1. EINLEITUNG
Das delphische Orakel spricht nicht frei heraus,
aber es verbirgt auch nichts: es deutet an.
(Heraklit)
Allein das Wort "Wahrsagung" vermag die verschiedensten Assoziationen und Vorstellungswelten hervorzurufen, angefangen mit des Wortes ursprünglicher Bedeutung "Sehen, Prophetie"(1) bis hin zu den unzähligen Methoden, die im Laufe der Zeit entwickelt wurden, die Zukunft vorherzusagen. Um einen kurzen Überblick über die Geschichte und die verschiedenen Methoden der Wahrsagung zu geben, möchte ich zunächst den Versuch unternehmen, den Begriff "Wahrsagung" von den ihm verwandten Ausdrücken wie "Prophezeihung" und "Weissagung" zu differenzieren, da im Deutschen anders als bei dem englischen Begriff "divination", der sowohl die "Wahrsagung" als auch die "Weissagung" in sich vereint, diese Begriffe häufig verwechselt bzw. undifferenziert verwendet werden.
Unterscheidung von Wahrsagung und Weissagung
Im entsprechenden lateinischen Wort "divinare" ist durch die Bedeutung von "eine göttliche Eingebung haben, weissagen, ahnen, vermuten, erraten" sowie durch seine Verwandtschaft mit dem Wort "divinus" im Sinne von "göttlich" die Ebene der Wahrsagung von der Weissagung (noch) nicht getrennt. Jede Erkenntnis, die nicht durch Menschenverstand oder den damaligen Stand der Wissenschaft geklärt werden konnte, wurde als göttliche Eingebung verstanden, so dass die Gabe die Zukunft vorauszusehen und vorherzusagen, von den Göttern kam. Dass es sich bei dieser Gabe, durchaus nicht immer um ein willkommenes Geschenk handeln musste, zeigen bereits die prophetischen Bücher im Alten Testament. Denn der Prophet im Alten Testament - im Sinne eines Menschen, der für einen anderen bzw. für eine Gottheit spricht - hat zwar das Vorrecht, Gott zu sehen und zu hören, doch übernimmt er mit dieser Gabe auch die Verpflichtung, das jeweils Gesehene oder Gehörte den Menschen zu verkünden, was vor allem in politischer Hinsicht für manchen Propheten sehr gefährlich werden konnte. Aus diesem Grund ging man später immer mehr dazu über, Prophezeihungen politisch-historischer Natur verschlüsselt abzufassen, deren berühmtestes Beispiel die Weissagungen des Nostradamus sind.
Auch im griechischen Wort "manteia" bzw. "manteuo" in der Bedeutung von "einen Götterspruch verkünden, voraussagen, vermuten, ein Orakel befragen" wird noch keine direkte Unterscheidung zwischen Wahr- und Weissagung getroffen. Durch seine Verwandtschaft mit dem Wort "mania" dem "Wahnsinn", bei dem es sich weniger um eine Geisteskrankheit als vielmehr um einen Zustand der Begeisterung oder Verzückung handelt, kann man ebenso wie bei dem lateinischen Äquivalent zunächst von einer Bedeutung ausgehen, bei der die Qualität des Sehens im Vordergrund stand.
Zur Abgrenzung der Wahr- von der Weissagung ist ein Blick auf den Begriff "Orakel" aufschlussreich. Bei einem Orakel (lateinisch "oraculum") handelt es sich zunächst um das Heiligtum eines Gottes, an dem die jeweilige Gottheit, meist über ein Medium, die an sie gerichteten Fragen beantworten sollte. Ebenso ist auch die Antwort im Sinne eines Götterspruches sowie die Gottheit selbst unter dem Begriff "Orakel" verstanden worden, so dass das Orakel zunächst untrennbar mit der Religion verbunden war. Interessant ist auch seine semantische Verwandtschaft mit dem Wort "orare" in der Bedeutung von "bitten, ersuchen, sprechen", das eine Verbindung zwischen der Gottheit und der Person, die das Orakel um Rat fragt, herstellt.
Zu den bekanntesten Orakelstätten in Griechenland gehört zweifellos das Orakel von Delphi, wo der Gott Apoll dem einzelnen Bittsteller über sein Medium - die Phythia - die berühmten Orakelsprüche erteilte. Die genaue Technik mit der die Pythia ihre Antworten von Apoll erhielt, ist nicht überliefert, doch muss es sich um eine seherische Methode gehandelt haben, ähnlich wie bei einem Propheten.(2) Der wesentliche Unterschied zwischen Orakel und Weissagung besteht jedoch darin, dass ein Orakel im Regelfall nicht von sich aus, sondern immer nur auf Anfrage Auskunft erteilte, so dass es bedingt durch die Fragestellung in seiner Voraussage inhaltlich wie zeitlich begrenzt war. Zur Befragung eines Orakels bediente man sich ferner in fast allen Fällen einer bestimmten Technik, die mehr oder weniger lernbar ist, um eine Antwort des Orakels zu erhalten. Für die Abgrenzung von Wahr- und Weissagung heißt das, dass es sich bei der Weissagung um eine spontane Vorhersage der Zukunft handelt, die sich, da ihr keine Fragestellung vorgegeben ist, auf einen beliebigen Zeitraum mit beliebigem Inhalt erstrecken kann. Eine derartige Vision entsteht also im Regelfall ohne äußeren Zwang, und ohne, dass der Prophet eine bewusste Anstrengung unternehmen müsste. Meist handelt es sich bei Weissagungen um die Zukunft von wichtigen politisch-historischen Persönlichkeiten oder gar Völkern bzw. ganzen Staatsgebilden, bis hin zum politischen Verlauf des gesamten Weltgeschehens, wie z.B. bei den Weissagungen des Nostradamus.
Natürlich beschäftigte sich die Wahrsagung ursprünglich ebenfalls hauptsächlich mit den Anliegen wichtiger Persönlichkeiten oder mit politischen Fragestellungen, doch während sich im Bereich der Wahrsagung seit ihren Anfängen bis in die jüngste Zeit hinein sehr differenzierte Methoden, die sich immer mehr auf die Interessen des Einzelnen konzentrierten, entfalten konnten, ist in der historischen Entwicklung der Weissagung keine wesentliche Veränderung festzustellen; denn ihrem Wesen nach handelt es sich bei der Weissagung ja nicht um eine Technik, sondern um die Gabe bzw. Veranlagung, die...