ König Chlodwig.
Eine der von Mönch Fredegar festgehaltenen und so bis heute überlieferten Geschichte über die „Frühgeschichte“ der Menschengruppe, die dann mit den später Merowinger genannten Anführern ihre Wanderung angetreten hatte, lautete (etwas verkürzt) so: Die „Franken“ seien Nachkommen von Flüchtlingen aus dem von den Griechen eroberten Troja gewesen, später hätten sich diese geteilt in „Frigier“ und „Makedonen“, danach die „Frigier“ nochmals , „die Hälfte sei mit ihrem König Francio nach Europa gezogen, der andere Teil, der am Ufer der Donau zurückgeblieben war, erwählte sich Torcoth zum König, nach dem sie in diesem Land Türken genannt wurden.“
So falsch und irreführend lautet die „offizielle“ Übersetzung dieser Stelle Fredegars 2. Was hatten wohl Vorgänge aus der ersten Hälfte des letzten v o r christlichen Jahrtausends (wenn sie denn irgendetwas Historisches zu bedeuten hatten) mit den Türken zu tun, die nachweislich erst etwa anderthalb Jahrtausende später in Erscheinung traten?
Eine weitere Erwähnung dieser „Torci“ oder „Turcilinger“ – nun aus einer Zeit um das Jahr 470 nach Christi Geburt – findet sich wieder beim spätantiken Historiker Jordanes, der aber in seiner Art höchst einsilbig bleibt und es dem heutigen Historiker überlässt, aus einzelnen isolierten Bemerkungen sich ein vielleicht zutreffendes Bild über die tatsächlichen Vorgänge zu machen.
Nach einem guten Jahrzehnt wilder Kämpfe zwischen Germanenstämmen auf der Balkanhalbinsel hatten sich offenbar die sarmatischen Turkerer einer Koalition von Germanen gegen das damals stärkste Volk in dieser Weltgegend, die Ostgoten, angeschlossen. „Suaven“ (Sueben), Skiren, Gepiden und Rugier waren die Kampfgenossen. Doch die große Zahl von Bündnisgenossen sicherte nicht den Erfolg. Sie verloren die Entscheidungsschlacht gegen die Ostgoten. Das dürfte im Jahr 468 passiert sein 3.
Bereits im folgenden Winter, so berichtet Jordanes weiter, habe der ostgotische König Thiudemir, der Vater Theoderichs des Großen, einen Feldzug gegen einen Teil der besiegten Koalition angetreten, gegen die Sueben. Offenbar war dieser Stamm ihm so verhasst, dass er auch die ganz entfernt lebenden Verwandten abstrafen wollte, die Sueben, „die an der Quelle der Donau leben“.
Dieser Feldzug sei auf dem Eis der im Winter zugefrorenen Donau erfolgt, vielleicht 1200 oder mehr Kilometer , bis in den Schwarzwald! Laut Jordanes wurden dabei die Länder der Suaven und Alemannen, die dort benachbart lebten und wohl auch verbündet waren, „verheert und fast unterworfen“.
Hier erinnert der Bericht des Jordanes sehr an ähnliche „Erfolgsmeldungen“ römischer Autoren über Kämpfe gegen Germanen. Viel mehr als ein paar angezündete und geplünderte Dörfer werden die Ostgoten wohl nicht als „Erfolg“ zu verzeichnen gehabt haben.
Ein Jahr später – 469 oder 470? – kehrte (immer noch nach Jordanes) der junge Sohn Thiudemirs, Theoderich, von seinem ehrenvollen Aufenthalt als „Geisel“ in Konstantinopel in die Heimat zurück. Sozusagen im Vorbeiziehen soll er dabei die Sarmatenkönige Babai und Beuka bei Singidunum (in der Nähe des heutigen Belgrad) besiegt haben, angeblich ohne Wissen des Vaters.
Wie hat der junge Mann das gemacht? Hatte er ein ganzes Heer bei sich in Konstantinopel während seiner Zeit als „geachtete Geisel“? Das ist eines der vielen kleinen Rätsel in dem Bericht des Jordanes, kein sehr weltbewegendes, aber eines, dessen Lösung wieder ein wenig mehr Klarheit über das Schicksal der so vergessenen Sarmaten bringen könnte.
Diese Stelle war übrigens wohl zeitlich die letzte in der spätantiken Literatur, in der der Völkername „Sarmaten“ vorkommt. Zu welchem sarmatischen Stamm oder Reich diese Könige gehörten, erwähnt Jordanes nicht, es kann sich aber eigentlich nur um die zuvor erwähnten „Turkerer“ gehandelt haben.
Was weiter auf der Balkanhalbinsel geschah, muss sich der an Geschichte Interessierte wieder mühsam zusammenreimen. Die aus der Schlacht gegen die Ostgoten entkommenen Krieger verschiedener germanischer Stämme dürften si...