1 Kultur und Entwicklung
1.1 Einleitung
In diesem Kapitel wird ein ökokulturelles Modell von Entwicklung dargestellt, das die Hintergründe für die weiter unten ausgeführten Ansätze einer entwicklungspsychologisch fundierten kultursensitiven Frühpädagogik bildet. Damit soll ein Beitrag zu einer differenziell orientierten Pädagogik geleistet werden.
Ausgangspunkt ist die zentrale Annahme, dass alle Menschen mit biologisch angelegten Entwicklungspotenzialen ausgestattet sind, die es ihnen ermöglichen, allgemeine Entwicklungsaufgaben in spezifischen Umwelten zu bewältigen. Die Umwelt hat also einen selektierenden Einfluss auf die Gestaltung und Ergebnisse von Entwicklungsprozessen und damit auf die gesamte Psyche des Menschen. Die jeweiligen umwelt- oder kontextspezifischen Ausprägungen sind an kulturellen Modellen orientiert, die Anpassungen an diese spezifischen Umwelten definieren. Die Entwicklungsaufgaben sind weitgehend universell (z. B. Erikson, 1950; Havighurst, 1972) und können als Teil unseres evolutionären Erbes betrachtet werden. Es wird angenommen, dass sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte Aufgaben gestellt haben, die das Überleben erleichtert haben. So können sich z. B. größere Gruppen erfolgreicher verteidigen und effektiver Nahrungsquellen erschließen. Größere Gruppen erfordern aber andere Kommunikationsmuster als kleine Gruppen, um die Gruppenzusammengehörigkeit zu erhalten. Manche Evolutionspsychologen erklären so z. B. die Entstehung von Sprache: Sprache ermöglichte die Aufrechterhaltung von sozialen Beziehungen in größeren Gruppen (social grooming Hypothese [Sprache als soziale Weiterentwicklung der bei vielen Tierarten üblichen gegenseitigen Fellpflege], Dunbar, 1996). Also mussten sich entsprechende Fähigkeiten und Fertigkeiten herausbilden, die den Erwerb dieser neuen Kompetenzen ermöglichten. Durch die zentrale Bedeutung der Kontexteinflüsse wird die besondere Bedeutung des Lernens für die menschliche Entwicklung deutlich. Das Lernen in Abhängigkeit von Kontextfaktoren ist zwar ein lebenslanger Prozess, dennoch bestehen enge Beziehungen zwischen der Wirksamkeit und der Bedeutsamkeit von Erfahrungen in den jeweiligen Entwicklungsphasen. Gerade das Säuglings- und Kleinkindalter ist eine besondere Entwicklungsphase mit einer hohen Entwicklungsgeschwindigkeit. In den ersten beiden Lebensjahren lernen wir mehr und schneller als in allen anderen Entwicklungsphasen. Aufgrund der komplexen Anforderungen der sozialen Regulation in größeren Gruppen (Geary & Flinn, 2001) und der damit verbundenen Notwendigkeit sozialer Intelligenz entwickelte und vergrößerte sich das menschliche Gehirn. Die ebenfalls evolvierte Zweibeinigkeit des Menschen, welche wiederum den großen Selektionsvorteil mit sich brachte, dass die Hände auch losgelöst von Fortbewegungsaktivitäten benutzt werden können, begrenzte die Ausdehnungsmöglichkeiten des Geburtskanal. Das bedeutet, dass Babys nicht im Mutterleib ausreifen können, da sie dann den Geburtskanal nicht mehr passieren könnten. So kam es dazu, dass die Säuglinge früher und damit unreifer (etwa zwei bis drei Monate vorverlagert) geboren werden. Der Schweizer Biologe, Zoologe und Naturphilosoph Adolf Portmann (1941) hat den Menschen daher als »physiologische Frühgeburt« bezeichnet. Diese besondere Ausgangssituation erfordert ein hohes Maß an postnataler neuronaler Entwicklung und damit eine lange Spanne der unselbstständigen Kindheit. Die, verglichen mit dem Tierreich, relativ lange Zeit der Abhängigkeit ist also ein zentrales Kennzeichen von menschlicher Entwicklung (Bjorklund & Pellegrini, 2002; Tomasello, 2019), ebenso wie die damit zusammenhängende Notwendigkeit des Lernens und Verarbeitens kontextgebundener Informationen als zentraler menschlicher Entwicklungsmotor. Die Plastizität der menschlichen Entwicklung bietet den großen Vorteil, dass sich Menschenkinder sehr flexibel an die unterschiedlichsten Umgebungen erfolgreich anpassen können. Auch für die Zeit bis zum Schuleintritt lässt sich zeigen, dass die Entwicklungsgeschwindigkeit noch sehr hoch ist und Kinder noch relativ leicht große Mengen an Information aufnehmen. Allerdings gibt es eine große natürliche Varianz von Entwicklungsprozessen, was zu ausgeprägten interindividuellen Unterschieden führt (siehe z. B. Borke, Lamm & Schröder, 2019; Largo, 2006; Michaelis, 2006).
1.2 Kontext und Kultur
Zu kaum einem anderen Konzept liegt eine solche Fülle von unterschiedlichen Definitionen vor wie für Kultur. Liest man frühpädagogische Konzeptionen von Kindertageseinrichtungen, wird darin der Begriff Kultur häufig mit künstlerischen Tätigkeiten oder Produkten in Verbindung gebracht, also im weitesten Sinne mit ästhetischer Bildung gleichgesetzt. In weiten Bereichen der empirischen Psychologie wird Kultur mit Land gleichgesetzt. In der öffentlichen Diskussion finden wir häufig Kultur als Religion gefasst, z. B. »die muslimische Kultur«. In der Kulturpsychologie wird Kultur mit Deutungsmustern (Normen, Werten, Einstellungen) und Verhaltensweisen bestimmt. Wir folgen dieser Tradition und verankern Kultur in kontextuellen Merkmalen der Menschen, die diese Deutungsmuster teilen und ähnliche Verhaltensweisen zeigen (Keller, 2011a, 2019a). Die kontextuellen Merkmale bestimmen das soziale Milieu und betreffen in erster Linie
• das Niveau der formalen (schulischen) Bildung
• die Organisationsform der Familie
• die Anzahl der Kinder und
• das Erstgeburtsalter.
Die Unterscheidungskriterien beziehen sich also nicht auf Länder-, Sprach- oder Religionsunterschiede, sondern auf soziodemographische Merkmale. Menschen, die in solchermaßen definierten ähnlichen sozialen Milieus leben, teilen auch Einstellungen und Verhaltensweisen. Dieser kulturelle Kontext wird als der zentrale Organisator für die Gestaltung des Lebens betrachtet. Kontext und Kultur bilden demnach eine untrennbare Allianz, und die jeweiligen Kontexte erfordern bestimmte Anpassungsleistungen der dort lebenden Menschen, damit sie erfolgreich agieren und sich wohlfühlen können. Kultur wird demnach als das Medium des Menschen aufgefasst, durch welches sich solche Anpassungsleistungen vollziehen können.
Eine solche Verortung von Entwicklung als soziokulturellem Prozess geht zurück auf die kulturanthropologische/psychologische Schule von John W. M. und Beatrice B. Whiting und verbindet diese Annahmen mit zentralen Konzepten der evolutionären Psychologie (Keller, 2007, 2011a). Die Whitings riefen das Harvard-Projekt Six Cultures Study ins Leben, in dem die Entwicklung von Kindern in sechs unterschiedlichen kulturellen Umwelten2 nachgezeichnet wurde (Whiting & Whiting, 1975). Sie beschrieben und verdeutlichten damit detailliert den direkten Bezug zwischen den Bedingungen der spezifischen ökologischen Umwelt, den sozialen Arrangements und der Sozialisation der Nachkommen, der Entwicklung des Kindes bis zum Erwachsenen sowie der Ausgestaltung und Weitergabe der jeweils spezifischen Kultur.
Ähnliche Zusammenhänge werden auch in der Evolutionspsychologie beschrieben; in den sogenannten life history-Ansätzen spielen die Umwelt und die Ressourcen eine zentrale Rolle für die körperliche und psychologische Entwicklung (Belsky, Steinberg & Draper, 1991; Keller, 2010). Nach diesen Ansätzen sind die alltägliche Umgebung und das Alltagsleben sowie die durch diese hergestellte Lernumwelt des Kindes zentral für dessen weitere Entwicklung.
Aus einer Synthese dieser beiden Ansätze (den psychokulturellen und evolutionären Konzeptionen) haben wir das ökokulturelle Modell der Entwicklung entwickelt (
Abb. 1).
Wie oben bereits aufgeführt, lassen sich die ökologische Situation bzw. die Möglichkeiten und Gegebenheiten des jeweiligen Umfeldes, in dem Familien leben, anhand von soziodemographischen Variablen beschreiben, die eng mit den ökonomischen Situationen sowie den sozialen Strukturen verbunden sind (z. B. sozioökonomischer Status [SÖS], Bildungsgrad oder Familienform). Daraus abgeleitet definieren wir Kultur als einen dynamischen und interaktiven Prozess, in dem sich Überzeugungen und Werte herausbilden, die zentral für das Alltagsleben der Menschen in den jeweiligen Kontexten sind (Greenfield, 2004; Keller, 2007, 2016). Kinder nehmen daher geradezu beiläufig die kulturellen Botschaften ihrer Umgebung auf. Auch werden diese durch bewusste und unbewusste Prozesse von den Eltern an die nachfolgende Generation übertragen. Da Entwicklung ein aktiver Prozess ist, werden kulturelle Werte in dem intergenerationellen Geschehen modifiziert. Zudem sind zeithistorische Prozesse wirksam. So lässt sich beispielsweise zeigen, dass mit einem Anstieg der formalen (schulischen) Bildung das Erstgeburtsalter der Frauen steigt, die Anzahl der Kinder zurückgeht und eher die Form der Kleinfamilie bevorzugt gelebt wird (Caldwell, 1982). Kultur bedeutet in diesem Sinne: Anpassungsprozesse an eine bestimmte Umwelt. Diese Anpassungsleistung ist mithin als Teil der menschlichen Natur anzusehen (Keller, 2007; Rogoff, 2003).
Abb. 1: Ökokulturelles Modell der Entwicklung (Keller, 2011a, S. 25; vgl. auch Keller, 2007; Keller & Kärtner, 2013)
Aus diesem Kulturbegriff lässt sich eine differenzielle Betrachtungsweise ableiten, da sich anhand der unterschiedlichen soziodemographischen Profile, die durch diesen Ansatz beschrieben sind, jeweils mit diesen zusammenhängende Werte, Normen und Verhaltenskonzepte unterscheiden lassen (LeVine, Miller, Richman & LeVine, 1996; Keller, 2018). Das Kulturelle Modell in Abbildung 1 stellt also das Verbindungsglied zwischen dem soziokulturellen Kontext und den Sozialisationsvorstellungen und -strategien dar.
Bei diesen Vorstellungen und Strategien spielen zunächst die Sozialisationsziele eine wichtige Rolle. Unter Sozialisationszielen versteht man das gewünschte Entwicklungsergebnis, also Ideen darüber, was von Kindern zu bestimmten Entwicklungsabschnitten erwartet wird. Das kann, wie weiter unten näher ausgeführt, je nach kulturellem Kontext sehr unterschiedliche Vorstellungen beinhalten (Keller, 2011a, 2019a).
Neben Zielen lassen sich Überzeugungen beschreiben, wie diese Ziele erreicht werden können, was dabei unterstützend wirkt oder hinderlich ist, z. B. was ein »gutes Elternverhalten« ist, was eine »gute und förderliche Interaktion« mit Kindern kennzeichnet und beispielsweise auch, was einen »guten Umgang« in frühpädagogischen Einrichtungen ausmacht oder wie sich frühkindliche Bildungsprozesse gestalten sollten. Diese zum Teil bewussten, zum Teil unbewussten Überzeugungen können als parentale (auf die Eltern bezogene) oder pädagogische Ethnotheorien beschrieben werden (Harkness & Super, 1996; Keller, 2011a, 2019a). Sie werden zum Teil unbewusst vermittelt, können aber auch bewusst, z. B. durch die Lektüre von Ratgebern erworben werden.
Sozialisationsziele und Ethnotheorien bilden einen maßgeblichen Hintergrund für das konkrete Verhalten von Eltern/Familienangehörigen, aber auch von pädagogischen Fachkräften. Je nachdem, was als wichtig, erstrebenswert und förderlich gilt, werden manche Verhaltens- und Umgangsweisen eher betont, andere eher vernachlässigt oder gar unterbunden. All dies hat Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung und Bildung. So hängen sowohl der Zeitpunkt als auch die Art und Weise, wie Kinder Entwicklungsaufgaben lösen, damit zusammen, was in dem jeweiligen Umfeld als besonders bedeutsam gilt, was wiederum durch die jeweiligen kulturellen Modelle maßgeblich beeinflusst wird. Die unterschiedlichen Ausprägungen dieser kulturellen Modelle lassen sich vor allen durch das Zusammenspiel und die jeweiligen Ausgestaltungen von zwei zentralen menschlichen Bedürfnissen ordnen: Autonomie und Verbundenheit (bzw. Relationalität).
1.3 Autonomie und Verbundenheit als menschliche Grundbedürfnisse und kulturelle Werte
Als Autonomie ist die Fähigkeit definiert, Kontrolle über das eigene Leben sowie über die eigenen Entscheidungen und Handlungen zu erlangen. Als Verbundenheit ist die psychologische und/oder ökonomische Verwobenheit zwischen Personen definiert. Beide Bedürfnisse sind für alle Menschen wichtig, aber in durchaus unterschiedlichen Formen und Ausgestaltungen. Zudem beeinflussen sich die jeweiligen Bedeutungen von Autonomie und Verbundenheit auch wechselseitig. Eine Lebensgestaltung, die beispielsweise eher durch das Primat individueller Entscheidungen und Kontrolle gekennzeichnet ist (wie dies beim unten ausgeführten Prototyp der psychologischen Autonomie der Fall ist), hat auch Auswirkungen auf die Gestaltung von sozialen Beziehungen. Auch hier spielt die individuelle Kontrolle eine bedeutende Rolle, so dass soziale Beziehungen durch persönl...