Kleine Geschichte des schlechten Benehmens in der Kirche
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Kleine Geschichte des schlechten Benehmens in der Kirche

  1. 200 Seiten
  2. German
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Kleine Geschichte des schlechten Benehmens in der Kirche

Über dieses Buch

In der Kirche benimmt man sich anders als im Wirtshaus oder auf dem Markt. Aber was ist angemessenes Verhalten in einem Gotteshaus? Die Frage stellt sich nicht erst, seit Kirchen mehr wegen ihrer Kunstschätze als zum Gottesdienst besucht werden. Durch die Jahrhunderte hindurch wird schlechtes Benehmen in der Kirche beklagt: lautes Schwätzen, Schlafen während der Predigt, freizügige Kleidung, Rauchen, Schnupfen, Tabak kauen, das Mitbringen von Tieren … Was sind die Hintergründe solchen Benehmens: Unwissenheit oder religiöses Desinteresse? Auflehnung gegen die (kirchliche) Obrigkeit bzw. gesellschaftliche Normen oder einfach nur menschliche Schwäche? Findet man das nur "im Volk" oder auch bei den liturgischen Diensten? Wer klärt über angemessenes Benehmen auf und wie geschieht das? Und: Inwieweit trägt die Liturgie selbst dazu bei, dass Menschen sich nicht immer der Feier gemäß verhalten?

Häufig gestellte Fragen

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1. „Was soll ich dazu sagen? Soll ich euch etwa loben?“

Falsches, schlechtes und störendes Benehmen

Korinth. Um das Jahr 50 n. Chr. ist die griechische Hafenstadt eine pulsierende Multikulti-Metropole fast neuzeitlichen Zuschnitts mit etwa 100 000 Einwohnern, darunter viele römische Veteranen und freigelassene Sklaven. Verschiedene Ethnien und Religionen prägen die Hauptstadt der Provinz Achaia. Seit Neuestem gehören dazu auch Menschen, die an einen jüdischen Rabbi namens Jesus glauben, der etwa 20 Jahre zuvor in Jerusalem am Kreuz hingerichtet wurde, aber nach dem Zeugnis verschiedener Frauen und Männer drei Tage später von den Toten erweckt wurde und zu Gott, den er seinen Vater nannte, zurückgekehrt ist. „Christus“ nennen ihn seine Anhänger, „Gesalbter“. Die kleine christliche Gemeinde wurde von Paulus gegründet, der auf seiner Missionierungstour von Thessalonich über Athen auch nach Korinth kam, wo er etwa anderthalb Jahre blieb. Diese Gemeinschaft der Christusgläubigen bestand ebenfalls aus vielen Angehörigen der unteren Bevölkerungsschicht, aber auch aus einigen wohlhabenden Familien. Nach seiner Abreise gab es Streitigkeiten unter der etwa zweihundert Personen umfassenden Gemeinde, die auch Paulus zu Ohren kamen und auf die er in einem Brief einging, den er um das Jahr 55 an die Korinther schrieb. Dabei geht es auch um unpassendes Verhalten im Gottesdienst:
„Das kann ich nicht loben, dass ihr nicht zu eurem Nutzen, sondern zu eurem Schaden zusammenkommt. Zunächst höre ich, dass es Spaltungen unter euch gibt, wenn ihr als Gemeinde zusammenkommt. […] Wenn ihr euch versammelt, ist das kein Essen des Herrenmahls; denn jeder nimmt beim Essen sein eigenes Mahl vorweg und dann hungert der eine, während der andere betrunken ist. Könnt ihr denn nicht zu Hause essen und trinken? Oder verachtet ihr die Kirche Gottes? Wollt ihr jene demütigen, die nichts haben? Was soll ich dazu sagen? Soll ich euch etwa loben? In diesem Fall kann ich euch nicht loben“ (1 Kor 11,17–22).
Der Gottesdienst, den er anspricht, ist das sogenannte Herrenmahl, die Eucharistiefeier, freilich nicht wie heute in einem stilisierten Mahl mit Oblaten (Hostien) und einem Schluck Wein, sondern in Verbindung mit einem vorausgehenden Sättigungsmahl. Der von Paulus getadelte Missstand wird verständlicher, wenn man sich vor Augen hält, dass es bei den Festmählern in der Antike sehr oft unterschiedliche Speisen je nach dem Rang der Geladenen gab. Und: Offensichtlich konnten nicht alle zur selben Zeit schon anwesend sein. Die Begüterteren konnten sich bei dem Mahl bereits an Speisen und Getränken laben, bis die anderen eintrafen, die bis abends – das Herrenmahl fand am Abend statt – arbeiten mussten. Was schon bei einem profanen Gastmahl zu Ärgernis führen kann, ist im Zusammenhang des „Herrenmahls“ geradezu ein Skandal, weil hier das Wesen des eucharistischen Mahles, das ja Communio, Gemeinschaft mit dem Herrn und untereinander ausdrücken soll, ad absurdum geführt wird. „Wenn ihr euch versammelt, ist das kein Essen des Herrenmahls“, sagt Paulus daher ganz direkt und fügt noch überspitzt hinzu, dass so der eine schon betrunken ist, während der andere noch hungert.
Für die junge Christengemeinde in Korinth war dieser Tadel ein Augenöffner: In ihrer Gemeinschaft kamen Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten zusammen – anders als in sonstigen Vereinigungen –, und doch waren sie alle gleich, sollten auch bei den Zusammenkünften gleich behandelt werden. Das war das Neue der Botschaft Jesu, das musste erst gelernt werden. Durch das überkommene Verhalten der Wohlhabenden wurden die Ärmeren auch noch als solche bloßgestellt und gedemütigt, wie Paulus schreibt. Auch das richtete sich gegen das Evangelium Jesu, der die Armen seligpries.

Schlechtes Benehmen, unhöflich, gedankenlos?

Aber wie ist dieses Verhalten zu bezeichnen? Als schlechtes Benehmen? Oder nur als Unhöflichkeit, als Gedankenlosigkeit? Man sieht an diesem Beispiel, dass es bei Klagen über das Verhalten im Gottesdienst zunächst nicht nur um Äußerlichkeiten wie das Betreten einer Kirche in unpassender Kleidung oder das Popeln in der Nase oder Schlafen während der Predigt ging. Das alles gab es in der Geschichte und gibt es auch heute noch. Manches Verhalten aber richtet sich gegen das Wesen des Gottesdienstes selbst und zugleich auch gegen die, die an ihm teilnehmen, ohne dass dies gleich negativ auffällt.
Das führt aber auch zu der Frage, was schlechtes Benehmen im Gottesdienst alles umfasst und ob es einen Unterschied zwischen Verhalten und Benehmen gibt. Im Zusammenhang des Themas begegnen beide Begriffe – Benehmen und Verhalten – oft austauschbar, sie stellen aber, genau betrachtet, Unterschiedliches dar:
„Benehmen“ im Sinne eines richtigen bzw. angemessenen Benehmens ist die Summe der Verhaltensweisen und Äußerungen, die den Wertvorstellungen einer Gemeinschaft oder Gruppe in bestimmten Situationen entsprechen. Unterschiedliche Kulturen bzw. Subkulturen definieren richtiges bzw. gutes Benehmen möglicherweise jeweils anders. Das erklärt, dass im kirchlichliturgischen Bereich konfessionell unterschiedliche Verhaltensweisen, die auch als Benehmen gewertet werden, auftreten können.
„Verhalten“ hingegen zielt im gottesdienstlichen Zusammenhang eher auf Vorgänge, Handlungen und Haltungen (im wahrsten Sinne des Wortes). Ein gutes Beispiel dafür bieten die Verhaltensregeln für den Gottesdienst, wie sie im „Orthodoxen Glaubensbuch“ von Andrej Lorgis und Michail Dudko (2001) dargelegt werden; so werden hier etwa genaue Hinweise auf das Verhalten vor der Kirche, in der Kirche, zur Verehrung der Ikonen und zum Gebetsgedenken gegeben.
Verhalten und Benehmen können auseinanderklaffen. Es kann sich jemand liturgisch richtig verhalten im Sinne der Haltungen und vorgegebenen Verhaltensweisen, sich aber schlecht benehmen, weil er oder sie dabei lacht, schwätzt, Kaugummi kaut oder Ähnliches. Oder aber jemand verhält sich falsch, weil er bzw. sie die richtigen Verhaltensweisen nicht kennt, vollzieht aber den Gottesdienst in innerer Ehrfurcht mit.
Verhalten wie Benehmen sind ein äußerer Ausdruck, der einer inneren Einstellung entsprechen sollte. Das Verhalten ist dabei auch von bestimmten Regeln und Konventionen geprägt. Das Benehmen wiederum ist unabhängig von Ort und Situation. Prinz Asfa-Wossen Asserate, der vor Jahren ein viel beachtetes Benimm-Buch verfasst hat, bringt dies so auf den Punkt: Es reicht nicht aus, irgendwelchen Benimmregeln zu folgen – es geht um die innere Haltung und die Herzensbildung.
„Schlechtes Benehmen“ ist also ein weiter Begriff – die Bandbreite dessen, was im Gottesdienst unpassend, ungebührlich, ungehörig erscheint, ist groß und reicht von falschem Verhalten bis hin zu störendem Tun mit strafrechtlicher Relevanz.
Falsches Benehmen – oder besser: Verhalten – kann man da antreffen, wo Kirchenbesucher oder Gottesdienstteilnehmer nicht wissen, wie man sich zu bestimmten Gelegenheiten verhält, sitzen bleiben, wo man knien sollte, keine Reverenz machen etc. Auch die unpassende Kleidung gehört dazu. Es ist auch die Frage: Wie lernt man das, wenn man nicht darin aufwächst und entsprechend erzogen wurde? Dafür gibt es heute vielfach Ratgeber und Hinweise in Zeitungen und im Internet für Menschen, die unsicher sind, weil sie Kirchen und den christlichen Gottesdienst nicht oder nur wenig kennen. Manchmal findet man die jeweiligen Verhaltensweisen auch in den Kirchen angezeigt oder auf einem Verlaufsblatt des Gottesdienstes notiert.
Zum schlechten Benehmen gehört das, was in dem in der Einführung zitierten Prolog aus dem Roman „Wir in Kahlenbeck“ genannt wird; Dinge, die man macht, obwohl man weiß, dass sie sich (nicht nur in der Kirche) nicht gehören: lautes Reden, Kaugummi kauen, Handy und Smartphone nutzen, rauchen u. a. Meist werden sie auch auf Schildern und durch Piktogramme als verboten angezeigt, weil sie andere stören.
Störendes Verhalten umfasst all das, wodurch andere Gottesdienstteilnehmer oder Kirchenbesucher sich in ihrer Andacht gestört fühlen; das ist mehr als zum Beispiel lautes Reden. Die Störung des Gottesdienstes kann sogar ein strafrechtliches Tun sein und ist, wie auch beschimpfender Unfug, im Strafgesetzbuch (StGB) aufgeführt (vgl. S. 53).
Das Verhalten der Gemeinde in Korinth war ihrer Erfahrung nach nicht falsch oder schlecht – es passte nur nicht mehr zur Feier einer christlichen Gemeinschaft, weil sich nach dem Evangelium Jesu neue und andere Wertvorstellungen herausgebildet hatten, die auch das Verhalten untereinander regeln. Zu Veränderungen im Verhalten ist es in der Geschichte des Gottesdienstes und der Kirchen immer gekommen. Das Benehmen im Kirchenraum ist über die Jahrhunderte hinweg und auch in verschiedenen Regionen sehr unterschiedlich. Was uns heute nicht vorstellbar erscheint, war in früheren Zeiten nicht ungewöhnlich, umgekehrt hätte manches, was heute bei uns selbstverständlich ist, früher für Unverständnis gesorgt.
Beginnen wir nun unseren Gang durch Raum und Zeit des schlechten Benehmens mit dem Betreten der Kirche.

2. „Grüß Gott!“

Vom Betreten des Gotteshauses und dem Verhalten dabei

Ein unappetitliches Vorkommnis wurde einige Jahrzehnte zurück vor dem Landgericht Essen verhandelt: Da hatte ein Mann im Windfang einer Kirche onaniert, „als Kirchenbesucherinnen in seiner Nähe weilten“. Nicht nur eine Frage des schlechten Benehmens, sondern bereits eine Strafsache nach § 167 StGB. So weit schien alles klar. Doch nun begannen die juristischen Spitzfindigkeiten: Es wurde die Frage gestellt, ob der Windfang bereits Kirche im eigentlichen Sinne ist. Antwort: Der Windfang sei zwar kein Teil der zum Gottesdienst bestimmten Räume, aber „nach Rechtsgefühl und Volksauffassung befindet man sich nach Durchschreiten der äußeren Tür bereits in der Kirche. Dieses Empfinden pflegen die männlichen Kirchenbesucher z. B. dadurch zu bezeugen, dass sie meist schon beim Betreten solcher Eingangsräume den Hut abnehmen“, schreibt Heinrich Stader in seiner „Einführung in den Juristenhumor“ von 1996. Ob der Mann bei seinem abseitigen Tun im Windfang den Hut aufbehalten hatte, wurde allerdings nicht weiter erörtert …
Die Frage nach dem rechten Benehmen im Gottesdienst bzw. in einer Kirche beginnt bereits mit deren Betreten. Das betrifft nicht nur die entsprechende Kleidung, auch der Zweck des Kirchenbesuchs spielt dabei eine Rolle: Betritt man die Kirche für einen Gottesdienst oder zum Besichtigen, will man ein kurzes Gebet sprechen und eine Kerze anzünden oder eine Abkürzung nach dem Einkauf nehmen? Die Kirche ist ein öffentlicher Raum, aber keineswegs kann man sich in ihr verhalten, wie man es in der Öffentlichkeit tun kann (oder nicht einmal da). Weil zunehmend mehr Menschen nicht mehr kirchlich sozialisiert sind, gibt es Hinweise auf das richtige Verhalten beim Betreten („Verhalten in der Kirche. Regeln für Besucher“) auch in Internet-Ratgebern, Zeitungen und Lifestyle-Magazinen: „Beim Betreten einer Kirche müssen Männer unbedingt ihre Kopfbedeckung abnehmen und Frauen sollten nicht zu freizügig gekleidet sein. Katholiken benetzen sich beim Betreten der Kirche mit Weihwasser und bekreuzigen sich vor dem Altar.“ Dies sind Hinweise auf die auffälligsten Riten, die zumeist nur für einen kurzen touristischen Besuch wichtig sind.
Das Betreten der Kirche zum Gottesdienst ist aber ein weitaus vielschichtigeres Ritual, quasi Teil eines Sich-Bereitens, einer „Liturgie vor der Liturgie“, wie es im evangelischen „Handbuch der Liturgik“ (1995) ausgedrückt wird, und ein sehr bewusstes.
Das besondere Verhalten hängt auch mit dem Ort zusammen: „die Pforte“ umschreibt ihn Romano Guardini in seinem berühmten Büchlein „Von heiligen Zeichen“ (1922), „die Schwelle“ Egon Kapellari in dem Buch „Heilige Zeichen“ (1987). Beide verweisen auf den Übergang, den Eintritt in das Heilige: „Wir sollten nicht eilfertig durch die Pforte laufen! Ganz langsam sollten wir hindurchschreiten und unser Herz auftun, damit wir vernehmen, was sie spricht. Wir sollten sogar vorher ein wenig innehalten, damit unser Durchgang ein Schreiten der Läuterung und der Sammlung sei.“ – „Die Kirche hält nach wie vor Schwellen bereit. Wer als Glaubender über die Kirchenschwelle tritt, der ist eingeladen, dies bewusst zu tun.“

Unterschiedliche „Grußriten“

Der Liturgiewissenschaftler Franz Kohlschein hat sich 1991 in einem Artikel damit befasst, „wie die Gemeinde zusammenkommt“, und das Verhalten der Gläubigen beim Betreten der Kirche in den Blick genommen – auch in den verschiedenen Konfessionen. Es wird aus seiner Darstellung deutlich, dass das Betreten der Kirche zum Gottesdienst mehr ist als ein Hereinkommen. Das Verhalten der Gläubigen wird durch ein ausgeprägtes Brauchtum bestimmt, das sich aus einer Folge von Handlungen zusammensetzt, die vom Betreten der Kirche bis zum Einnehmen des Platzes reicht. „Man kann sie als ‚Grußritus‘ verstehen, der eine doppelte Richtung aufweist. Er wendet sich auf der vertikalen Ebene des Betens Gott zu, auf der horizontalen Ebene des Miteinanders den Anwesenden.“ Zu den überkommenen Formen, die vor allem auf die Verehrung des Heiligen ausgerichtet waren (z. B. Mütze abnehmen, Weihwasser nehmen, sich bekreuzigen, Kniebeuge, Hinknien, stilles Gebet am Platz), kommen heute neue hinzu, die eher kommunikativ sind (Grüßen der Bekannten, Gespräch auch in der Bank, Lesen des Pfarrbriefes o. Ä.). Manche der älteren Verhaltensformen sind nach Kohlscheins Beobachtung im Schwinden begriffen oder haben sich in Richtung der horizontalen Kommunikation verändert. Diese Beobachtung macht auch ein Pfarrer, der in einer E-Mail schrieb:
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Nichts dagegen, wenn sich Nachbarn, Freundinnen usw. begrüßen, aber muss man wirklich lautstark den Ratsch, der eigentlich vor der Kirchentüre seinen Platz hätte, bis zum Glockenzeichen ausdehnen? Übrigens: Dass der Herr im Tabernakel von den Hereinkommenden gegrüßt würde (durch eine Kniebeuge und ein kurzes Gebet), ist mehr und mehr rückläufig. […] Setzen Sie sich mal 20 Minuten vor einer Sonntagsmesse an die Emporenbrüstung und schauen Sie den Hereinkommenden zu: Sie werden den Mund nicht mehr zubringen! Was ist da seit den 50er Jahren katechetisch falsch gelaufen? (A. W. – 18. 8. 2019)
Eine Änderung der „Grußriten“ beim Betreten des Gottesdienstraumes konstatiert der Pastoralliturgiker Michael Meyer-Blanck auch für die evangelische Kirche (Inszenierung des Evangeliums, 1997). Das Nehmen von Weihwasser und Sich-Bekreuzigen ist hier ohnehin nicht üblich; hingegen findet man die stille Sammlung im Stehen, bevor man den Platz in der Bank einnimmt. Aber auch das sieht er im Schwinden begriffen, das stille Gebet am Bankplatz (vor dem Hinsetzen) ist nicht mehr selbstverständlich. „Alles Äußere steht im Verdacht, nur äußerlich zu sein, und in der religiösen Erziehung werden äußere Formen vernachlässigt.“ Dies wird auch von anderer Seite her bestätigt; der Verhaltenswissenschaftler Parvis H. Falaturi schreibt über den Gruß in Richtung Altar vor dem evangelischen Gottesdienst: „In manchen Kirchen fällt er ganz weg, und die Gottesdienstbesucher gehen in ihre Bankreihe, setzen sich in die Bank und harren der Dinge, die da kommen“ (Das Geschehen am Altar, 2014).
Tendenziell scheint die Ausrichtung auf das Heilige nicht mehr so sehr im Vordergrund zu stehen, wie es früher noch üblich war und wie es kirchlicherseits gewünscht wird. „Der sündige Mensch, der sich Gott nähert“, wie es Meyer-Blanck zusammenfasst: In diesem Bewusstsein gehen heute viele Menschen nicht mehr zum Gottesdienst. Man nimmt ihn eher als eine fromme Veranstaltung wahr, oder eben, wie es Falaturi ausdrückt: Man harrt der Dinge, die da kommen – ähnlich wie im Theater.
Im orthodoxen Gottesdienst steht ebenfalls die Ausrichtung auf das Heilige im Vordergrund, wie es das genannte „Orthodoxe Glaubensbuch“ in Bezug auf das Verhalten in der Kirche beschreibt: Kreuzzeichen und Verehrung der Ikonen, evtl. auch das Aufstellen und Entzünden einer Kerze gehören dazu. Die Hinwendung zu anderen Menschen ist dennoch nicht ausgeschlossen: „Nachdem Sie die heiligen Ikonen verehrt haben, können Sie Bekannte begrüßen und ihnen zum Festtag gratulieren, wenn gerade kein Gottesdienst stattfindet.“ Nichtorthodoxen Gästen und Gläubigen, die mit den Riten nicht vertraut sind (und dadurch auffallen), wird gern geholfen, wobei man ihnen auch die „korrekte“ Bekreuzigung und Vern...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Ein Adventsgottesdienst
  6. 1. „Was soll ich dazu sagen? Soll ich euch etwa loben?“
  7. 2. „Grüß Gott!“
  8. 3. Nicht Zeit-gemäß
  9. 4. „Saloppes Benehmen ist unangebracht!“
  10. 5. Schleier auf, Hut ab, Strümpfe an
  11. 6. „Hast du gelacht, geschwätzt und andere verstöret?“
  12. 7. „Wachetauf!“
  13. 8. Mit der Bratwurst in der Hand
  14. 9. „Wie Weihrauch steige …“
  15. 10. „Spucken und jede andere Verunreinigung ist verboten!“
  16. 11. „Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr …“
  17. 12. „Ein Hund kam in die Kirche …“
  18. 13. „Hilfe, die Herdmanns kommen“
  19. 14. Einen Jux wollen sie sich machen
  20. 15. „Wenn das schon am grünen Holze geschieht …“
  21. 16. Diakon, Kirchenschweizer, Hundepeitscher
  22. 17. „Bedenke, was die Kirche ist, und in der Kirche, wo du bist!“
  23. 18. „Das kann ich nicht loben …“
  24. „Was ist da geschehen!“
  25. Anhang
  26. Verschiedene „Kirchen-Knigge“
  27. Bildnachweis