Essstörungen und Persönlichkeit
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Essstörungen und Persönlichkeit

Magersucht, Bulimie und Übergewicht - Warum Essen und Hungern zur Sucht werden

  1. 212 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfügbar
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Essstörungen und Persönlichkeit

Magersucht, Bulimie und Übergewicht - Warum Essen und Hungern zur Sucht werden

Über dieses Buch

Viele Ärzte und Psychologen haben Essstörungen bisher zumeist als eine Folge von Beziehungsstörungen oder schweren, psychisch belastenden Ereignissen in der Kindheit angesehen. Inzwischen zeigt die Forschung jedoch, dass diese Sichtweise überholt ist. Tatsächlich ist es häufig eine genetisch bedingte Persönlichkeitsvariante, die zu Essstörungen mit Krankheitswert führen kann. Wenn sich deren Symptomatik automatisiert, entwickelt sich ein zwanghaftes Suchtverhalten. Dies dient dem Abreagieren unerträglicher Wahrnehmungs- und Gefühlszustände, was wiederum das Belohnungssystem aktiviert. Daraus entwickelte die Autorin einen neuen Therapieansatz. Sie erläutert die Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen mit Magersucht, Bulimie und Adipositas fachlich versiert und anschaulich. Dabei geht sie auch dem Zusammenhang von AD(H)S und Essstörungen nach.

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Information

1 Essstörungen – eine Einführung

1.1 Ein Konflikt zwischen Wollen und Können

Neue Erkenntnisse der neurobiologischen Forschung mithilfe bildgebender Verfahren zeigen, wie eng Psyche, Körper und soziales Umfeld miteinander verbunden sind und welche Bedeutung negativer Dauerstress als Bindeglied dabei spielt. Das Gehirn mit seinen wichtigen Funktionen und seinem großen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung sollte in Zukunft in der Psychiatrie und Psychologie viel stärker berücksichtigt werden. Die bisher mehrheitlich symptomzentrierten therapeutischen Ansätze müssen durch mehr ursachenorientierte Behandlungsstrategien ersetzt und die Entwicklung der Persönlichkeit von Kindheit an mit in die Diagnostik einbezogen werden.
In Bezug auf Essstörungen bedeutet das, nach einem ganz bestimmten Persönlichkeitsprofil zu suchen, das infolge einer veränderten Verarbeitung von Informationen und Stress die biologischen Voraussetzungen für das Entstehen und Aufrechterhalten von Magersucht und Esssucht schafft. Die Entwicklung einer Essstörung beginnt nicht erst in der Pubertät, sondern schon viele Jahre vorher, nur werden diese frühen Symptome viel zu oft übersehen oder als solche verkannt. Wenn dann Hilflosigkeit, Stress, Frust, Versagensängste, Selbstwertproblematik und Auffälligkeiten im Sozialverhalten die Persönlichkeitsreife so beeinträchtigt haben, dass die Betroffenen den Anforderungen der Pubertät nicht gewachsen sind, kommt es zur Essstörung als Folge einer psychischen und körperlichen Dekompensation. Denn Essgestörte erleben ständig, dass sie ihre vorhandenen Fähigkeiten nicht in Erfolg und Anerkennung umsetzen können, selbst wenn sie sich noch so sehr darum bemühen.
Essstörungen – wie Magersucht, Ess-Brech-Sucht und häufig auch die Esssucht – können zum missglückten Bewältigungsversuch unlösbar erscheinender Schwierigkeiten werden, wenn die Betroffenen zu keiner anderen Lösung fähig sind und ihnen das soziale Umfeld keine spürbaren Hilfen anbietet.
Leider wird die innere Not der vielen Betroffenen oft nicht erkannt oder, schlimmer noch, für »Theater« oder »komisches Getue« gehalten. Viele Therapeuten, die vorwiegend symptomorientiert arbeiten, reagieren erst dann, wenn die Betroffenen eine Summe von Symptomen aufweisen, die in ein vorgegebenes Diagnoseschema passen. Aber bei beginnenden Essstörungen sollte, wie bei vielen anderen psychischen Erkrankungen auch, die Behandlung früher einsetzen. Psychische Erkrankungen entwickeln sich langsam, meist über Jahre – das erfordert, deren Frühsymptome rechtzeitig zu erkennen und ernst zu nehmen.
Essgestörte weisen im Persönlichkeitsprofil viele Gemeinsamkeiten auf, was auf eine gemeinsame neurobiologische Ursache des Störungsbildes hindeutet. Diese zu erkennen und dadurch den Essgestörten mit bisher zu selten genutzten therapeutischen Strategien zu helfen, dazu möchte dieses Buch informieren und beitragen.

1.2 Ein gesellschaftliches und persönliches Problem

Die medizinische Forschung hat sich für das 21. Jahrhundert auf die Fahnen geschrieben, nicht nur Erkrankungen erfolgreich zu behandeln, sondern deren Entstehung frühzeitig zu verhindern. Einige Möglichkeiten, um Essstörungen frühzeitig erkennen und behandeln zu können, möchte dieses Buch aufzeigen. Mut dafür haben mir die vielen Patienten gemacht, denen durch eine frühzeitige Intervention erfolgreich geholfen werden konnte, und Therapeuten, die schon seit Jahren den Zusammenhang von Essstörungen und einer genetisch bedingten anderen Art der Informationsverarbeitung erkannt und ihr therapeutisches Konzept entsprechend ausgerichtet haben.
Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen dabei jene Essstörungen, die als eine individuelle Bilanz eines deutlich beeinträchtigten Selbstwertgefühls, einer ständig erlebten schlechten sozialen Kompetenz und einer damit verbundenen hohen Empfindlichkeit gegenüber Kritik und Stress anzusehen sind, und bei denen der Verdacht besteht, dass sie der persönlichen Problemlösung dienen. Dem sozialen Umfeld kommt dabei eine Auslöser- und Verstärkerfunktion zu, vor allem durch Suggerieren von Leit- und Vorbildern, die den Schönheitswahn zum alles bestimmenden Element für Anerkennung und Akzeptanz einer jugendlichen Persönlichkeit machen. Schlanksein verspricht Perfekt-Sein, der Schönheitskult soll innere Werte ersetzen. Die Umwelt alleine löst jedoch keine Essstörung aus, eine entsprechende individuelle Veranlagung muss zusätzlich vorhanden sein. Unsichere und überforderte Jugendliche suchen verstärkt nach Orientierung und Sicherheit; Leit- und Vorbilder liefern diese, sie setzen Impulse zur Nachahmung. Oft wird die oberflächliche Abbildung einer Person zum »Leitbild«, wobei deren innere Werte kaum bekannt sind, nicht hinterfragt werden oder, noch schlimmer, überhaupt nicht vorhanden sind.
Vielen Jugendlichen fehlen Vorbilder, die ihnen innere Werte vermitteln. Die Orientierung an Äußerlichkeiten dominiert. Vorbild ist immer ein Mensch, der durch sein Verhalten und Aussehen positive Impulse zur Nachahmung auslöst. Eine Vorbildfunktion sollte vorgelebt werden. Abbildungen allein sind unzureichend, werden aber von verunsicherten und mit sich unzufriedenen Jugendlichen gern zum Leitbild für ihr Aussehen genommen. Da die Kommunikation immer mehr über die Medien erfolgt, gewinnen deren Bilder zunehmend an Bedeutung für Vorbildfunktionen.
Eine zu große Empfindlichkeit ist meist Folge einer angeborenen besonderen Art der Informations- und Stressverarbeitung, die bei entsprechender Ausprägung und als Summe mehrerer Faktoren zur psychischen Störung mit veränderter Wahrnehmung des eigenen Körpers und der Umwelt führen kann. Dazu kommen dann gleichzeitig oder zeitlich versetzt weitere psychische Symptome, wie Ängste, Zwänge, depressive Verstimmungen, Panikattacken oder ein Burnout-Syndrom, sowie psychosomatische Beschwerden, wie Kopfschmerzen, Übelkeit, Magen-Darm-Beschwerden, Schwindelanfälle oder auch Essstörungen.
Wem es nicht gelingt, sich psychisch wieder ins Gleichgewicht zu bringen, der versucht das, indem er sein Aussehen verändert und – wie er meint – attraktiver gestaltet, in der Annahme, dadurch weniger Probleme zu haben. Was anfangs als positiv erlebt wird, kann schnell zwanghaft und zur Sucht werden. Magersucht und Esssucht können die gleichen psychodynamischen Ursachen haben, in beiden Fällen sind die Betroffenen mit ihrem Schicksal unzufrieden.
Essstörungen nehmen zu, weil wir bei Kindern und Jugendlichen die psychischen Probleme nicht rechtzeitig erkennen und sie hierbei ungewollt allein lassen. Denn die meisten von ihnen sind nicht verhaltensauffällig, sondern haben Lernschwierigkeiten und soziale Probleme, die sie aufgrund ihrer meist guten bis sehr guten Intelligenz eine Zeit lang kompensieren können.
Aus vielen Gründen, wie Mangel an echten Vorbildern, zunehmender Reizüberflutung, strukturellen Veränderungen im Schulsystem und im familiären Zusammenhalt, steigt die psychische Belastung unserer Kinder und Jugendlichen. Psychische Störungen nehmen zahlenmäßig und an Schwere ständig zu, sodass es an der Zeit ist, nach Möglichkeiten zur Vorbeugung und frühzeitigen Behandlung zu suchen. Ein neuer erfolgreicher therapeutischer Ansatz bietet sich für betroffene Kinder, Jugendliche und Erwachsene, deren psychische Beeinträchtigung z. B. durch eine Aufmerksamkeitsdefizit-Störung (AD[H]S) bedingt ist. So lassen sich die verschiedenen Formen von Essstörungen immer häufiger als eine Folge eines zuvor nicht erkannten oder bisher unzureichend behandelten Aufmerksamkeitsdefizit-Syndroms ohne Hyperaktivität (ADS) ansehen und als solche erfolgreich therapeutisch bearbeiten. Dies erfordert für die Betroffenen und deren Eltern, sich über neue wissenschaftlich fundierte Therapien zu informieren und Ärzte oder Psychologen aufzusuchen, die diese praktizieren. Diese Therapeuten werden dabei von Anfang an an der Verbesserung des Selbstwertgefühls und der sozialen Kompetenz der betroffenen Kinder und Jugendlichen arbeiten und ihnen die dafür notwendigen Möglichkeiten bieten.

1.3 Essstörungen und Persönlichkeit

Die starke Zunahme von Essstörungen, die unter Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen aller Gesellschaftsschichten auftreten, stellt für die Betroffenen und die Gesellschaft insgesamt ein großes Problem dar. So haben sich die Essstörungen in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt und sie gehören zu den am schwierigsten zu behandelnden psychischen Störungen mit oft schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen.
Die Häufigkeit der Übergewichtigkeit in der europäischen Bevölkerung liegt inzwischen bei etwa 30 % und die der Fettleibigkeit bei circa 10 %. Südliche Länder weisen hierbei höhere Zahlen auf als die nördlichen. Die Folge ist eine Zunahme des Metabolischen Syndroms und der Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus Typ II). Gleichzeitig nehmen aber auch Magersucht und Bulimie in den westlichen Ländern ständig zu.
Das Robert-Koch-Institut in Berlin veröffentlichte 2007 eine erste umfassende Studie über die Gesundheit unserer Kinder und Jugendlichen (KiGGS-Studie, vgl. Hölling und Schlack 2007, Hölling et al. 2007, Schlack et al. 2007). Von den 18.000 befragten Kindern und Jugendlichen bestand bei 21,9 % der Verdacht auf Vorliegen einer Essstörung. Dabei waren Mädchen 50 % mehr betroffen. Diese Studie wurde vom Robert Koch-Institut weitergeführt bis zum Jahr 2017, die aktuellen Ergebnisse werden in Kapitel 5.1 ausführlich beschrieben. Vom Institut der Klinischen Psychologie der Universität Jena wurden 369 Gymnasiasten der Klassenstufe 9–11 untersucht und befragt: Bei 15 % von ihnen, so ein Ergebnis der Studie, lag ein hohes Risiko vor, eine Essstörung zu entwickeln. Besonders häufig sind Essstörungen bei weiblichen Spitzensportlern in den sog. ästhetischen Sportarten und bekanntermaßen bei Models (Herpertz-Dahlmann und Müller 2000). So leiden etwa 30 % der weiblichen übergewichtigen jungen Erwachsenen an einer Essstörung mit Essattacken (Binge-Eating-Störung). Meist begannen diese Essattacken im Alter von 9–12 Jahren (Herpertz-Dahlmann 2003b). Von den Jugendlichen und Frauen mit Untergewicht leiden 1–3 % und 0,1 % aller Männer in der Altersgruppe zwischen 15 und 35 Jahren an Magersucht. An der sog. Bulimie, der Ess-Brech-Sucht, leiden etwa 2–4 % aller Mädchen und Frauen und 0,5 % aller männlichen Erwachsenen (Herpertz-Dahlmann 2003b, Holtkamp und Herpertz-Dahlmann 2005, Meermann und Borgart 2006). Essstörungen mit Untergewichtigkeit bestehen bei ca. 15 % aller weiblichen Jugendlichen und Frauen, auch Kinder vor der Pubertät sind zunehmend davon betroffen. Diese Gruppe ist besonders gefährdet, eine Bulimie oder Anorexie zu entwickeln. Die Dunkelziffer der Häufigkeit von Essstörungen ist sehr groß, weil sie bei vielen mit Scham besetzt sind und von den meisten nicht als Krankheit gesehen werden.
Die mit den Essstörungen verbundenen Folgeschäden bedeuten für die Gesellschaft eine große finanzielle Belastung, für den Einzelnen und seine Familie ein Risiko, das für den Betroffenen tödlich enden kann. Bei jungen Frauen ist Magersucht die psychische Erkrankung mit der höchsten Sterberate von 10–20 %. Die Betroffenen sterben an den körperlichen Folgen ihrer Unterernährung oder sie begehen einen Suizid. Über zwei Drittel aller Magersüchtigen werden trotz meist jahrelanger Behandlung nie mehr psychisch stabil und körperlich voll leistungsfähig.
Vor dem oben beschriebenen Hintergrund kann kein Zweifel an der Notwendigkeit bestehen, wirksame Konzepte und praktikable Wege zu finden, Essstörungen erfolgreich zu behandeln und damit dauerhaft zu überwinden. Eine wesentliche Voraussetzung hierfür liegt darin, die tiefer liegenden Ursachen der Essstörungen zu erkennen. Denn Magersucht, Bulimie und Adipositas sind »Selbstbehandlungsversuche« zum Abbau eines emotional unerträglichen Spannungszustandes, der über Essen oder dessen Verweigerung abgebaut wird.
Somit dienen Essstörungen der Bewältigung massiver psychischer Schwierigkeiten, die als solche vom sozialen Umfeld oft nicht wahrgenommen werden. Betroffen sind vor allem sensible leistungsorientierte, überangepasste und junge Menschen, die infolge einer genetisch bedingten anderen Art der Verarbeitung von Informationen ihr inneres Selbstkonzept nicht verwirklichen können. Trotz intensiver Anstrengungen erleben sie in ihrem Alltag immer wieder Enttäuschungen, weil sie über ihr intellektuelles Potenzial nicht jederzeit und erfolgreich verfügen können und sich vom sozialen Umfeld unverstanden fühlen.
Dadurch gerät ihr Selbstvertrauen in eine Negativspirale, die zu emotionalem Dauerstress führt. Die Essstörung wird so zu einer stressassoziierten psychischen Störung, die frühzeitig professioneller Hilfe bedarf – viel früher als diese bisher zumeist erfolgt. Für Angehörige, Freunde und das nähere soziale Umfeld ist es deshalb von großer Bedeutung, nicht abzuwarten, bis die betroffenen Kinder und Jugendlichen – angetrieben durch ein schlechtes Selbstwertwertgefühl, innere Hilflosigkeit und Verzweiflung – eigene Wege der »Selbsthilfe« gehen. Dabei handelt es sich um eine Selbsthilfe, bei der die Betroffenen ihre Auseinandersetzung mit der Familie, mit Freunden oder auch mit der Schule auf ihren eigenen Körper verlagern, was rasch zu Ängsten, Zwängen oder auch depressiven Verstimmungen führt und schließlich in einem Suchtverhalten enden kann. Eine Sucht, die nichts mit Drogen zu tun hat, sondern die die Folge ständiger Versagensängste ist, verbunden mit einem quälenden Gefühl, nicht verstanden oder abgelehnt zu werden. Magersucht müssen wir in diesem Zusammenhang als eine Folge verdrängter Sehnsüchte, verschluckter Tränen, erlittener Kränkungen und fehlender sozialer Anerkennung verstehen. Eine Sucht, die hilft, durch Abnehmen die Anerkennung der Gleichaltrigen zu erlangen, ein Verhalten, das den betroffenen Kindern und Jugendlichen endlich einmal Macht über den eigenen Körper verspüren lässt und damit ihre psychische Befindlichkeit scheinbar verbessert.
Im Umgang mit ihrem eigenen Körper gelingt es essgestörten Kindern und Jugendlichen erstmalig, vermeintliche Probleme scheinbar erfolgreich zu lösen, und zwar hundertprozentig und damit besser als allen anderen. Mit ihrem Nahrungsentzug erleben sie das erste Mal Erfolge durch selbstbestimmtes Handeln. In Bezug auf ihren Körper setzen sie ihren Willen durch, das zu erreichen, was sie unbedingt wollen und was anderen nicht so gut gelingt. Das haben sie sich für ihr Leistungs- und Sozialverhalten schon immer gewünscht, nur zufrieden waren sie mit den Ergebnissen bisher nie.
Alles in ihrem Leben verlief bisher schlechter als erwartet, eine Enttäuschung folgte der nächsten, auch wenn sie sich noch so bemühten. Das machte sie frustriert und hilflos. Dabei wollten und konnten sie von ihrem hohen Selbstanspruch nicht lassen und so begann für sie ein stiller Leidensweg, den niemand bemerken sollte. Denn das soziale Umfeld reagierte nur mit tröstenden Worten, die ihnen nicht halfen. Sie spürten immer wieder, dass sie nicht verstanden, ihre Fähigkeiten nicht bemerkt und sie von anderen eher gemieden wurden. Warum das so war, darauf fanden sie keine Antwort.

1.4 Ein neuer biologisch fundierter Ansatz

Die bisherigen Theorien zur vermeintlichen Ursache restriktiver Essstörungen sollten hinterfragt werden, da sie die jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse der neurobiologischen Forschung nicht berücksichtigen. Magersüchtige junge Frauen lehnen weder ihre Rolle als Frau noch Sexualität als solche ab und sie sind in den seltensten Fällen wirklich sexuell missbraucht worden. Vieles deutet darauf hin, dass sexueller Missbrauch und Essstörungen eine Folge der gleichen bio-psycho-sozial geprägten Grundstörung sind, die mit einer inneren Verunsicherung der Betroffenen und ihrer Unfähigkeit verbunden ist, s...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. 1 Essstörungen – eine Einführung
  7. 2 Die Bedeutung von Veranlagung, Erziehung und sozialem Umfeld für das Essverhalten
  8. 3 Die Magersucht (Anorexia nervosa)
  9. 4 Die Bulimie (Ess-Brech-Sucht)
  10. 5 Essanfälle, Esssucht und Übergewicht (Adipositas)
  11. 6 Das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (AD[H]S) – eine häufige Ursache vieler Essstörungen
  12. 7 Neue Therapiestrategien sind gefragt
  13. 8 Der Weg zur Hilfe führt über die Selbsthilfe
  14. 9 Essstörungen vorbeugen und verhindern – Wege einer wirkungsvollen Prävention
  15. Kontaktstellen für Menschen mit Essstörungen
  16. Befindlichkeits-Skala
  17. ANIS-Skala (modifiziert) zur Diagnostik und Verlaufskontrolle einer Magersucht
  18. 20 Tipps und Ratschläge, um Ihr Übergewicht zu verringern
  19. Literatur
  20. Sachwortverzeichnis