1 Zensur
Es ist immer möglich, dass man im Raum eines wilden Außen die Wahrheit sagt; aber im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven ›Polizei‹ gehorcht (…).1
Michel Foucault
Sobald der Begriff Zensur gebraucht wird, reagieren Medienvertreter gereizt. Schnell wird beteuert, dass einzelne Journalisten, aber auch komplette Redaktionen frei in ihren Entscheidungen seien. Weder rufe Merkel persönlich an und diktiere, welche Informationen in den Medien auftauchen dürften, noch gäbe es sonst eine ›mächtige Gruppe‹, die ihnen vorschreibe, wie ihre Berichterstattung auszusehen habe.
Ist das nicht interessant? Auf der einen Seite stehen Medienvertreter, die durchaus glaubhaft versichern, dass sie keiner Zensur unterworfen sind, während sich auf der anderen Seite ein Publikum bemerkbar macht, das ebenso fest vom Gegenteil überzeugt ist. Die Situation macht neugierig. Wie kann es sein, dass im Grunde genommen ein ziemlich simpler Sachverhalt so völlig unterschiedlich wahrgenommen und dargestellt wird?
Werfen wir zunächst einen Blick ins Grundgesetz. Dort steht in Artikel 5:
- »Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.
- Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.«2
Das sind eindeutige Aussagen, an denen man nicht ohne weiteres vorbeikommt. Warum sind Kritiker dennoch davon überzeugt, dass in Deutschland sehr wohl eine Zensur stattfindet?
Der Reihe nach.
Die Bundeszentrale für politische Bildung führt unter der Überschrift »Zensur. Präventiv-, Vorzensur, Repressiv-, Nachzensur, Zensurfreiheit« eine Erklärung aus dem Duden an:
»1) eine von i. d. R. staatlicher Stelle vorgenommene Überprüfung und Kontrolle von Druckwerken, Hörfunk-, Fernseh-, Film-, Tonträger- und Videoproduktionen u. Ä. auf ihre politische, gesetzliche, sittliche und religiöse Konformität und 2) die ggf. daraufhin erfolgende Unterdrückung bzw. das Verbot der unerwünschten Veröffentlichungen. Unterschieden wird zwischen Präventiv- bzw. Vorzensur (die Publikationen müssen vor der Veröffentlichung einer Zensurbehörde zur Genehmigung vorgelegt werden) und Repressiv- bzw. Nachzensur (bereits erschienene Veröffentlichungen werden ganz oder teilweise beschlagnahmt oder ihre Verbreitung beschränkt bzw. verboten). I. w. S. erfasst der Begriff Zensur darüber hinaus die Kontrolle jeglicher Form von Meinungsäußerung.«3
Betrachten wir diese etwas sperrige Definition. Zensur erfasst also in einem weiteren Sinne auch »die Kontrolle jeglicher Form von Meinungsäußerung.«
Zunächst einmal müssen wir feststellen, dass Bürger wie auch Journalisten prinzipiell frei ihre Meinung äußern können. Sicher: Die zwar gesetzlich garantierte freie Meinungsäußerung kann kaum losgelöst von den komplexen und teilweise ziemlich subtilen sozialen Mechanismen betrachtet werden, die das formal vorhandene Recht auf freie Meinungsäußerung in der Praxis auf vielfältige Weise untergraben können4, aber lassen wir diesen Aspekt mal beiseite. Fakt ist: Sie und ich können unsere Meinung gesetzlich garantiert frei äußern. Wenn Sie am Abend am Stammtisch sagen, dass Politiker XY zurücktreten sollte, wird niemand kommen und Sie und vielleicht sogar Familienmitglieder verhaften. Wie sieht es mit der Nachzensur beziehungsweise der Repressivzensur aus? Müssen Medien, die einen Beitrag veröffentlicht haben, der beispielsweise der Regierung nicht gefällt, damit rechnen, dass ihre gesamte Auflage vom Markt genommen wird? Müssen Medien mit schweren Konsequenzen rechnen, wenn sie einen kritischen politischen Journalismus betreiben, etwa in der Form, dass ihr Magazin oder ihre Zeitung vom Staat verboten wird? Die Antwort lautet: Nein, müssen sie nicht. Einen Eingriff von Behörden gibt es normalerweise nur dann, wenn gegen bestehende Gesetze verstoßen wurde. Wie sieht es mit der Präventiv- beziehungsweise der Vorzensur aus? Müssen Medienvertreter der Regierung beziehungsweise einer entsprechenden Stelle ihre Erzeugnisse vor Veröffentlichung vorlegen? Werden also Artikel, Fernsehbeiträge und so weiter vorab regelmäßig staatlich geprüft, sodass nur die Beiträge veröffentlicht werden, die der Regierung genehm sind? Auch diese Fragen können wir mit »Nein« beantworten. Es gibt in dem angeführten Sinne in Deutschland keine politische Vorzensur. Vermutlich werden auch die meisten Medienbeobachter diesen Ausführungen und Schlussfolgerungen zustimmen können. Warum behaupten Bürger dennoch, dass Medien zensieren? Eine Erklärung bieten hochrangige Medienvertreter mit der Behauptung, dass jene, die von Zensur sprechen, einfach keine Ahnung von den Funktionsweisen der Medien hätten und die notwendige journalistische Auswahl, Selektion und Bewertung von Nachrichten und Informationen vorschnell mit Zensur gleichsetzen würden. Diese Erklärung ist – zunächst – einleuchtend.
Natürlich haben nicht alle Bürger genauere Kenntnisse von den Funktionsweisen der Medien. Dass auch deshalb falsche Annahmen erfolgen, liegt nahe. Aber: Diese Erklärung ist zugleich wohlfeil und zu einfach. Sie dient nicht dazu zu erklären, warum die Zensurvorwürfe so zahlreich und so massiv sind. Es sei denn, man würde annehmen, dass alle, die den Medien Zensur vorwerfen, keine Ahnung haben, wie Medien vorgehen. Diese Annahme dürfte nicht nur fern der Realität sein. In ihr käme auch eine gehörige Portion Arroganz zum Vorschein. Wer sich mit der Kritik der Bürger an den Medien auseinandersetzt, wird schnell feststellen, dass viele Bürger ein für Laien geradezu erstaunlich fundiertes Verständnis in Sachen Medien und Journalismus haben. Auch wenn sie vielleicht nicht immer mit der präzisen Sprache des Medien- oder Kommunikationswissenschaftlers ihre Kritik zum Ausdruck bringen: Grundlegende Funktionsprinzipien der Medien sind ihnen durchaus bekannt. Sie wissen und verstehen beispielsweise, dass Medien filtern müssen. Dennoch halten sie an dem Zensurvorwurf fest. Wie kann das sein?
Nun wird es langsam kompliziert und wir müssen einen kleinen Umweg gehen. Zunächst: Im Zeitalter des Internets sind Mediennutzer nicht mehr nur auf die Nachrichten und Informationen angewiesen, die ihnen die großen Medien anbieten. Durch das Internet haben Menschen die Möglichkeit, auf einen gigantischen Informationspool zuzugreifen. Mediennutzer vergleichen die Auswahl und Gewichtung der Nachrichten, wie sie beispielsweise abends in der Tagesschau oder in einem großen überregionalen Blatt zu finden ist, mit Informationen, auf die sie im Internet stoßen. Sie machen sich eigene Gedanken darüber, wie Medien selektieren, und kommen so zu dem Verdacht, dass mit den Funktionsweisen der Medien etwas nicht stimmt. Sie erkennen plötzlich, dass Medien ihr Versprechen, Nachrichten und Informationen nach journalistischen Selektionskriterien (etwa Aktualität, lokaler Bezug, Regelverstöße, Außergewöhnliches und so weiter5) auszuwählen, gerade bei politisch sensiblen Themen längst nicht immer einhalten. Sie fragen: Wie kann es sein, dass immer wieder bestimmte Nachrichten und Informationen, die in den Medien vorherrschenden Erzählungen entgegenstehen, dauerhaft von den großen Medien ignoriert, ausgeblendet nicht veröffentlicht und gesendet werden (oder allenfalls in marginalisierter Form)?
Wie kann es sein, beispielsweise, dass große Medien kollektiv ein Aufruf von fünf prominenten und reputierten Politikern, in dem diese vor der Gefahr eines dritten Weltkrieges warnen, ignorieren, während Formate im Internet darauf eingehen (siehe Kapitel 2.1)?
Wie kann es sein, dass ein Buch wie Warum schweigen die Lämmer? des Kieler Wahrnehmungspsychologen Rainer Mausfeld, der ein zentrales Thema unserer Zeit, nämlich die Erosion der Demokratien, kritisch betrachtet, nahezu vollkommen von den großen Medien ignoriert wird? Auf der Rückseite des Buches heißt es:
»In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Demokratie in einer beispiellosen Weise ausgehöhlt. Demokratie wurde durch die Illusion von Demokratie ersetzt, die freie öffentliche Debatte durch ein Meinungs- und Empörungsmanagement, das Leitideal des mündigen Bürgers durch das des politisch apathischen Konsumenten. Wahlen spielen mittlerweile für grundlegende politische Fragen praktisch keine Rolle mehr. Die wichtigen politischen Entscheidungen werden von politisch-ökonomischen Gruppierungen getroffen, die weder demokratisch legitimiert noch demokratisch rechenschaftspflichtig sind. Die destruktiven ökologischen, sozialen und psychischen Folgen dieser Form der Elitenherrschaft bedrohen immer mehr unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlagen. Rainer Mausfeld deckt die Systematik dieser Indoktrination auf, zeigt dabei auch ihre historischen Konstanten und macht uns sensibel für die vielfältigen psychologischen Beeinflussungsmethoden.«6
Lieben die Medien nicht spannende und prägnante Thesen? Müssten Medien nicht geradezu zwingend in einer Zeit, in der viel über den Zustand unserer Demokratien diskutiert wird, ein großes Interesse an diesem Autor und seinen Thesen haben? Wäre es nicht angebracht, bei diesem Buch, das immerhin auf der Spiegel-Beststellerliste war, mit dem Autor in einer der großen politischen Talkshows des Landes zu diskutieren?
Auch der Journalist Stefan Korinth betont immer wieder, dass bei bestimmten Themen die formalen journalistischen Selektionskriterien außer Kraft gesetzt sind. Korinth, der sich seit Jahren intensiv mit dem Ukraine-Konflikt beschäftigt, sagte gegenüber dem Autor dieses Buches: »Im Ukraine-Konflikt ist das sehr deutlich zu sehen. Informationen werden von den großen etablierten Medien nicht nach Relevanz, Aktualität und Neuigkeitswert gewichtet, sondern nach politischer Nützlichkeit.«7
Informationen, die dem »transatlantischen Gut-und-Böse-Narrativ dienlich« seien, werden veröffentlicht – »oft sogar gezielt gepusht«, sagt Korinth. Informationen hingegen, die der »westlichen Mainstream-Erzählung« widersprechen, ignorierten die großen Medien »in aller Regel«.
»Bei kontroversen Ereignissen«, sagt Korinth, »wird faktisch durchgehend die Nato-Interpretation der Ereignisse vertreten. Diese wird wie die unumstößliche Realität dargestellt, die russische Interpretation hingegen wird entweder gar nicht erwähnt oder als Propaganda verächtlich gemacht.«
Die Aussagen wiegen schwer. Woran macht der Journalist seine Beobachtungen fest?
»Ein Beispiel für diese manipulative Vorgehensweise«, so Korinth, »ist der Umgang der Leitmedien mit dem Scharfschützenmassaker auf dem Maidan – dem aufgrund seiner explosiven Folgen wohl wichtigsten politischen Ereignis des Jahres 2014.«
Folge man dem »transatlantischen Narrativ«, sei das Geschehen recht eindeutig: »Damals wurden dutzende vorrückende Kämpfer der Maidanarmee auf Befehl des Präsidenten Viktor Janukowitsch von Scharfschützeneinheiten der Polizei erschossen.« Allerdings merkt Korinth an: »Trotz fünfjähriger Ermittlungen gelang es der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft nicht, Beweise für diese Hypothese zu ermitteln.«
Im Gegenteil: »Während der Untersuchungen sammelten sich immer mehr Beweise und Indizien für Täter auf Maidanseite an – Zeugenaussagen, Filmaufnahmen, forensische Beweise und Geständnisse. Berichtet wird darüber jedoch nicht. Obwohl der kanadische Politikwissenschaftler Ivan Katchanovski diese Belege in einer umfassenden Studie auflistete, fallen diese Informationen durch das Raster der Medien. Solche Nachrichten passen nicht ins gewünschte Narrativ.«
Korinth weiter: »Selbst zum fünften Jahrestag des Massakers, zu dem sich viele Medien nochmal des Ereignisses erinnerten, wurde den Nutzern durchgängig das westliche Narrativ als Wahrheit präsentiert. Schützen in den vom Maidan kontrollierten Gebäuden kommen in den Medienberichten entgegen des tatsächlichen Wissensstandes nicht vor. Besonders verstörend ist dies, da das ZDF am Tag des Massakers solche Schützen selbst filmte – diese hatten ein ZDF-Zimmer im Hotel Ukraina gestürmt und feuerten von dort in Richtung der Todeszone.«
Die ZDF-Korrespondentin Britta Hilpert habe mit Korinth in einem Interview ausführlich darüber gesprochen.8 In ZDF spezial am 6. März 2014 habe der Sender diese Bilder sogar einmalig gezeigt. »Anlass zu weiterführender Recherche«, merkt Korinth an, »war das alles jedoch nicht – man tut bis heute so, als sei nichts gewesen.«
Und der Journalist führt noch ein weiteres Beispiel an. Es geht um den Vorfall in Odessa (Ukraine) am 2. Mai 2014.
»Die Täterfrage könnte kaum eindeutiger sein – eigens angereiste bewaffnete Nationalisten trieben mehrere Dutzend oppositionelle Einwohner Odessas in ein Gewerkschaftshaus und zündeten es mit Molotow-Cocktails an.«
Mehr als 40 ukrainische Oppositionelle seien verbrannt, erstickt oder von den Rechtsextremisten und Hooligans totgeprügelt worden. Bis heute seien keine der namentlich bekannten Mörder bestraft, nicht einmal angeklagt worden.
Stefan Korinth: »Nichts von all dem passt in die westliche Rahmenerzählung von Gut und Böse im Ukraine-Konflikt. Deswegen taucht dieses Pogrom im Europa der Gegenwart (!) in der deutschen Berichterstattung so gut wie nicht auf. Und in den wenigen Berichten, die es gibt, ist nicht die Rede von einem Verbrechen, sondern von einer ›Tragödie‹ oder einem ›Gewaltausbruch‹; die Mörder werden als ›Fußballfans‹ verharmlost und die Opfer als ›pro-russische Separatisten‹ abgewertet. Etablierte Journalisten, die hierzulande gern moralische Werte, Verantwortung und ›Haltung‹ beschwören, verhalten sich auch in diesem Falle nicht nur handwerklich manipulativ, sondern moralisch absolut beschämend.«
Kürzen wir ab und fassen zusammen: Wie kann es sein, dass Medien bestimmte Perspektiven einfach nicht einnehmen? Wie kann es sein, dass dauerhaft in den großen Medien nur ein sehr überschaubarer Kreis an Personen vorhanden ist, die als Experten ihre Meinungen, Ansichten und Analysen zu den wichtigen politischen und gesellschaftlichen Themen vortragen und Unterschiede nur innerhalb eines sehr engen Meinu...