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Tagebücher 1910 – 1923
Über dieses Buch
"Tagebücher 1910 – 1923" ist eine Sammlung von Tagebuchaufzeichnungen Franz Kafkas, verfasst zwischen 1910 und 1923. Sie enthalten nicht nur persönliche Notizen, autobiographische Reflexionen, Elemente einer Selbstverständigung des Schriftstellers über sein Schreiben, sondern auch Aphorismen, Entwürfe für Erzählungen und zahlreiche literarische Fragmente.
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Information
1911
3. Januar. »Du«, sagte ich und gab ihm hierauf einen kleinen Stoß mit dem Knie.
»Ich will mich verabschieden.« Bei dem plötzlichen Reden flog mir etwas Speichel als schlechtes Vorzeichen aus dem Mund. »Das hast du dir aber lange überlegt«, sagte er, trat von der Wand weg und streckte sich.
»Nein, das habe ich mir gar nicht überlegt.«
»Worüber hast du also nachgedacht?«
»Ich habe mich zum letzten Mal noch ein wenig für die Gesellschaft vorbereitet. Streng dich so an, wie du kannst, das wirst du nicht verstehn. Ich, ein beliebiger Mann aus der Provinz, den man jeden Augenblick mit einem von jenen austauschen kann, wie sie vor den Bahnhöfen nach bestimmten Zügen zu Hunderten beisammenstehn.«
4. Januar. ›Glaube und Heimat‹ von Schönherr.
Die nassen Finger der Galeriebesucher unter mir, die sich die Augen wischen.
6. Januar. »Du«, sagte ich, zielte und gab ihm einen kleinen Stoß mit dem Knie, »jetzt geh ich aber. Wenn du es mit ansehn willst, mach die Augen auf.«
»Also doch?« fragte er, wobei er mich aus vollständig offenen Augen mit einem geraden Blick ansah, der aber dennoch so schwach war, daß ich ihn mit einem Wehen des Armes hätte abwehren können. »Du gehst also doch? Was soll ich machen? Halten kann ich dich nicht. Und wenn ich es könnte, so will ich es nicht. Damit will ich dich nur über dein Gefühl aufklären, nach welchem du doch von mir zurückgehalten werden könntest.« Und sofort setzte er das Gesicht derniedrigen Dienstboten auf, mit dem diese innerhalb eines sonst geregelten Staates die herrschaftlichen Kinder folgsam oder ängstlich machen dürfen.
7. Januar. N.s Schwester, die in ihren Bräutigam so verliebt ist, daß sie es so einzurichten sucht, mit jedem Besucher einzeln zu reden, da man sich dem einzelnen gegenüber besser über seine Liebe aussprechen und wiederholen kann.
Wie durch Zauberei (denn weder äußere noch innere Umstände, die jetzt freundlicher sind als seit einem Jahr, hinderten mich) wurde ich während des ganzen freien Tages, es ist ein Sonntag, vom Schreiben abgehalten. – Einige neue Erkenntnisse über das Unglückswesen, das ich bin, sind mir tröstend aufgegangen.
12. Januar. Ich habe vieles in diesen Tagen über mich nicht aufgeschrieben, teils aus Faulheit (ich schlafe jetzt so viel und fest bei Tag, ich habe während des Schlafes ein größeres Gewicht), teils aber auch aus Angst, meine Selbsterkenntnis zu verraten. Diese Angst ist berechtigt, denn endgültig durch Aufschreiben fixiert dürfte eine Selbsterkenntnis nur dann werden, wenn dies in größter Vollständigkeit bis in alle nebensächlichen Konsequenzen hinein sowie mit gänzlicher Wahrhaftigkeit geschehen könnte. Denn geschieht dies nicht – und ich bin dessen jedenfalls nicht fähig –, dann ersetzt das Aufgeschriebene nach eigener Absicht und mit der Übermacht des Fixierten das bloß allgemein Gefühlte nur in der Weise, daß das richtige Gefühl schwindet, während die Wertlosigkeit des Notierten zu spät erkannt wird.
Vor ein paar Tagen Leonie Frippon, Kabaretteuse, ›Stadt Wien‹. Frisur umbundener Lockenhaufen. Schlechtes Mieder, sehr altes Kleid, aber sehr hübsch mit tragischen Bewegungen, Anstrengungen der Augenlider, Ausfällen der langen Beine, gut verstandenem Strecken der Arme den Leib entlang. Bedeutung des steifen Halses bei zweideutigen Stellen. Gesungen: Knopfsammlung im Louvre.
Schiller, von Schadow 1804 in Berlin, wo er sehr geehrt worden war, gezeichnet. Fester als bei dieser Nase kann man ein Gesicht nicht fassen. Die Nasenmittelwand ist ein wenig herabgezogen infolge der Gewohnheit, bei der Arbeit an der Nase zu zupfen. Ein freundlicher, etwas hohlwangiger Mensch, den das rasierte Gesicht wahrscheinlich greisenhaft gemacht hat.
14. Januar. Roman ›Eheleute‹ von Beradt. Viel schlechtes Jüdisches. Ein plötzliches einförmiges neckisches Auftreten des Autors, zum Beispiel alle waren lustig, aber einer war da, der war nicht lustig. Oder: da kommt ein Herr Stern (den wir bis in seine Romanknochen hinein schon kennen). Auch bei Hamsun gibt es Ähnliches, aber dort ist es so natürlich wie die Knoten im Holz, hier aber tropft es in die Handlung wie eine Modemedizin auf Zucker. – An sonderbaren Wendungen wird grundlos festgehalten, zum Beispiel: er war um ihre Haare bemüht, bemüht und wieder bemüht. – Einzelne Menschen sind, ohne in ein neues Licht gebracht zu werden, gut herausgebracht, so gut, daß selbst streckenweise Fehler nicht schaden. Nebenpersonen meist trostlos.
17. Januar. Max hat mir den ersten Akt des ›Abschieds von der Jugend‹ vorgelesen. Wie kann ich so, wie ich heute bin, diesem beikommen; ein Jahr müßte ich suchen, ehe ich ein wahres Gefühl in mir fände, und soll im Kaffeehaus spät am Abend, von verlaufenen Winden einer trotz allem schlechten Verdauung geplagt, einem so großen Werk gegenüber irgendwie berechtigt auf meinem Sessel sitzen bleiben dürfen.
19. Januar. Ich werde, da ich von Grund aus fertig zu sein scheine im letzten Jahr bin ich nicht mehr als fünf Minuten lang aufgewacht – jeden Tag entweder mich von der Erde wegwünschen müssen oder aber, ohne daß ich darin auch die mäßigste Hoffnung sehen dürfte, von vorn als kleines Kind anfangen müssen. Ich werde es hiebei äußerlich leichter haben als damals. Denn in jenen Zeiten strebte ich noch kaum mit matter Ahnung zu einer Darstellung, die von Wort zu Wort mit meinem Leben verbunden wäre, die ich an meine Brust ziehen und die mich von meinem Platz hinreißen sollte. Mit welchem Jammer (dem gegenwärtigen allerdings unvergleichbar) habe ich angefangen! Welche Kälte verfolgte mich aus dem Geschriebenen tagelang! Wie groß war die Gefahr und wie wenig unterbrochen wirkte sie, daß ich jene Kälte gar nicht fühlte, was freilich mein Unglück im ganzen nicht viel kleiner machte.
Einmal hatte ich einen Roman vor, in dem zwei Brüder gegeneinander kämpften, von denen einer nach Amerika fuhr, während der andere in einem europäischen Gefängnis blieb. Ich fing nur hie und da Zeilen zu schreiben an, denn es ermüdete mich gleich. So schrieb ich einmal auch an einem Sonntagnachmittag, als wir bei den Großeltern zu Besuch waren und ein dort immer übliches, besonders weiches Brot, mit Butter bestrichen, aufgegessen hatten, etwas über mein Gefängnis auf. Es ist schon möglich, daß ich es zum größten Teil aus Eitelkeit machte und durch Verschieben des Papiers auf dem Tischtuch, Klopfen mit dem Bleistift, Herumschauen in der Runde unter der Lampe durch, jemanden verlocken wollte, das Geschriebene mir wegzunehmen, es anzuschauen und mich zu bewundern. In den paar Zeilen war in der Hauptsache der Korridor des Gefängnisses beschrieben, vor allem seine Stille und Kälte; über den zurückbleibenden Bruder war auch ein mitleidiges Wort gesagt, weil es der gute Bruder war. Vielleicht hatte ich ein augenblickliches Gefühl für die Wertlosigkeit meiner Schilderung, nur habe ich vor jenem Nachmittag auf solche Gefühle nie viel geachtet, wenn ich unter den Verwandten, an die ich gewöhnt war (meine Ängstlichkeit war so groß, daß sie mich im Gewohnten schon halb glücklich machte), um den runden Tisch im bekannten Zimmer saß und nicht vergessen konnte, daß ich jung und aus dieser gegenwärtigen Ungestörtheit zu Großem berufen war. Ein Onkel, der gern auslachte, nahm mir endlich das Blatt, das ich nur schwach hielt, sah es kurz an, reichte es mir wieder, sogar ohne zu lachen, und sagte nur zu den andern, die ihn mit den Augen verfolgten, »das gewöhnliche Zeug«, zu mir sagte er nichts. Ich blieb zwar sitzen und beugte mich wie früher über mein also unbrauchbares Blatt, aber aus der Gesellschaft war ich tatsächlich mit einem Stoß vertrieben, das Urteil des Onkels wiederholte sich in mir mit schon fast wirklicher Bedeutung, und ich bekam selbst innerhalb des Familiengefühls einen Einblick in den kalten Raum unserer Welt, den ich mit einem Feuer erwärmen müßte, das ich erst suchen wollte.
19. Februar. Wie ich heute aus dem Bett steigen wollte, bin ich einfach zusammengeklappt. Es hat das einen sehr einfachen Grund, ich bin vollkommen überarbeitet. Nicht durch das Bureau, aber durch meine sonstige Arbeit. Das Bureau hat nur insofern einen unschuldigen Anteil daran, als ich, wenn ich nicht hinmüßte, ruhig für meine Arbeit leben könnte und nicht diese sechs Stunden täglich dort verbringen müßte, die mich besonders Freitag und Samstag, weil ich voll meiner Sachen war, gequält haben, daß Sie es sich nicht ausdenken können. Schließlich, das weiß ich ja, ist das nur Geschwätz, schuldig bin ich, und das Bureau hat gegen mich die klarsten und berechtigtesten Forderungen. Nur ist es eben für mich ein schreckliches Doppelleben, aus dem es wahrscheinlich nur den Irrsinn als Ausweg gibt. Ich schreibe das bei gutem Morgenlicht und würde es sicher nicht schreiben, wenn es nicht so wahr wäre und wenn ich Sie nicht so liebte wie ein Sohn.
Im übrigen bin ich morgen schon wieder sicher beisammen und komme ins Bureau, wo ich als erstes hören werde, daß Sie mich aus Ihrer Abteilung weghaben wollen.
19. Februar. Die besondere Art meiner Inspiration, in der ich Glücklichster und Unglücklichster jetzt um zwei Uhr nachts schlafen gehe (sie wird vielleicht, wenn ich nur den Gedanken daran ertrage, bleiben, denn sie ist höher als alle früheren), ist die, daß ich alles kann, nicht nur auf eine bestimmte Arbeit hin. Wenn ich wahllos einen Satz hinschreibe, zum Beispiel: »Er schaute aus dem Fenster«, so ist er schon vollkommen.
»Wirst du noch lange hier bleiben?« fragte ich. Bei dem plötzlichen Reden flog mir etwas Speichel als schlechtes Vorzeichen aus dem Mund.
»Stört es dich? Wenn es dich stört oder vielleicht vom Hinaufgehn abhält, gehe ich gleich, sonst aber bliebe ich noch gern, weil ich müde bin.«
Schließlich durfte er aber auch zufrieden sein und immer zufriedener werden, je genauer ich ihn erkannte. Denn er erkannte mich offenbar immerfort noch genauer und konnte mich sicher mit allen meinen Erkenntnissen in die Tasche stecken. Wie war es denn sonst zu erklären, daß ich noch auf der Gasse blieb, als wäre vor mir kein Haus, sondern Feuer. Wenn man in eine Gesellschaft geladen ist, so betritt man doch einfach das Haus, steigt die Treppe hinauf und merkt es kaum, so sehr ist man in Gedanken. Nur so handelt man richtig gegen sich und gegen die Gesellschaft.11
20. Februar. Mella Mars in der ›Lucerna‹. Eine witzige Tragödin, die gewissermaßen auf einer verkehrten Bühne so auftritt, wie sich Tragödinnen manchmal hinter der Szene zeigen. Beim Auftreten hat sie ein müdes, allerdings auch flaches leeres altes Gesicht, wie dies für alle bewußten Schauspieler ein natürlicher Anlauf ist. Sie spricht sehr scharf, auch ihre Bewegungen sind so, von dem durchgebogenen Daumen angefangen, der statt der Knochen harte Sehnen zu haben scheint. Besondere Wandlungsfähigkeit ihrer Nase durch die wechselnden Lichter und Vertiefungen der ringsherum spielenden Muskeln. Trotz der ewigen Blitze ihrer Bewegungen und Worte pointiert sie zart.
Kleine Städte haben auch kleine Umgebungen für den Spaziergänger.
Die jungen, reinen, gut gekleideten Jungen neben mir im Promenoir12 erinnerten mich an meine Jugend und machten daher einen unappetitlichen Eindruck auf mich.
Kleist Jugendbriefe, zweiundzwanzig Jahre alt. Gibt den Soldatenstand auf. Zu Hause fragt man: Also welche Brotwissenschaft, denn die hielt man für selbstverständlich. Du hast die Wahl zwischen Jurisprudenz und Kameralwissenschaft. Aber hast du auch Konnexionen bei Hofe? »Ich verneinte anfänglich etwas verlegen, aber erklärte darauf um so viel stolzer, daß ich, wenn ich auch Konnexionen hätte, mich nach meinen jetzigen Begriffen schämen müßte, darauf zu rechnen. Man lächelte, ich fühlte, daß ich mich übereilt hatte. Solche Wahrheiten muß man sich hüten auszusprechen.«
21. Februar. Mein Leben hier ist so, als wäre ich eines zweiten Lebens ganz gewiß, so wie ich zum Beispiel den mißlungenen Aufenthalt in Paris im Hinblick darauf verschmerzte, daß ich danach streben werde, bald wieder hinzukommen. Hiebei der Anblick der scharf getrennten Licht-und Schattenpartien auf dem Gassenpflaster.
Einen Augenblick lang fühlte ich mich umpanzert.
Wie fern sind mir zum Beispiel die Armmuskeln.
Marc Henry-Delvard. Das durch den leeren Saal erzeugte tragische Gefühl im Zuschauer begünstigt die Wirkung ernster Lieder, schadet den lustigen. – Henry prologiert, unterdes die Delvard hinter einem Vorhang, der, was sie nicht weiß, durchscheinend ist, sich die Haare ordnet. – W., der Veranstalter, scheint bei schlecht besuchten Veranstaltungen seinen assyrischen Bart, der sonst tiefschwarz ist, graumeliert zu tragen. – Gut, sich von so einem Temperament anblasen zu lassen, das hält für vierundzwanzig Stunden, nein, nicht so lange. – Viel Kleideraufwand, bretonische Kostüme, der unterste Unterrock ist der längste, so daß man den Reichtum von der Ferne zählen kann. – Zuerst begleitet die Delvard, weil man einen Begleiter sparen wollte, in einem weiten ausgeschnittenen grünen Kleid und friert. – Pariser Straßenrufe. Zeitungsausträger sind weggeblasen. – Jemand spricht mich an; ehe ich aufatme, bin ich verabschiedet. – Delvard ist lächerlich, sie hat das Lächeln alter Jungfern, eine alte Jungfer des deutschen Kabaretts. Mit einem roten Shawl, den sie sich hinter dem Vorhang holt, macht sie Revolution. Gedichte von Dauthendey mit der gleichen zähen, nicht zu zerhackenden Stimme. Nur wie sie frauenhaft anfangs am Klavier saß, war sie lieb. Bei dem Lied »à Batignolles« spürte ich Paris im Hals. Batignolles soll rentnerhaft sein, auch seine Apachen. Bruant hat jedem Quartier sein Lied gemacht.
Die städtische Welt
Oskar M., ein älterer Student – wenn man ihn nahe ansah, erschrak man vor seinen Augen – blieb an einem Winternachmittag mitten im Schneefall auf einem leeren Platz stehn, in seinen Winterkleidern mit dem Winterrock darüber, einem Shawl um den Hals und einer Fellmütze auf dem Kopf, Er zwinkerte mit den Augen vor Nachdenken. So sehr hatte er sich in Gedanken verlassen, daß er einmal die Mütze abnahm und mit ihrem krausen Fell sich über das Gesicht strich. Endlich schien er zu einem Schluß gekommen und wendete sich mit einer Tanzdrehung zum Heimweg.
Als er die Tür des elterlichen Wohnzimmers öffnete, sah er seinen Vater, einen glattrasierten Mann mit schwerem Fleischgesicht, der Tür zugekehrt, an einem leeren Tisch sitzen. »Endlich«, sagte dieser, kaum daß Oskar den Fuß ins Zimmer gesetzt hatte, »bleib, ich bitte dich, bei der Tür, ich habe nämlich eine solche Wut auf dich, daß ich meiner nicht sicher bin.«
»Aber Vater«, sagte Oskar und merkte erst beim Reden, wie er gelaufen war.
»Ruhe«, schrie der Vater und stand auf, wodurch er ein Fenster verdeckte. »Ruhe befehle ich. Und deine ›Aber‹ laß dir, verstehst du.« Dabei nahm er den Tisch mit beiden Händen und trug ihn einen Schritt Oskar näher. »Dein Lotterleben ertrage ich einfach nicht länger. Ich bin ein alter Mann. In dir dachte ich einen Trost des Alters zu haben, indessen bist du für mich ärger als alle meine Krankheiten. Pfui über einen solchen Sohn, der durch Faulheit, Verschwendung, Bosheit und (warum soll ich es dir nicht offen sagen) Dummheit seinen alten Vater ins Grab drängt.« Hier verstummte der Vater, bewegte aber sein Gesicht, als rede er noch.
»Lieber Vater«, sagte Oskar und ging vorsichtig dem Tisch zu, »beruhige dich, alles wird gut werden. Ich habe heute einen Einfall gehabt, der mich zu einem tätigen Menschen machen wird, wie du es dir nur wünschen kannst.«
»Wie das?« fragte der Vater und sah in eine Zimmerecke.
»Vertraue mir nur, beim Abendessen werde ich dir alles erklären. In meinem Innern war ich immer ein guter Sohn, nur daß ich es auch außen nicht zeigen konnte, verbitterte mich so, daß ich dich lieber ärgerte, wenn ich dich schon nicht erfreuen konnte. Jetzt aber laß mich noch ein wenig spazierengehn, damit sich meine Gedanken klarer entwickeln.«
Der Vater, der sich zuerst, aufmerksam werdend, auf den Tischrand gesetzt hatte, stand auf. »Ich glaube nicht, daß das, was du jetzt gesagt hast, viel Sinn hat, ich halte es eher für Geschwätz. Aber schließlich bist du mein Sohn. – Komm rechtzeitig, wir werden zu Hause nachtmahlen, und du kannst deine Sache dann vortragen.«
»Dieses kleine Vertrauen genügt mir, ich bin dafür von Herzen dankbar. Aber ist es denn nicht schon an meinen Blicken zu sehn, daß ich mit einer ernsten Sache vollkommen beschäftigt bin.«
»Ich sehe vorläufig nichts«, sagte der Vater. »Aber es kann auch meine Schuld sein, denn ich bin aus der Übung gekommen, dich überhaupt anzusehn.« Dabei machte er, wie es seine Gewohnheit war, durch regelmäßiges Beklopfen der Tischplatte darauf aufmerksam, wie die Zeit verging. »Die Hauptsache aber ist, daß ich gar kein Vertrauen mehr zu dir habe, Oskar. Wenn ich dich einmal anschreie – wie du gekommen bist, habe ich dich doch angeschrien, nicht wahr? –so tue ich das nicht in der Hoffnung, es könnte dich bessern, ich tue es nur in Gedanken an deine arme gute Mutter, die jetzt vielleicht noch kein unmittelbares Leid über dich verspürt, aber schon an der Anstrengung, ein solches Leid abzuwehren, denn sie glaubt dir dadurch irgendwie zu helfen, langsam zugrunde geht. Aber schließlich sind das ja Sachen, die du sehr gut weißt, und ich hätte schon aus Rücksicht auf mich nicht wieder an sie erinnert, wenn du mich durch deine Versprechungen nicht dazu gereizt hättest.«
Während der letzten Worte trat das Dienstmädchen ein, um nach dem Feuer im Ofen zu sehn. Kaum hatte sie das Zimmer verlassen, als Oskar ausrief: »Aber Vater! Ich hätte das nicht erwartet. Wenn ich nur einen kleinen Einfall gehabt hätte, sagen wir, einen Einfall zu meiner Dissertation, die ja schon zehn Jahre in meinem Kasten liegt und Einfälle braucht wie Salz, so ist es möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich, daß ich, wie es heute geschehen ist, vom Spaziergang nach Hause gelaufen wäre und gesagt hätte: ›Vater, ich habe glücklicherweise diesen und diesen Einfall.‹ Wenn du daraufhin mit deiner ehrwürdigen Stimme die Vorwürfe von vorhin mir ins Gesicht gesagt hättest, dann wäre mein Einfall einfach weggeblasen gewesen, und ich hätte sofort mit irgendeiner Entschuldigung oder ohne solche abmarschieren müssen. Jetzt dagegen! Alles, was du gegen mich sagst, hilft meinen Ideen, sie hören nicht auf, stark werdend füllen sie mir den Kopf. Ich werde gehn, weil ich nur im Alleinsein Ordnung in sie bringen kann.« Er schluckte an seinem Atem in dem warmen Zimmer.
»Es kann ja auch eine Lumperei sein, die du im Kopf hast«, sagte der Vater mit großen Augen, »dann glaube ich schon, daß sie dich festhält...
Inhaltsverzeichnis
- Über das Buch
- Inhaltsverzeichnis
- 1910
- 1911
- 1912
- 1913
- 1914
- Aufzeichnungen aus dem Jahre 1914
- 1915
- 1916
- 1917
- 1919
- 1920
- 1921
- 1922
- 1923
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