Deutschland: Europas Individualist
Deutschlands Weine marschieren nach einem eigenen Rhythmus. Es gibt sie hauptsächlich in Weiß, sie sind unglaublich fruchtig im Stil, niedrig im Alkohol, selten im Barrique ausgebaut und nicht nur ganz trocken. Es sind fast ausschließlich rebsortenreine Weine, und die Rebsorte wird auch auf dem Etikett genannt, was in Europa ungewöhnlich ist.
Deutschland ist das nördlichste von den wichtigen weinproduzierenden Ländern in Europa – was bedeutet, dass wir es mit einem kühleren Klima zu tun haben. Ein Grund dafür, dass ein Großteil der deutschen Weine weiß ist. Das Klima schwankt sehr stark von Jahr zu Jahr, was bedeutet, dass dem Jahrgang bei deutschen Weinen eine große Bedeutung zukommt (Jahrgangsweine). Die guten Weinlagen Deutschlands liegen alle an Flüssen wie dem Rhein oder der Mosel und dort an steilen, sonnigen Berghängen, – der Ausdruck Weinberg kommt nicht von ungefähr –, da diese die Extreme des Wetters abfedern und so mithelfen, dass die Trauben ausreifen können.
Deutschland hat eine erfolgreiche, 2000-jährige Weinkultur, die schon seit jeher von Kaisern und Königen sehr geschätzt wurde. Die englische Königin Victoria prägte Mitte des 18. Jahrhunderts den Satz »Good Hock keeps off the doc«, worin ihre Wertschätzung für einen Hochheimer (The Hock) Riesling vom Rheingau zum Ausdruck gebracht wurde.
Der deutsche Weinmarkt ist sehr vielschichtig. Etwa 80.000 Winzer bauen auf circa 102.000 Hektar Reben an, dabei haben 50.000 Winzer weniger als ein Hektar. Sie ernten dabei pro Jahrgang durchschnittlich neun Millionen Hektoliter Wein. Aber das reicht bei Weitem nicht aus: Die Deutschen trinken pro Jahr doppelt so viel Wein, was zeigt, dass die deutschen Weintrinker sehr international aufgestellt sind. Es gibt rund 3.000 geschützte Weinberglagen, die im Weingesetz von 1971 festgelegt wurden.
Neben den kleinen Familienweingütern mit meist nur wenigen Hektar Rebfläche gibt es auch hervorragende Genossenschaften (zum Beispiel Moselland, Badischer Winzerkeller, WZG Möglingen), die vor allem in südlicheren Gebieten angesiedelt sind.
An der Mosel, die schon zur Zeit der Römer für einen guten Weinanbau bekannt war, haben sich zudem viele große Kellereien (unter anderen ZGM, Peter Mertes) angesiedelt, die mit modernsten önologischen Technologien große Mengen nationaler, aber auch internationaler Weine ausbauen und abfüllen.
Auch wenn große Kellereien an der Mosel heimisch sind und diese auf ihrem Weinetikett als Abfüllort manchmal den Zusatz »Mosel« führen, so hat dies oft nur wenig oder gar nichts mit dem Gebietsweinbau der Moselwinzer gemein. Die Kellerei könnte auch in Castrop-Rauxel stehen.
Wie in jeder Kultur mit einer langen Vergangenheit unterliegt auch die Weinkultur in Deutschland einem stetigen Wandel. Die letzten 20 Jahre waren für den deutschen Weinbau leider eine eher schwierige Zeit. Wachsender internationaler Preisdruck, steigende Bürokratie und zudem Konsumenten und Handel mit wenig ausgeprägtem Nationalstolz hatten die Weinwirtschaft in eine große Sinnkrise gebracht – Masse statt Klasse war dabei jedoch die falsche Antwort auf »Geiz ist geil«.
Seit einigen Jahren zeichnen aber auch in Deutschland wieder junge und motivierte Weinmacher mit modernen Konzepten neue önologische Wege auf, die bereits bei vielen internationalen Weinmessen großes Aufsehen erregt haben. Winzer werden mehr und mehr wie Popstars gefeiert. Winzer zu sein, ist in und viele bekannte Persönlichkeiten leben das schöne Bild eines Winzerlebens vor, zum Beispiel Fernsehmoderator Günter Jauch oder der spanische Top-Fußballspieler Andrés Iniesta.
Mit dem Riesling als noble Rebsorte, der nirgendwo anders auf der Welt eine solch feine Frucht, Mineralität und filigrane Säurestruktur erlangt, starten unter anderen Winzer wie Philipp Wittmann (Rheinhessen), Helmut Dönnhoff (Nahe), Andreas und Bernd Spreitzer (Rheingau) oder Ernie Lossen (Mosel) einen Siegeszug auf der ganzen Welt.
Der Riesling und sein Gefolge
Das kühle deutsche Klima ist wie geschaffen für den noblen Riesling. Nirgends auf der Welt gibt es in größerem Umfang ein vergleichbares Terroir für Riesling wie an Mosel, Saar und Rhein. Und doch werden nur etwas über 20 Prozent der deutschen Weinberge mit Riesling bepflanzt, denn der Riesling hat allerhöchste Ansprüche an den Standort. Daher ist er auch so besonders.
Die am zweithäufigsten angebaute deutsche Rebsorte ist der Müller-Thurgau (Rivaner), eine Kreuzung aus Riesling und Silvaner, wie es lange hieß. Inzwischen ist klar, dass Madeleine Royale die Vaterrolle (oder muss man sagen »Mutterrolle«?) zugesprochen werden muss. Die Wissenschaft hat lange gebraucht, diesen Anfangsverdacht des Züchters Hermann Müller aus dem Kanton Thurgau in der Schweiz, der die Sorte 1882 an der damaligen Königlichen Lehranstalt für Weinbau in Geisenheim kreuzte, zu erhärten.
Man kann aus dem Müller-Thurgau fruchtige und moderne Weine erzeugen, auch wenn die Weine grundsätzlich weicher sind als Rieslinge, weniger Charakter haben und es ihnen an Potenzial zu wirklicher Größe fehlt. Es ist eine genügsame, früh reifende Rebsorte mit gutem Ertrag, die die ideale Voraussetzung für leichte Sommerweine mitbringt, die gut gekühlt jeden Sonnenuntergang auf der Terrasse verzaubern können. Kein Wunder, dass Italien derzeit große Flächen mit...