Die Aussteigerin
Umdenken nach dem Hurrikan – wie »Earthships« nachhaltiges Leben ermöglichen
Puerto Rico David Kriegleder
Unsere TV-Drohne schlängelt sich vorsichtig durch die dichten Baumkronen des Regenwalds, hoch über unseren Köpfen und kaum noch sichtbar – das mechanische Surren ihrer Rotoren erfüllt die Luft. Kameramann Markus steht neben mir, blickt konzentriert auf die Steuerkonsole – noch ein kleines Stück nach links, dann ist unser technisches Spielzeug in Position. Die Drohne startet ihre Luftaufnahme von der großen Lichtung, auf der wir uns befinden, und noch wichtiger: von den fünf sonderbaren Bauten um uns herum. Für sie sind wir nach Aguada gereist, in den Westen der Insel Puerto Rico, die zu den USA gehört.
Die Gebäude ähneln mit ihren abgerundeten Dächern auf den ersten Blick Iglus. Doch statt aus Eisblöcken bestehen ihre Wände aus mit Mörtel überzogenen Autoreifen und Glasflaschen, das Ganze wirkt wie eine Mischung aus surrealistischem Raumschiff und Müllskulptur. Es ist ein fast fertiges »Earthship« – der erste nachhaltige Öko-Bau dieser Art auf der US-Karibikinsel.
»Sind sie nicht wunderschön?«, fragt Noemi Chaparro, während sie uns über die Baustelle führt. Die Anfang 30-jährige Puerto-Ricanerin trägt ihre zweijährige Tochter auf dem Arm. »Dort oben kommen noch Solarzellen hin«, sagt sie und deutet auf eines der Dächer, »dort drüben heben wir gerade einen Graben aus, um unsere Geothermal-Schächte zu verlegen.« Noemi zeigt mir auf ihrem iPad ein 3D-Modell der fertigen Konstruktion. »Das ist unser Traum, Gebäude, die sich komplett selbst versorgen können und mit der Natur arbeiten, statt gegen sie«, sagt sie stolz.
Dieses Bauland gehört Noemi, sie lebt gemeinsam mit ihrem Mann Carlos und ihren vier Kindern auf einer angrenzenden kleinen Farm, der »Finca TaínaSoy Apiario«. Hier betreibt die Familie seit vielen Jahren eine kleine Imkerei, um die vom Aussterben bedrohte Bienenpopulation der Insel wieder aufzustocken.
Das ausgefallene Earthship-Bauprojekt ist hingegen neu und eine Reaktion auf den verheerenden Kategorie-5-Hurrikan Maria, der Puerto Rico im September 2017 überrollt hat. Mehr als 3000 Menschen kamen damals ums Leben, die Mehrheit von ihnen in den Folgemonaten aufgrund der zusammengebrochenen Infrastruktur auf der Insel. »Es war apokalyptisch«, erinnert sich Noemi, »die gesamte Region war tagelang von der Außenwelt abgeschnitten, wir waren völlig auf uns allein gestellt.« Die Trinkwasser- und Lebensmittelversorgung sei völlig kollabiert, denn Puerto Rico importiere praktisch alles vom US-Festland. Strom habe es erst nach Monaten wieder gegeben. »Die Spitäler waren überfüllt, doch ohne Strom konnten die Verwundeten und Kranken nicht betreut werden, es war wirklich angsteinflößend.«
Die Schäden von Tropensturm Maria sind auch über ein Jahr danach, zum Zeitpunkt unseres Besuches, noch deutlich sichtbar – entwurzelte Bäume liegen an den Straßenrändern, zahlreiche Gebäude haben noch immer zerbrochene Glasfenster. Der Wiederaufbau der ohnehin verarmten Insel geht nur schleppend voran. Präsident Trump hält immer wieder Hilfsgelder zurück und beschimpft die puerto-ricanischen Behörden als unfähig – in erster Linie sind es jedoch dubiose amerikanische Privatfirmen, die, vom Weißen Haus mit dem Wiederaufbau beauftragt, in einem Sumpf aus Korruption und Ineffizienz versinken. All das verstärkt den historisch bedingten Minderwertigkeitskomplex der Inselbewohner. Sie sind seit 1917 US-Staatsbürger, doch sie fühlen sich als Bürger zweiter Klasse, denn Puerto Rico ist trotz mehrerer Initiativen bis heute »nur« ein US-Territorium, also kein gleichberechtigter Bundesstaat. Die Bewohner dürfen etwa bei der Präsidentenwahl nicht mitstimmen und haben keine stimmberechtigten Vertreter im Kongress.
»Nach Maria war uns klar, dass wir die Dinge selbst in die Hand nehmen und etwas Neues ausprobieren müssen. Damit unserer Gemeinde so viel Chaos und Leid künftig erspart bleiben. Denn der nächste Horror-Sturm kommt bestimmt, der Klimawandel ist in vollem Gange!«, sagt Noemi mit ernster Miene.
Nachhaltig und autark: Das Earthship
Im Frühjahr 2018 beginnt Noemi gemeinsam mit Freunden im Internet zu recherchieren – dort stoßen sie auf das »Earthship«-Konzept. Es stammt aus dem US-Bundesstaat New Mexico und wurde in 1970er Jahren vom Architekten Michael Reynolds erfunden. Dessen Idee ist so simpel wie verlockend: Reynolds will Wohnhäuser bauen, die sich nachhaltig selbst mit Strom, Trinkwasser und Nahrung versorgen können und damit an keinem Infrastrukturnetz hängen müssen – »off the grid« lautet das Schlagwort. Gleichzeitig sollen die Gebäude, so gut es geht, aus natürlichen und recycelten Baustoffen bestehen und zudem auch von Menschen errichtet werden können, die keine bauliche Fachausbildung haben. Reynolds konstruiert mehrere Earthship-Prototypen und startet damit einen jahrzehntelangen Kampf gegen die US-Baubehörden, gegen deren Vorschriften und Auflagen er verstößt. Er verliert seine Architekten-Lizenz und bekommt sie erst in den 2000er Jahren wieder zurück, als die Regeln gelockert werden und das Erdschiff-Konzept dank technologischer Durchbrüche einen weltweiten Boom erlebt.
»Das System, in dem wir leben, will Menschen daran hindern, autark zu leben, denn dann sind wir nicht abhängig vom Zwang, Strom- und Wasserrechnungen zu bezahlen«, sagt Noemi, und: »Michael Reynolds wurde als Gefahr wahrgenommen, weil seine Bauten funktionieren. Das Gute war, dass Puerto Ricos Behörden nach dem Tropensturm Maria so sehr mit anderen Dingen beschäftigt waren, dass sich für uns ein Handlungsfenster aufgetan hat.«
Noemi und ihr Mann sind durch die Farmarbeit und ihre Kinder an ihren Ort gebunden, doch ihre Freunde können nach New Mexico fliegen und besuchen dort einen kostenlosen Lehrgang der Earthship Academy. Als sie zurückkehren, nimmt das Projekt Konturen an. Die Familie Chaparro stellt das Bauland zur Verfügung und findet eine geeignete Lichtung auf ihrem bewaldeten Grundstück. Architekt Reynolds reist an, um den Spatenstich zu begleiten.
Die Gruppe beschließt, keine klassischen Wohngebäude für sich selbst, sondern ein fünfteiliges Gemeinschaftszentrum im Earthship-Stil zu errichten. Es soll im Katastrophenfall allen Bewohnern des Bezirks als Zufluchtsstätte und Anlaufstelle für Notfall- und Versorgungskoordination dienen. »Diese Bauten sind komplett hurrikan- und erdbebensicher, hier wird es auch frisches Trinkwasser, Strom und Essen geben, wenn die Welt untergeht«, sagt Noemi lachend.
Der nächste Schritt ist die Baustoffbeschaffung: Zur Finanzierung der benötigten Materialien gründet die Familie Chaparro eine Non-Profit-Organisation, die beginnt, Spenden für das Projekt zu sammeln. Doch die meisten Baustoffe lassen sich auf Puerto Rico gratis organisieren. Noemi und ihr wachsendes Team rufen Freunde und Verwandte auf der Insel auf, alte Autoreifen, Glas, Plastik und Getränkedosen zu sammeln und zur Finca zu bringen. »Damit schlagen wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe, denn wir brauchen die Materialien sowieso für den Bau und gleichzeitig reduzieren wir Müll, für den es auf Puerto Rico ohnehin keine funktionierenden Recycling-Anlagen gibt.«
Das Ergebnis dieser Initiative sehen wir am Rande der Baustelle, wo mir Noemi ein Dutzend große Tonnen mit den gesammelten Recycling-Materialien zeigt. Bacardi-Rumflaschen türmen sich neben Cola-Dosen und Styropor-Platten. Daneben steht eine Werkbank, auf der die Materialien zerschnitten und zu sogenannten »Bottle Bricks«, also Flaschen-Ziegeln, verarbeitet werden – ein zentraler Baustein des Earthship-Konstruktionsprinzips.
Freiwillige packen mit an
Jetzt fehlt noch der entscheidende Teil des Projekts: die Suche nach Arbeitskräften. Noemi lernt einen jungen Mann namens Ralfy kennen, der selbst aus Puerto Rico stammt und schon an mehreren Earthships mitgearbeitet hat. Er hat eine kleine Armee an Freiwilligen um sich geschart, die mit ihm von Land zu Land reist, um Projekte dieser Art zu verwirklichen. Ralfy ist am Tag unseres Besuchs ebenfalls vor Ort, seine langen, schwarzen Haare sind zu einem Zopf gebunden, ein Strohhut hängt in seinem Nacken.
»Das ist eine weltweite Bewegung – wir vernetzen uns über das Internet, jeder kann mitmachen!«, erzählt mir der junge Mann mit leuchtenden Augen und in fließendem Deutsch, das er sich bei einem längeren Berlin-Aufenthalt angeeignet hat.
»Vor einem Monat hatten wir 30 Freiwillige aus 10 Lä...