Neue Einblicke in die Geschichte der Textilindustrie
am Hochrhein
Ein Streifzug durch das Museumsarchiv der
BRENNET
von Dr. Reinhard Valenta, Wehr
1. Der Forschungstand: Hauptproblem Quellenmangel
Obwohl die fabrikmäßige Textilproduktion die Lokomotive der Industrialisierung unserer Region war, spielt sie in der gegenwärtigen Regionalgeschichtsschreibung nicht einmal eine Statistenrolle. Das erstaunt, brachten doch die Spinnereien, Webereien und Ausrüstungsbetriebe „Arbeit und Brot“ in die Region. Sie legten das Fundament, auf dem unser heutiges Leben in Wohlstand beruht. Leider gibt es keinen einzigen traditionellen Textilbetrieb mehr zwischen Lauchringen und Wehr. Die Erinnerungen an die Bedeutung dieser Branche schwinden aus dem Bewusstsein der Menschen wie die ehemaligen Fabrikationsstätten aus dem Landschaftsbild. An deren Stelle treten oft Neubauten ohne Bezug zum Vergangenen.
Am 30. April 2020 wurde - nach dem Ende der traditionsreichen Lauchringer Lauffenmühle im Jahr zuvor - mit Schließung der Wehrer Textilveredelung Dreiländereck (DLE) endgültig dieses große Kapitel im Buch der hochrheinischen Geschichte zugeschlagen. Der aus einer Hugenottenfamilie stammende Aarauer Unternehmersohn Friedrich Herosé hatte den Vorläuferbetrieb der DLE 1835 als Färberei an der Gemarkungsgrenze zwischen Wehr und Öflingen gegründet. Deshalb sprechen ältere Menschen im Wehratal immer noch von der „Herosé“. Die Erinnerung an eine bedeutende Epoche unserer Industrie klingt wenigstens im Namen nach.
Luftaufnahme der Lauffenmühle, die 2019 endgültig ihre Produktion einstellte.
Die alte Laufenmühle (um 1750)
Arbeiterwohnhaus der Lauffenmühle (1930)
Firmengründer Friedrich Herose (1803-1859)
Wappen der Familie Herosé aus Aarau
Auch wenn sie hochbetagt sein mögen, so vermitteln die Dissertationen von Gisela Müller, Leopold Döbele sowie der Murger Textilfabrikantentochter Liselotte Dedi - zumindest für die Zeit vor dem 2. Weltkrieg - einen guten Überblick über die imposante Zahl der im oberbadischen Textilrevier einst ansässigen Unternehmen (Anmerkung 1). Ins konkrete Detail (z.B. Produktionsvolumina, Umsätze, Gewinne, Gehälter und Löhne, Dividenden, Warenströme, maschinelle Ausrüstung und Innovationen, soziale Maßnahmen) gehen sie als Gesamtdarstellungen leider nur selten oder gar nicht.
Doch nur aus konkreten Fakten kann die wirkliche Bedeutung der Textilindustrie für unsere Region abgeleitet werden. Nur sie lassen erahnen, wieviel Geld in die Taschen der Unternehmer und Aktionäre, Belegschaften und Kommunen, der Handwerker, Dienstleister und Händler, ja sogar in die Klingelbeutel der Kirchen floss, Geld, das den Motor des Fortschritts und der gesellschaftlichen Entwicklung über anderthalb Jahrhunderte fast pausenlos antrieb.
Um nur einige Fragen beispielhaft zu stellen: Wer kaufte die Garne der Lauffenmühle und stellte daraus Stoffe her? Woher stammten die Webstühle der Mechanischen Buntweberei Brennet MBB? Wohin wurden ihre Buntgewebe abgesetzt? Wie und wo wurde die Baumwolle geordert? Wie hoch waren die Jahresbezüge eines Vorstandes, die Einkünfte aus Dividenden und Tantiemen eines Aktionärs? Wie viel verdiente ein Weber oder ein Angestellter? Welche Summen p.a. musste ein Textilfabrikant für Gehälter, Löhne und Sozialabgaben einkalkulieren? Woher bekamen die Firmen ihr Personal, das stets knapp war, und was unternahmen sie zu dessen Anwerbung und Bindung?
Leider sind flächendeckende Antworten bzw. Ansätze einer neuen Gesamtdarstellung derzeit, vielleicht aber auch für alle Zeiten, illusorisch. Viele der historischen Quellen sind ein für alle Mal versiegt oder so tief verschüttet, dass ihre Freilegung Jahre mühsamer Ausgrabungsarbeiten beanspruchen würde (Anmerkung 2). Pleiten und Konkurse führten zur Vernichtung wertvollen Aktenmaterials. Selten gelangte etwas in die öffentlichen Archive. Selbst ein exzellenter Kenner der hochrheinischen Textilindustrie, insbesondere des einstigen Zentrums Säckingen, wie der vor einigen Jahren pensionierte Bad Säckinger Stadtarchivar Peter Christian Müller, stieß bei seinen Versuchen einer Beschreibung der Textilindustrie der Trompeterstadt und ihres Umfeldes immer wieder an Grenzen (Anmerkung 3).
Natürlich finden sich in den Kommunalarchiven Bauakten oder vereinzelt auch Dokumente, die z.B. aus Streitfällen entstanden. Doch Umsatzzahlen, Angaben über Spinn- und Webmaschinen, Vorstandsgehälter oder Hinweise auf die weit gespannten, bereits im 19. Jahrhundert internationalen Vertriebsnetze und Warenströme wird man kaum finden. Auch in den einstigen Textilhochburgen Öflingen und Wehr ist es um die Archivbestände nicht besser bestellt. Baugenehmigungen, die Industriehistorikern natürlich wertvolle Hinweise liefern, en masse, vielleicht einmal eine Betriebsordnung, ein Schriftstück über einen Streik oder die Beschwerde eines Fischers über türkischrot gefärbtes Wehrawasser – dann ist aber auch schon das Ende der Fahnenstange erreicht. Anders sieht es in den Ortsarchiven von Murg, Laufenburg, Waldshut-Tiengen oder Lauchringen leider auch nicht aus.
In den staatlichen Archiven herrscht ebenfalls eine relative Ebbe. Natürlich gibt es Akten und eindrucksvolle Pläne zu Genehmigungsverfahren, die mit Wasserkraft, Dampf und Energie zusammenhängen. Aber Gehaltslisten von Vorständen, um das Problem plakativ zu überspitzen, wird man schwerlich in den Archiven Freiburgs, Karlsruhes oder Stuttgarts in die Hand bekommen. Auch das statistische Material, das bereits vom Großherzogtum und später vom Land Baden erhoben wurde, ist sicher wertvoll, leider jedoch in nur wenigen Ausnahmefällen zur Beantwortung der oben gestellten Fragen geeignet. Das ist die Regel. Viele Betriebe sind nun einmal spurlos von der Bildfläche verschwunden.
Erster Plan der MBB aus dem Jahr 1882 (Erhöhung der Dampfkraft)
Aber keine Regel ohne Ausnahme! Es gibt sie in unserer Region und sie ermöglicht eine exemplarische Darstellung der genannten Themenbereiche: Es handelt sich um die ehemalige Mechanische Buntweberei Brennet MBB, die spätere BRENNET AG.
Das Unternehmen befand sich seit seinen Anfängen 1881 (mit Görwihler Vorläuferbetrieb seit 1873) in Familienbesitz. Selbst nach Gründung einer AG 1888 mit Kapitalbeteiligung reicher Schopfheimer Spinnereibesitzer blieb die Aktienmehrheit sowie das operative Geschäft in den Händen der Familien Hipp, Denk und Schenz. Durch Heiraten zwischen den drei Gründerfamilien konzentrierte sich schließlich die Verfügungsgewalt über die Firma in der Unternehmerfamilie Denk. Sie hielt bis zum Ende der Gewebeproduktion 2013 das international bedeutende Unternehmen in geordneten Bahnen. Das historische Bewusstsein und die Verbundenheit der Besitzer (vor allem des letzten Vorstandsvorsitzenden Stephan Denk) mit den heimischen Standortorten waren und sind Garant für die Bewahrung einer in der Region und weit darüber hinaus einzigartigen Fülle archivalischen Materials.
Postkarte mit MBB – vermutlich von Adlerwirt Sigismund Thomann (um 1895), die MBB wurde irrtümlich als Bundesweberei bezeichnet.
Stephan Denk umschiffte mit unglaublicher Tatkraft in der Globalisierungskrise die Klippen einer Insolvenz, sorgte - im Gegensatz zu vielen anderen Unternehmen der Branche - mit Sozialplänen und a...