Rivalität und Zusammenhalt über den Rhein
Deutschland und Frankreich, durch Europa vereint
Von Sylvie Goulard 1
Über die Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland, ihre jeweiligen, vielfach einander entgegengesetzten und sich doch ergänzenden Traditionen und Kulturen ist schon viel geschrieben worden. Die poetischste Formulierung stammt wohl von Robert Picht, dem bereits verstorbenen ehemaligen Direktor des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, dessen Buch über das Verhältnis unserer beiden Länder zueinander den Garten der Missverständnisse 2 im Titel trägt.
Unsere beiden Nationen sind im Laufe allmählicher historischer Prozesse entstanden und trotz ihrer jeweils eigenen Traditionen und Narrative zusammengewachsen. Manche davon prägen auch heute den gesellschaftlichen Konsens in beiden Ländern. Aber ob das wohl von Dauer sein wird? Immerhin bedeutet die Hartnäckigkeit dieser Diskurslinien nicht, dass sie unabänderlich sind – ganz im Gegenteil.
In seinem bemerkenswerten Buch vom März 2019, L’archipel français – naissance d’une nation multiple et divisée – où allons nous? (Dt.: Der französische Archipel – Geburt einer vielfältigen und geteilten Nation – worauf steuern wir zu?) 3, zeichnet der französische Politologe Jérôme Fourquet viele der gesellschaftlichen Veränderungen nach, die die Franzosen in den letzten Dekaden haben auseinanderdriften lassen: Er erzählt vom Rückgang katholischer Religionsbindung, dem Ende der Kommunistischen Partei, über die Urbanisierung und das Zusammenkommen von Gruppen unterschiedlicher ethnischer Herkunft bis zum neuen Körperbewusstsein, das sich derzeit verbreitet. Fourquet untersucht die neue Vielfalt von Vornamen oder die zunehmende Akzeptanz von Tätowierungen und analysiert die Ablehnung von Eliten und traditionellen Lebenswelten. Viele dieser Entwicklungen spiegeln sich auch in der neueren Literatur.
Es ist nicht einfach, das ganze Ausmaß der verschiedenartigen, oft tiefgreifenden Veränderungen auszuloten, die häufig nur einen Teil des Landes betreffen. Ohne die heftigen Proteste leugnen zu wollen, die Frankreich jeden Samstag Ende 2018 beziehungsweise Anfang 2019 lahmlegten, darf man nicht vergessen, dass die gilets jaunes, die Gelbwesten, wie sie in Deutschland heißen, immer nur eine Minderheit der französischen Bevölkerung ausmachten.4 Auch wenn die Fernsehbilder den Anschein erweckten, ganz Paris sei unter brennenden Autos und gewalttätigen Ausschreitungen begraben, blieb die Gesamtzahl der Demonstranten gering. Das zu konstatieren, heißt nicht, die offensichtliche Frustration dahinter herunterzuspielen, sondern auf ihre tatsächliche Dimension in Relation zur Gesamtbevölkerung hinzuweisen – eine Sichtweise, die in einer Demokratie angemessen scheint.
In Deutschland geben gesellschaftliche Veränderungen nur selten Anlass zu derart wütenden Ausschreitungen, auch wenn es vergleichbare Erscheinungen gibt, etwa die antiislamischen PEGIDA-Demonstrationen, die Wahlerfolge der extremen Rechten, den Anstieg von Gewalttaten und antisemitischen Angriffen und – jüngst – den Ansturm rechtsnationaler Demonstranten auf den Reichstag. Nicht zuletzt wegen der Wahlerfolge der Alternative für Deutschland und der damit verbundenen Zersplitterung der Parteienlandschaft erwies sich die Regierungsbildung 2017 als mühsam. Ein erfolgreiches Rezept gegen die gewachsene Ungleichheit in der deutschen Gesellschaft lässt weiterhin auf sich warten. Eine Lösung wird zusätzlich davon belastet, dass sich viele angesichts der seit 2015 gestiegenen Flüchtlingszahlen bedroht fühlen, wie auch davon, dass die Unterschiede in Ost und West nach wie vor ein Thema in und für Deutschland sind.
Unsere beiden Länder suchen auf ihre jeweilige Art Antworten auf die genannten Probleme. Ob es sich um die Rolle des Staates handelt, das Verhältnis zur Nation und den Streitkräften, den Stellenwert des Rechts im öffentlichen Bewusstsein oder ob es um die Hierarchie zwischen wirtschaftlichen und politischen Sachzwängen, die Rolle der Religion oder die Verwaltungsstrukturen des Landes geht: Deutschland und Frankreich sind singuläre Gemeinwesen, die die Problembewältigung immer schon auf der Grundlage ihrer je eigenen Tradition und politischen Kultur angehen.
Die Umstände, die den inneren Zusammenhalt unserer Länder ausmachen, sind oft zugleich jene, die sie voneinander trennen.
Frankreich: Traditionen und Erfahrungen
Für das Thema dieses Essays ist die Antrittsrede des neuen französischen Premierministers Jean Castex vom 15. Juli 2020 besonders interessant, denn sie gleicht einer Momentaufnahme, in der ein Politiker einen ihm zur Verfügung stehenden Hebel nutzt, um die Franzosen wieder zusammenzubringen und ihr Vertrauen zurückzugewinnen5. Für Castex spielen dabei drei Säulen eine tragende Rolle: ein handlungsfähiger Staat, staatliche Wirtschaftsförderung und das Prinzip der laicité, der strengen Trennung von Staat und Religion.
Frankreich und der Staat – ein und dasselbe
Ein Kernsatz in dieser Rede vor der Assemblée nationale lautet: »Frankreich, das ist der Staat.« Überall auf der Welt hat die Corona-Pandemie einen außergewöhnlich weitreichenden Einsatz staatlicher Mittel gefordert, um ihre Eindämmung zu organisieren, den Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Versorgung sicherzustellen und den Ausnahmezustand zu meistern. Dort, wo die Politik zögerlich oder und zu spät eingegriffen hat – etwa in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien oder in Brasilien –, kämpft die Bevölkerung besonders schwer mit den Folgen. Ein gut organisierter, handlungsfähiger Staat hat deshalb Lob verdient. Allerdings dürfte man außerhalb Frankreichs dafür eine weniger emotionale Formulierung gewählt haben.
»Die Krise hat ein Frankreich getroffen, das zweifelt, zerstritten, verkrampft und verzweifelt ist. Und das schon viel zu lange. Ein Frankreich, oder zumindest ein Teil davon, das von der Angst vor sozialer Herabstufung erfüllt ist. Ein Frankreich, das sich manchmal im Stich gelassen fühlt.«
Dabei verschweigt der Premierminister auch die Versäumnisse des Staates nicht: »Die Krise hat unsere Probleme und Unzulänglichkeiten oft brutal offenbart, auch innerhalb des Staatsapparates.« Die Franzosen lassen sich nichts vormachen. Der Ruf nach staatlicher Rettung scheint umso lauter zu werden, je zerrissener die Nation ist. Castex nimmt kein Blatt vor den Mund: »Die Krise hat ein Frankreich getroffen, das zweifelt, zerstritten, verkrampft und verzweifelt ist. Und das schon viel zu lange. Ein Frankreich, oder zumindest ein Teil davon, das von der Angst vor sozialer Herabstufung erfüllt ist. Ein Frankreich, das sich manchmal im Stich gelassen fühlt. (…) Es gibt große Teile Frankreichs, die sich abgehängt fühlen: das Frankreich der Vorstädte, das ländliche Frankreich, das Frankreich der Täler, das Frankreich der überseeischen Gebiete, das sogenannte periphere Frankreich, das Frankreich derer, die selbst mitten in unseren Städten nicht das Recht auf gesellschaftliche Mitsprache haben.«
Castex’ Einstellung ist geprägt von seiner Erfahrung als Bürgermeister einer südfranzösischen Stadt mit 6000 Einwohnern. Er setzt auf eine neue, bürgernahe staatliche Verwaltung. Für deren wichtige Aufgaben fordert er Anerkennung und Respekt, will sie stärker auf die Gebiete außerhalb von Paris orientieren und macht deutlich, dass bei der Durchsetzung der Pariser Entscheidungen wirtschaftliche Erwägungen – anders als früher – nicht länger eine untergeordnete Rolle spielen werden.
Das wechselseitige deutsch-französische Unverständnis über die Haushaltsdefizite und öffentliche Verschuldung geht teilweise darauf zurück, dass die deutsche Seite auf europäische Verträge und festgelegte finanzielle Höchstgrenzen pocht, während in Frankreich andere Argumente Gewicht haben, vor allem aus Rücksicht auf die Empfindlichkeiten der Bürger. In Paris geht es immer um »politische« Vorhaben, die möglichst nicht von materiellen, rechtlichen oder finanziellen Hindernissen beschränkt werden sollten, aber die Auslegung der Vorschriften richtet sich auch nach anderer Maßgabe. Alexis de Tocqueville hatte schon vor 200 Jahren auf dieses Paradox unter der absoluten Monarchie hingewiesen, die zwar vorgab, alles zu regeln, aber bei der Umsetzung scheiterte: »Das Ancien Régime beruhte auf starren Regeln und flexibler Praxis.« 6
Schon 2017 hatte der damalige Präsidentschaftskandidat Emmanuel Macron für einen weniger »jakobinischen«, von oben verordnenden, Staat geworben. Und die Vorschläge von Castex klingen wie ein Echo auf die Worte eines seiner Amtsvorgänger, Jean-Pierre Raffarin, der in Matignon bereits 2002 von Jacques Chirac beauftragt war, der »Stimme Frankreichs von unten« Gehör zu verschaffen. Raffarins Antrittsrede ging damals ebenfalls von der Zentralität des Staates aus, um davon die »Dezentralisierung« seiner Aufgaben abzuleiten. Auch Castex moniert, der Staat »habe manchmal so getan, als ob er alles bestimmen könne, obwohl er doch vor allem den Akteuren unserer Gesellschaft die Mittel in die Hand geben muss, selbst tätig zu werden und in ihrem Leben voranzukommen.« Deshalb will der Premierminister den kreativen Kräften im Land die Macht zurückzugeben, auch wenn er die Rolle des Zentralstaates bei der Erreichung dieses Ziels weiter betont.
Jenseits des Rheins stößt die Zentralisierung Frankeichs weiterhin auf Unverständnis. Und es ist in der Tat der augenfälligste Unterschied zur Bundesrepublik Deutschland und seinem föderalistischen System: Dort hat das Wort »Staat« bei Weitem nicht die gleiche Aura wie in Frankreich (außer vielleicht in Bayern, das seinen Status als Freistaat stolz demonstriert).
»Die gleichheitsbesessene Nation«
Die tiefe Verbundenheit der Franzosen zu ihrem Staat erklärt sich aus dem kollektiven Verständnis der Gleichheit aller Bürger und der daraus resultierenden Wertschätzung staatlicher Daseinsvorsorge. So würdigt Castex die Anstrengungen des ganzen Landes in der Covid-19-Krise, nennt aber »die Kontinuität der öffentlichen Verwaltung« noch vor »dem wirtschaftlichen Wohlergehen der Nation«.
Wo immer sie wohnen, sorgen sich die Franzosen vor allem um Gleichheit und sehen sich so veranlasst, den unteilbaren Charakter der Republik hochzuhalten, den auch Castex so eingehend beschwört. Tocqueville beschrieb seinerzeit, wie sehr Frankreich schon vor der Abschaffung der monarchischen Privilegien im August 1789 eine »gleichheitsbesessene Nation« 7 war. In der Gleichstellung der Lebensumstände sah er übrigens die entscheidende Antriebskraft einer Gesellschaft. Man kann die Kraft des egalitären Mythos auch an dem Platz bemessen, den Albert Camus – das arme Kind aus Algier, aber ein Produkt französischer Eliteausbildung – im Pantheon der französischen Literaten einnimmt.
Die Rechte der Bürger sind in den Augen der Franzosen umso wertvoller, als die intermediären Staatsinstanzen weitgehend fehlen. Der Premierminister will den gesellschaftlichen Dialog wiederbeleben und seine Relevanz untermauern. Auch neue Initiativen zur Bürgerbeteiligung sind denkbar, wofür die »große nationale Debatte« nach der Gelbwesten-Krise 2019 und 2020 die Bürgerkonvention zum Klimawandel erste Beispiele waren.
In Deutschland hingegen wird weniger das Gleichheits- als vielmehr das Subsidiaritätsprinzip hochgehalten, auch auf die Gefahr hin, dass nicht alle überall die gleichen Rechte und Chancen haben. Die Lehrpläne der ...