1 Wissenszentriertes Kundenbeziehungsmanagement – Ein Bezugsrahmen und Überblick
Im Laufe der Jahrzehnte haben sich die Strategieparadigmen der Unternehmen im Zuge des fortschreitenden Reifegrades der Gesellschaft und der globalisierten Wirtschaft von einer extern ausgerichteten Marktorientierung hin zu einer intern optimierenden Wissens- und Kompetenzorientierung gewandelt. Dabei wird immer weniger das Produkt oder eine Technologie als Ursache für den Unternehmenserfolg gesehen, sondern vielmehr der Kunde und der Gedanke der
Wertschöpfung für den Kunden in das Zentrum des Unternehmensgeschehens gerückt (
Abb. 1).
Abb. 1: Von der Produkt- zur Wissensorientierung (Quelle: In Anlehnung an (Bungard, Fleischer, Nohr, Spath, & Zahn, 2003))
In den 1960er bis 1980er Jahren herrschte der Market-based View mit einer Produkt-, Markt- und Wettbewerbsorientierung vor. Die Ursachen für Erfolg wurden im externen Bereich gesehen – in der technologischen Führerschaft bei den Produkten und in der Attraktivität der Branche, in der sich das Unternehmen befindet. Als Strategien wurden dabei eine Kostenführerschaft, die Differenzierung und die Beherrschung von Marktnischen gesehen1. In der Folge wandelte sich die unternehmensextern orientierte Strategieausrichtung hin zu einer unternehmensintern orientierten Sicht, der Resource-based View. Hierbei wurden die Erfolgsfaktoren in der Fähigkeit des Unternehmens gesehen, interne Ressourcen zu entwickeln, um so Wettbewerbsvorteile zu generieren und zu sichern2. Seit den 2000er Jahren gelangt immer mehr das Wissen als intangible Ressource im Unternehmen in den Vordergrund. Über die klassischen Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Kapital hinaus fokussiert der Knowledge-based View Wissen als wichtigen »4. Produktionsfaktor« für das Erreichen von Wachstum und Wettbewerbsvorteilen3. Eine wissensbasierte Strategie fördert dabei die Schaffung und Sicherung von Wissenspotenzialen im Unternehmen.
Aus einer wissensbasierten Strategie muss letztlich auch eine technische Umsetzung folgen, die u. a. durch Automatisierung ausgewählter funktionaler Bereiche, Prozesse und Aktivitäten einen Nutzen erwirtschaften. Hier verspricht gerade das Gebiet der Künstlichen Intelligenz (KI) mit seinen unterschiedlichen Methoden und Verfahren ein Unternehmen »smart« zu machen und viele Arbeitsbereiche intelligent zu automatisieren. So soll der Einsatz von Chatbots nicht nur die Kommunikation mit einer sehr großen Anzahl von Kunden individualisieren (Mass Customizing, Mass Individualization und Skalierung), sondern auch ganz neue Wege des Verkaufs ermöglichen (Conversational Commerce). Der Einsatz von Neuronalen Netzen und Deep Learning ermöglicht eine dedizierte Analyse des Kundenverhalten und kann zu einer Maximierung des Customer Lifetime Value (CLV) beitragen. Viele Anwendungsfälle, die im weiteren Verlauf dieses Buches noch aufgenommen werden, zeigen den hohen Nutzwert von Künstlicher Intelligenz (KI) im wissenszentrierten Kundenbeziehungsmanagement. Nach einer Studie der International Data Corporation werden bis zum Jahr 2021 CRM-Systeme mit KI-basierten Verfahren, einen Umsatzwachstum von 1,1 Billionen US-Dollar weltweit erzielen. Von dieser Summe wird für die deutsche Wirtschaft ein Wachstum von 62 Milliarden US-Dollar prognostiziert. Parallel entstehen dadurch 800.000 neue Jobs, von denen 130.000 in Deutschland vorhanden sein werden.4
Die zwei Entwicklungen
1. der Kunde – und somit die Beziehung zum Kunden – im Mittelpunkt des Unternehmens und
2. Wissen – und somit das Management von Wissen – als wichtiger Produktionsfaktor führen direkt zu der zentralen Fragestellung vieler Unternehmen: Wie kann ich das Wissen im Unternehmen von, über und für meine Kunden strategisch verankern, so dass meine Mitarbeiter das Paradigma eines wissenzentrierten Kundenbeziehungsmanagement leben, dieses Paradigma in Prozessen integrieren und durch geeignete organisatorische Maßnahmen und IT-Systeme umsetzen?
Zur Beantwortung dieser zentralen Frage stellt das Buch den Bezugsrahmen KnowBlueC vor.
1.1 Aktuelle Herausforderungen im Kundenumfeld
Viele Unternehmen waren in der Vergangenheit in einem recht statisch-passiven Kundenumfeld sehr erfolgreich mit ihren Produkten und Technologien aufgestellt, haben den Markt gut gekannt und die Wettbewerber im Auge behalten. Seit einiger Zeit allerdings haben sowohl neue Kommunikations- und Kollaborationstechnologien wie Internet, E-Shops und Social Media als auch ein gewandeltes Verständnis der heutigen Gesellschaft und somit des modernen Kunden (any time, any place, any where) und moderner Unternehmensnetzwerke (Digital Company, Open Innovation, Industrie 4.0) ein hohes dynamisches und vernetztes Kundenumfeld bewirkt. Dies gilt sowohl für den Business-to-Consumer (B2C) als auch den Business-to-Business (B2B) Bereich – weitere Bereiche wie Business-to-Government befinden sich momentan in den Anfangsphasen.
Als Konsequenz daraus sehen sich viele Unternehmen mit großen Herausforderungen konfrontiert:
• Sie verlieren plötzlich oder schleichend Marktanteile und wissen nicht warum.
• Sie verlieren Kunden, erkennen es aber erst, wenn es schon zu spät ist.
• Sie haben zwar tolle Produkte (Eigenwahrnehmung: wir wissen, was der Kunde will) – aber trotzdem kaufen die Kunden bei der Konkurrenz (Fremdwahrnehmung: der Kunde will aber was ganz anderes).
• Wenn Sie ehrlich sind, wissen Sie nur wenig oder fast gar nichts über die Kunden. Die groben Kundenklassifikationen aus Studien oder Markterhebungen reichen in einem dynamischen Umfeld nicht aus – zudem fehlt ein systematischer und transparenter Wissensspeicher.
• Was ist ein Kunde für uns überhaupt? Müssten wir den »Kunden« nicht detaillierter spezifizieren? (Haushalt, Person, Käufer, …).
• Wie »erlebt« der Kunde Sie? (»Wenn ich drei Mal bei Ihnen anrufe, erhalte ich drei verschiedene Aussagen.«, »Ihr Mitarbeiter A weiß nicht, was ich bereits mit Mitarbeiter B vereinbart habe.«, »Das Marketing verspricht uns das eine – der Vertrieb verkauft uns das andere und der Service erzählt uns, dass das alles so nicht funktioniert.«).
• Sie »laufen dem Kunden hinterher« (»Gestern wollte er das eine haben, heute aber bereits etwas anderes.«).
• Sie haben zwar eine Internetseite, einen E-Shop und einen Facebook-Auftritt, aber wissen nicht wer, was, wie dort macht.
Deshalb ist Kundenbeziehungsmanagement bereits seit einiger Zeit in vielen Unternehmen mit unterschiedlichem Durchdringungsgrad ein wichtiges Thema, von dem man sich die Bewältigung vielfacher Herausforderungen und wesentliche Optimierungspotenziale erhofft:
• Geschäftsführung: CRM soll ein ganzheitlicher Ansatz zur Unternehmensführung werden.
• Vertriebsleiter: Ich möchte eine Transparenz in meinen Vertriebsaktivitäten erhalten.
• Marketing: Der Kunde soll ein großartiges Erlebnis mit unseren Produkten bekommen.
• Service: Wir wollen unternehmensweit die Kundenzufriedenheit erhöhen.
• Informatik: Wir müssen die heterogenen Informationssysteme konsolidieren.
Viele Anforderungen aus unterschiedlichen Abteilungen und von verschiedenen Mitarbeitern erzeugen implizit ein diffuses Bild darüber, was »Kundenbeziehungsmanagement« konkret für mein Unternehmen bedeutet (strategisch, organisatorisch, zwischenmenschlich, technisch, …) und was es liefern kann (Verhaltensanweisungen, Prozesse, eine Kunden-Datenbank, …).
1.2 Der Bedarf nach Wissen im Kundenbeziehungsmanagement
Um die genannten Herausforderungen zu meistern, steht Wissen über den Kunden und im Zusammenhang mit dem Kunden als zentraler Erfolgsfaktor im Mittelpunkt einer jeden Aktivität. Wissen über den Kunden ist in allen funktionalen Bereichen des Unternehmens von Bedeutung.
So ist es im Marketing und der Verkaufsvorbereitung (Presales) wichtig zu wissen, welche Produkte und Dienstleistungen die Bedürfnisse eines individuellen Kunden am besten befriedigen. Um ein erfolgsversprechendes Angebot zu unterbreiten, müssen die Verkaufs- und Nutzenargumente passgenau auf den Kunden und seine Bedürfnisse adaptiert sein.
Im Verkauf (Sales) ermöglicht detailliertes Produkt- und Kundenwissen die individuellen Anforderungen eines jeden Kunden durch eine Kombination von Produkt-, Zubehör- und Ersatzteilen optimal zu erfüllen.
Schließlich ermöglicht Best Practice- und Lessons Learned-Wissen in der Verkaufsnachbereitung (Aftersales) dem Servicepersonal ein individuelles Kundenproblem hinsichtlich eines spezifischen Produktes optimal zu lösen.
Insgesamt benötigen die Mitarbeiter dieser funktionalen Bereiche also ausgeprägtes Wissen über den bearbeiteten Markt, die angebotenen Produkte und die Prozesse mit direktem und indirektem Kundenbezug.
1.3 Definitorische Annäherung an das Kundenbeziehungsmanagement
Es existiert eine Vielzahl von Meinungen und Überzeugungen, was Kundenbeziehungsmanagement sein soll. Diese rühren im Wesentlichen aus den unterschiedlichen Motivationen und Zielen her, die damit ausged...