VI. DIE SINNFRAGE IN DER WISSENSCHAFTLICHEN FORSCHUNG
1. SINNFRAGE UND WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNISSE
Batthyány: Es gibt, gerade mit Blick auf die Frage der Wissenschaftlichkeit und Evidenzbasiertheit, eine methodische Besonderheit – und mit ihr fällt mir ein weiterer interessanter, allerdings weniger inhaltlicher als methodischer Gegensatz zwischen beiden Schulen auf. Längle hat, wie Sie vorhin sagten, den metaphysischen Unterbau der Logotherapie aufgegeben und den logotherapeutischen Zugang zum Geistigen gegen eine starke Betonung der phänomenologischen Methode eingetauscht – diese nimmt seither in Längles Denken und Werk eine ganz zentrale, wenn nicht überhaupt die zentrale Rolle ein.
Aber wie Rudolf Allers, der selbst ein bedeutender existentiell ausgerichteter Psychiater und ein herausragender Phänomenologe119 war, bereits in den 1960er Jahren in einer Gegenüberstellung von Binswanger und Frankl einmal kritisch festhielt: Die Phänomenologie ist letzten Endes auch nicht mehr als nur die geordnete Betrachtung der Dinge und ihrer Zusammenhänge; und eine noch so geordnete und gute Betrachtung ist noch keine Erklärung und folglich auch kein Ersatz für eine Theorie. Und ohne eine Theorie (oder zumindest eine Arbeitshypothese) ist die empirische Überprüfung eines primär phänomenologisch begründeten Psychotherapiemodells so gut wie unmöglich: Es gibt ja nichts zu falsifizieren, wenn bloße Betrachtung zur Debatte steht.120 Allers sagte vor diesem Hintergrund voraus, dass Frankls Logotherapie langfristig mehr Bestand und klinische Relevanz haben würde als die bekanntlich ebenfalls primär phänomenologisch begründete Daseinsanalyse Binswangers.
In gewisser Weise zeigt sich nun dasselbe auch in der wissenschaftlichen Praxis der Existenzanalyse nach Längle. Tatsächlich legen Längle und seine Schüler vor dem Hintergrund der starken Betonung der phänomenologischen Methode als Hauptinstrument der Erkenntnis weitaus weniger Wert auf empirische und klinische Untersuchungen, als wir klassischen Logotherapeuten dies für gewöhnlich tun. Demgegenüber hat Viktor Frankl selbst stets darauf bestanden, dass die Logotherapie aus dem geschützten Raum der bloßen Theorie tritt und sich den Herausforderungen einer empirischen Überprüfung stellt:
Logotherapy is concerned with the search for meaning not only as a matter of health, and in no way as a matter of morality, but rather as one of the most intrinsic human phenomena.
You cannot turn the wheel back and you won’t get a hearing unless you try to satisfy the preferences of present-time Western thinking, which means the scientific orientation or, to put it in more concrete terms, our test and statistics mindedness […]. That’s why I welcome all sober and solid empirical research in logotherapy, how ever dry its outcome may sound.121
Um jetzt das Kapitel Längle zu schließen und wieder zur eigentlichen Logotherapie und Existenzanalyse zurückzufinden: Es ist bemerkenswert, dass ausgerechnet die Logotherapie, obwohl sie mit einem gehörigen ontologischen und erkenntnistheoretischen Gepäck aufwartet, viel mehr noch als die historisch benachbarten Schulen (Freud und Adler) sich so bereitwillig und sogar einladend der Herausforderung der empirischen und klinischen Überprüfung stellt.
Wie Sie wissen, haben Prof. David Guttmann von der Universität Haifa und ich im Jahr 2006 sämtliche Untersuchungen zur Logotherapie aus peer-reviewed Journalen in einem Buch zusammengefasst122 und kommentiert. Wir kamen auf über 610 Studien, die zwischen 1975 und 2005 erschienen sind. Seither aktualisiere ich diese Forschungsübersicht in regelmäßigen Abständen123 – und kann berichten, dass es kaum einen empirisch überprüfbaren Aspekt der Logotherapie gibt, der nicht bereits untersucht und – erfreulicherweise – bestätigt worden ist, häufig auch von Nichtlogotherapeuten.
Damit nimmt die Logotherapie eine Sonderstellung im vielfältigen Feld der Therapieschulen ein, die man vielleicht am ehesten mit dem Wort einer größtmöglichen wissenschaftlichen Transparenz einfangen könnte: Die Logotherapie macht alle ihre philosophischen Grundannahmen und Axiome so explizit deutlich wie nur wenige andere Schulen. Sie war zugleich eine der Ersten, die die Notwendigkeit evidenzbasierten Forschens und therapeutischen Handelns nicht nur als Lippenbekenntnis, sondern als echten Arbeitsauftrag anerkannte. Und sie hat fraglos eine metaphysische Dimension, die sich zwar an sich und per definitionem einem empirischen Zugang entzieht, deren Wirkung andererseits aber sehr wohl nachweisbar ist und sich immer wieder bewährt und bestätigt hat. Zugleich widersteht sie der Versuchung, die geistige Dimension metaphysisch oder religiös zu überfrachten … das sind schon recht beachtliche Zusammenhänge.
Nun bin ich ganz gewiss nicht unparteiisch, wenn ich die Logotherapie solcherart ideenhistorisch und methodisch einordne; aber ich denke, dass auch einem unvoreingenommenen Blick kaum verborgen bleiben kann, dass die Logotherapie ihre Prämissen und theoretischen Aspekte von Anfang an tatsächlich ausgesprochen klar entfaltet und zugleich stets die empirische Überprüfung suchte und sucht, obwohl (oder vielmehr: gerade weil) sie einen umfangreichen theoretischen Unterbau aufweist.
Zugleich muss man natürlich sagen: Es liegt allem Empirischen ein Messbares zugrunde, und sicher ist nicht alles am Menschen (oder gar der Welt) messbar – das Geistige etwa nicht …
Lukas: Ich bin durch eine strenge Schule empirischer Psychologie gegangen. In Hubert Rohracher und Giselher Guttmann habe ich in den 1960er Jahren diesbezüglich hervorragende Professoren gehabt. Fast das halbe Psychologiestudium bestand aus Statistik, was mir durchaus gefiel, da ich ein Faible für Mathematik habe. (Mathematik war mein Nebenfach zum Hauptfach Psychologie an der Universität Wien.) Aber als ich mit Frankls Gedankengut in Berührung kam, wusste ich sofort, dass das Geistige (nach Frankls Definition) das Nicht-Messbare und Nicht-Wägbare im Menschen ist. Dass es sich niemals in empirischen Studien einfangen lassen wird und sich allenfalls phänomenologischen Betrachtungen offenbart, wenn auch nicht komplett. Geistiges ist zu sehr in Bewegung, ist zu wenig im Sein festgezurrt, als dass es in Zahlen gepresst werden könnte. Verweilt es einen Augenblick bei einer Zahl, stimmt diese schon nicht mehr.
Wahrscheinlich gründet darin das Wunder des Menschseins. Oder, wie ich zu sagen pflege: „Der Mensch ist immer für eine Überraschung gut.“ Statistiken erlauben Vorhersagen, und das tut der Mensch genau nicht: Er übertritt ständig sein eigenes Vorhergesagtsein. Was sich jedoch messen lässt, das sind, wie Sie sagen, Auswirkungen des Geistigen. Deshalb kann man die günstigen Auswirkungen einer „Psychotherapie vom Geistigen her und auf Geistiges hin“ (Frankl) problemlos messen bzw. überprüfen. Zu Testläufen und zum Methodenvergleich ist dies opportun, und ich bin stolz darauf, dass die meisten internationalen Studien belegen, wie effektiv saubere logotherapeutische Arbeit ist. Dass Sie solche Studien gemeinsam mit David Guttmann sorgfältig zusammengetragen haben, ist ein großes Verdienst von Ihnen beiden.
Ich möchte jedoch eine Anmerkung nicht versäumen. Das logotherapeutische Instrumentarium, das uns Frankl vermacht hat, liegt stets in der Hand einer konkreten Person aus Fleisch und Blut (und Geist!), und diese Person handhabt es nach ihrem eigenen Gutdünken und ihren eigenen Skills. Misst man also die Präzision eines Werkzeugs, misst man nicht automatisch das Geschick dessen mit, der dieses Werkzeug gebraucht. In meinem Leben habe ich die seltsamsten Dinge erlebt. Ich traf Personen, die durch eine feinfühlige Intervention eines Psychoanalytikers geheilt worden waren. Ich traf iatrogen geschädigte Personen, die jahrelang vergebens einen Logotherapeuten aufgesucht hatten. Dass jemand logotherapeutisch qualifiziert ist, garantiert bedauerlicherweise nicht, dass er sich in der Praxis bewährt. Und wenn jemand mit einem reduzierten Menschenbild indoktriniert worden ist, muss dies nicht bedeuten, dass er seine Mitmenschen und ihre Bedürfnisse missachtet. Immer und überall kommt es auf den Einzelnen an …
Deshalb glaube ich, dass es etwas gibt, das noch stärker zur Befürwortung der Logotherapie beiträgt als die statistischen Belege ihrer Wirksamkeit. In den 49 Semestern, in denen ich Logotherapie unterrichtet habe, kamen häufig Schülerinnen und Schüler auf mich zu und behaupteten, sie würden in dem Lehrstoff, mit dem ich sie konfrontierte, wiedererkennen, was längst schon in ihren „Herzen“ (in ihrer unbewussten Geistigkeit) schlummerte. Sie hätten nicht die passenden Worte dafür gehabt. Sie hätten keine Strukturen dafür gewusst. Es hätte ihnen an einer Synopsis dafür gefehlt. Sie hätten jenes unbewusste Vorwissen nicht in eine reale Produktivität überleiten können. Dennoch: Gänzlich neu oder fremd war ihnen nicht, was ich ihnen da vermittelte. Wie in einem Déjà-vu-Erlebnis erkannten sie es wieder!
Der biblische Ausdruck der „Ebenbildlichkeit“, den Frankl noch verwendet hat (was ihm Kritiker als „religiöse Verbrämung“ vorwerfen), kann meines Erachtens auch so gelesen werden: Geistiges erkennt Geistadäquates. So wie unser Sinn-Organ Gewissen auf Sinn „anspringt“, so „springt“ die geistige Person auf geistadäquate Inhalte an. Menschen können zwar verblendet und zu irrigen Auffassungen verführt sein, siehe „Pathologien des Zeitgeistes“ (Frankl), sie können von gesellschaftlichen Normen unterdrückt oder von radikalen Ideologien umnebelt sein, doch jener personale Kern in ihnen, der sie als Menschen legitimiert, birgt zuinnerst in sich die Attribute des Geistes, mit dem eine bevorzugte Tiergattung einst begabt worden ist. Wird ihm ein Thesenmodell präsentiert, das mit jenen Attributen harmoniert, regt sich sogleich Affirmation in ihm. Schon Kleinkinder spüren autark und unverbildet, dass Echtes höher steht als Unechtes, Freundliches höher steht als Unfreundliches, Sanftes höher steht als Brutales etc. Erst recht spüren Erwachsene intuitiv, was „dem Geist gemäß“, was „der Würde des Menschen gemäß“ ist. Das ist auch der Grund, warum Frankls Vorträge eine derartige Anziehungskraft auf sein Auditorium ausübten. Es war nicht nur die Kunst eines grandiosen Rhetorikers, es waren die Inhalte, die jedermann in ihren Bann zogen. Sogar ein SS-Offizier des Naziregimes hat Frankl einst gebannt gelauscht, als er ihn eigentlich verhaften wollte.
Wenn Menschen Geistadäquates spüren, sobald sie mit der Logotherapie in Kontakt kommen, dann scheint mir dies die nobelste Bestätigung des Frankl’schen Denkansatzes zu sein. Mit dem „Herzen“ geprüft, gewogen, und für schwer genug befunden – was wollen wir mehr?
2. SINN UND PERSÖNLICHER MYTHOS: ANMERKUNGEN ZU TATJANA SCHNELL
Batthyány: Nun ist die Sinnforschung – lange Zeit „Spezialität“ logotherapeutisch interessierter Psychologen und Psychiater – in den letzten Jahren in der Mitte der psychologischen Forschung angekommen. Das ist sicher auch eine Folge der Tatsache, dass auch die Vertreter der sogenannten „Positiven Psychologie“ über viele Umwege und auf der Suche nach einer tragfähigen Ressource menschlichen Entfaltens darauf aufmerksam wurden, dass dem Sinnerleben und -verwirklichen tatsächlich eine immens positive psychologische Rolle zukommt. Dass Sinn aber nicht nur eine empirische Kategorie ist, sondern – wie Sie sagen – auch jenseits des Empirischen stattfindet, zeigt sich auch in den Missverständnissen, die bisweilen auftreten, wenn Sinn seiner existentiellen Grundierung entwendet und bloß als eine weitere psychologische Größe betrachtet wird – und nicht als eine existentielle.
Ich würde, wenn es Ihnen recht ist, in diesem Zusammenhang jetzt gerne auf die vorhin schon kurz angesprochenen Arbeiten der Innsbrucker Psychologin Tatjana Schnell zu sprechen kommen, weil diese beispielhaft für dieses Dilemma sind. Tatjana Schnells Arbeiten sind ja etwas verhalten von den Logotherapeuten aufgenommen worden. Einer der Hauptgründe ist, dass Tatjana Schnell aufgrund einiger ihrer Forschungsarbeiten zu dem Schluss kommt, dass der von der Logotherapie postulierte „Wille zum Sinn“ – also die menschliche Sinnmotivation – gar nicht so eminent wichtig sei, wie die Logotherapeuten (und mittlerweile auch viele Nichtlogotherapeuten aufgrund eines beachtlichen Fundus an empirischen Arbeiten) annehmen. Damit stellen Schnells Befunde eine veritable Herausforderung dar, und ich denke, dass es gut und notwendig ist, in einen Dialog mit ihren Forschungsergebnissen zu treten, da diese prima facie einer der drei Säulen der Logotherapie („Wille zum Sinn“) zu widersprechen scheinen.
Ich fasse diese Befunde kurz zusammen, bevor wir sie im Detail erörtern. In ihrer A...