Kapitel 1
Die Römer wollen das Land -
und müssen sich bescheiden
ca. 50 v. Chr. – 100 n. Chr.
Dieses Buch will erzählen, was in Deutschland an Wichtigem in den acht Jahrhunderten nach der Zeitenwende stattfand. Doch zuvor ist es nützlich, einen ganz kurzen Blick auf die Jahrtausende zu werfen, die davor lagen und in denen es schon Menschen in diesem Gebiet gab
Denn anders als in anderen Erdgegenden hatte das Eis der letzten Eiszeit, das zuvor lange ganz Norddeutschland in riesigen Gletschern überdeckt hatte, erst vor relativ kurzer Zeit zu schmelzen begonnen und hatte sich nach Nord-Skandinavien zurückgezogen (spätestens ab 13 000 v. Chr.). Ungeheure Wälder hatten sich in dem vom Eis freigegebenen Gebiet gebildet, aber es war noch immer nass, voller Seen und Sümpfe. Ähnliches galt für das Alpenvorland in Südbayern, wo auch die Alpengletscher zu einem großen Teil verschwunden waren. Mammuts und Rentiere gab es hier nicht mehr, dafür Hirsche, Wildschweine, Steinböcke, Wölfe und Bären.
Und natürlich Menschen. Ganz wenige Jäger und Sammler hatten noch während der Eiszeit in den eisfreien Gebieten im mittleren Deutschland Mammuts gejagt, die aber eben immer weiter nach Norden abzogen, so wie das Eis schmolz. Einige kleine Menschengruppen waren dieser Art Jagdbeute immer weiter nach Norden gefolgt, bis ins nördliche Skandinavien. Von ihnen stammen die Sami ab, die man auch Lappen nannte.
Ganz wenige der Eiszeitjäger blieben im Lande und mussten sich auf eine neue Landschaft einstellen, auf Wälder, Moore, Flüsse und neues Jagdwild. Doch sie blieben nicht lange allein. In mehreren Schüben im Abstand von einigen tausend Jahren kamen Menschen in Mitteleuropa an, die zuvor in Kleinasien, im nördlichen Teil der Balkanhalbinsel und nördlich des Schwarzen Meeres gelebt hatten, dort, wo es auch während der Eiszeit kein Eis gegeben hatte. Langsam nach Norden vordringend, siedelten sie sich hier in kleinen Dörfern an, denn diese Menschen waren keine Jäger und Sammler mehr, sondern Ackerbauern (und Kleintierzüchter).
Irgendwann erreichten Gruppen dieser Einwanderer auch die Küsten der Nordsee und der Ostsee und konnten sich jenseits des Meeres in Südskandinavien (Dänemark, Südschweden, Südnorwegen) festsetzen. Hier wurden sie oder Teile davon zu geschickten Hochseefischern, die mit ihren Ruderbooten Jagd auf Robben und Meeresfische machten.
Immer wieder kamen neue Gruppen von Menschen aus Südosteuropa und brachten neue Künste mit, z. B. das Gewinnen und Verarbeiten von Kupfer, später auch das Vermischen von Kupfer und Zinn zur haltbaren Bronze.
Es war nach dieser Eiszeit wieder recht warm geworden in Europa und in Deutschland. Vor 5000 - 3000 Jahren herrschte in Mitteleuropa ein Klima wie heute rund um das Mittelmeer. In der sogenannten Bronzezeit – in eben jener Epoche – war es angenehm, hier zu leben, und selbst weit entfernt von einander wohnende Menschengruppen erfuhren Neues durch die Händler, die mit ihren Ochsenkarren oder auf Schiffen quer über das Mittelmeer und den Atlantik nun weite Wege zurücklegten, um ihre inzwischen vielfältigen Waren gewinnbringend abzusetzen.
Dumme „Steinzeittypen“ waren die Menschen hierzulande damals ganz gewiss nicht mehr. Etwa zur gleichen Zeit, als in Britannien die Menschen die berühmte Anlage von Stonehenge (in ihrer letzten Phase, etwa um 2800 v. Chr.) bauten, legten etwa in Westfalen die Menschen eine riesige Karte des Sternenhimmels auf vielen tausend Quadratkilometern an, indem sie die Punkte am Himmel mit großen Steinmalen maßstabgerecht abbildeten. Die einzelnen Punkte blieben seitdem in der Erinnerung der dort lebenden Menschen so eindrucksvoll „heilig“, dass noch mehr als 3500 Jahre später die ersten christlichen Kirchen exakt am Ort diese Steinmale gebaut werden konnten 1.
Wieder etwas später kamen neue kleine Menschengruppen von Osten nach Mitteleuropa, diesmal auf der Flucht vor Hitze- und Trockenperioden in ihrer Heimat nördlich des Schwarzen Meeres. Es waren keine Eroberer, dafür waren sie viel zu wenig, aber sie brachten es fertig, den Menschen in Ost- und Mitteleuropa, zwischen denen sie sich niederließen, in wenigen Generationen klarzumachen, dass sie die Herren waren und dass ihre neuen Untergebenen sich nach ihrer Sprache zu richten hatten. Dies war der Beginn der Verbreitung von indeoeuropäischen Sprachen in Europa, denn die Neuankömmlinge brachten eine noch ziemlich einheitliche Sprache von ihren alten Wohnsitzen beiderseits der unteren Wolga mit 2. Das geschah um etwa 2000 v. Chr. In wenigen Jahrhunderten sprachen die Menschen in Ost- und Mitteleuropa ein Idiom, das die Sprachwissenschaftler „Alteuropäisch“ nennen, doch entstanden schnell verschiedene Dialekte und bald auch eigene Sprachen daraus.
In der Mitte des letzten Jahrtausends v. Chr., also etwa um das Jahr 500, lebten in heutigen Deutschland im Wesentlichen drei unterscheidbare Gruppen von Menschen. Im Süden waren es Kelten, einem Volk mit eigener Sprache, die sich in der langen Zeit aus dem Ur-Indoeuropäischen weiter entwickelt hatte. Diese Kelten waren durchaus ein Kulturvolk; da sie aber offenbar bewusst nichts Schriftliches über ihre Städte, ihre Geschichte und ihre wissenschaftlichen Leistungen von sich gegeben haben, weiß man nur wenig über sie. Damals, also in der Mitte des 1. Jahrtausends v. Chr., waren sie in halb Europa ansässig, von Frankreich über Süddeutschland, Österreich und große Teile der Balkanhalbinsel – lange vor den Römern. Allerdings haben die vielen verschiedenen keltischen Stämme nie so etwas wie ein Zusammengehörigkeitsgefühl gehabt oder nach großflächiger Herrschaft gestrebt. In der Beziehung waren sie ganz anders als die Römer, die ihnen als „Herren Europas“ folgen sollten.
Ganz im Norden Deutschlands, an der Nord- und Ostseeküste, vor allem aber auch in Dänemark, Schleswig-Holstein, Südschweden und Südnorwegen, lebten Menschen, denen die Archäologen den Namen „nordische Kultur“ gegeben haben. Sie waren die Nachkommen der Menschen, die schon Jahrtausende vorher diese Gegenden besiedelt hatten. Wahrscheinlich war ihre Sprache auch schon eine Frühform des Germanischen, aus dem Alteuropäischen weiter entwickelt, aber mit vielen Worten, die nicht aus dieser „Ursprache“ stammen können.
Zwischen beiden, den Kelten im Süden und den Früh-Germanen im Norden, muss es in Deutschland noch eine dritte Bevölkerungsgruppe gegeben habe, die wohl damals eben keine der beiden Sprachen benutzte, sondern ein anderes Idiom, aber ebenfalls indoeuropäischer Abstammung. Es waren offenbar wehrhafte, aber zäh an ihrem Boden festhaltende Bauern, die – in mehrere Stämme geteilt – zwischen dem südlichen Holland und der Aller quer durch das heutige Nordwestdeutschland siedelten. Drei deutsche Professoren aus verschiedenen Fachwissenschaften haben in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts diese Menschengruppe „Nordwestblock“ getauft 3 . Doch hat der Großteil der deutschen Historiker, Sprachwissenschaftler und Archäologen lieber keine Kenntnis davon genommen, weil einige Kollegen die Thesen der drei Wissenschafter heftig kritisiert hatten.
Zwei Ereignisse aus der Zeit vor Christi Geburt müssen noch erwähnt werden, weil sie auch danach noch für Menschen im heutigen Deutschland von Bedeutung waren. Das eine war eine deutliche Klimaverschlechterung ab der Mitte des letzten vorchristlichen Jahrtausends. Zuvor hatte sich zwar schon lange die Warmzeit (das sogenannte „Atlantikum“) in ein normales, „mitteleuropäisches“ Klima verändert. Aber nun wurde es für lange Zeit deutlich kühler und regnerischer, wenigstens im nördlichen Mitteleuropa. Das hatte Notzeiten vor allem für die Germanen im Norden und die „Nordwestleute“ in Deutschland zur Folge, schlechte Ernten, Hunger und auch das Abreißen von früher recht lebhaften Verbindungen zu den Völkern weiter im Süden. Allerdings wurden die Menschen dort – für lange Zeit ungestört von Einflüssen von außen – auch so hart, so kräftig und so rücksichtslos, wie sie ein paar Jahrhunderte später in der sogenannten „Germanischen Völkerwanderung“ zutage traten.
Das zweite Ereignis hatte seinen Ursprung weit weg, in den riesigen Steppen Südrusslands und Kasachstans. Die dort lebenden Viehhirten, Menschen mit indoeuropäischer Sprache, den alten Persern verwandt, hatten die bei ihnen in großen Herden lebenden Wildpferde längst gefangen, gezähmt und als Zugtiere für Wagen entdeckt. Im letzten Jahrtausend v. Chr. hatten sie auch gelernt, auf diesen Pferde zu reiten. Das machte sie allen Bauern überlegen und zugleich auf ihre neue Stärke stolz und angriffslustig.
Zwischen etwa 800 und 500 v. Chr. zogen Scharen berittener Kimmerier und später Skythen von dort immer wieder in die reichen Gegenden Babyloniens, Kleinasiens, ja bis nach Ägypten, um dort zu plündern. Das hat die Geschichte dieser Gegenden für Jahrhunderte stark beeinflusst. Um das Jahr 500 v. Chr. kamen auch Scharen der Skythen über den Balkan und Ungarn bis nach Deutschland, zu demselben Zweck. Man hat Waffenreste und andere Hinterlassenschaften in verschiedenen Gegenden unseres Landes gefunden.
Im Allgemeinen sind diese Überfälle nur kurzzeitige Episoden geblieben und haben keine langfristigen Folgen im überfallenen Land hinterlassen. Es scheint aber auch Ausnahmen gegeben zu haben, dass nämlich kleine Gruppen dieser fremden Reiter sich einfach hier niederließen und danach recht friedlich unter der einheimischen Bevölkerung ihre Gene in ungezählten Generationen weiter vererbten.
Ob das auch anderswo geschehen ist, muss im Augenblick offen bleiben. Aber für eine bestimmte Gegend Westfalens, das westliche Sauerland, hat ein Heimatforscher und Genealoge festgestellt, dass dort offenbar seit zweieinhalb Jahrtausenden Menschen leben, die die typischen schwarzen Haare der einstigen Steppenkrieger aus dem Volk der Skythen und wohl auch andere genetische Eigenschaften bis in die Gegenwart vererbt haben. Zur Zeit des Römers Caesar bildeten sie offenbar einen wichtigen Teil des angeblichen „Germanen“-Stammes der Sigambrer. Im 4. Kapitel dieses Buches wird diese „Erbschaft“ noch einmal eine wichtige historische Rolle spielen.
* * *
Dieses Buch will ja die frühe Geschichte Deutschlands von den ersten Kontakten mit den Römern an erzählen und dabei viele bisher oft falsch verstandene Annahmen richtig stellen. Das muss beginnen bei dem römischen Feldherrn und Politiker Caesar. Doch bevor auf seine Feldzüge und kurzen Abstecher über den Rhein eingegangen werden kann, muss noch eine Art von Gesamtblick auf das Land damals geworfen werden, um das es hier geht.
Die Bundesrepublik Deutschland von heute umfasst etwa 360 000 Quadratkilometer, und auf dieser Fläche leben mehr als 83 Millionen Menschen, 232 pro Quadratkilometer. Doch damals, kurz vor der Zeitwende, waren es vielleicht nur etwa 1 – 2 Millionen Menschen, 3 – 4 pro Quadratkilometer. Die riesigen Wälder, die einst nach dem Ende der Eiszeit hier gewachsen waren, konnten von den kleinen Gruppen von Bauern nur an wenigen Stellen gerodet und in Ackerland verwandelt werden. Weite Regionen, vor allem im Norden Deutschlands, waren noch bedeckt von großen und kleinen Seen und vor allem Sümpfen, die sich für eine Ansiedung nicht eigneten. Alle paar Dutzend Kilometer gab es eine kleine Ansiedlung, ein Dorf von 8 – 10 Häusern und Ställen, mit einigen frei gerodeten Feldern ringsum. Dazwischen nur Wald oder Moor, durch das nur wenige Trampelpfade führten. Diese Menschenleere muss man sich vor Augen führen, wenn man die frühe Geschichte unseres Landes verstehen will.
In der Mitte des letzten Jahrhunderts vor Christi Geburt machte in der Stadt Rom ein angesehener Politiker und Feldherr von sich reden: Gaius Julius Caesar. Die einst kleine Stadt Rom hatte in den gut 300 Jahren zuvor nicht nur ganz Italien, Spanien, die Balkanhalbinsel, Griechenland, Kleinasien und weite Gebiete im Nahen Osten erobert, sondern auch Ägypten und die Küste Nordafrikas. Vom heutigen Frankreich – die Römer nannten es Gallien – gehörte schon das Gebiet an der Mittelmeerküste dem römischen Staat an. Der bisher schon sehr erfolgreiche römische General Caesar hatte sich vorgenommen, auch den Rest Galliens zu unterwerfen, Er wollte damit die Schande auslöschen, dass einst vor über dreihundert Jahren ein Haufen von Kelten (von den Römern Gallier genannt) für kurze Zeit Rom erobert hatte.
In einem zehnjährigen erbitterten Krieg gelang es Caesar, einen gallischen (keltischen) Stamm nach dem anderen im heutigen Frankreich zu besiegen und zu unterwerfen. Er dürfte gewusst haben, dass Kelten (nach seiner Ausdrucksweise Gallier) auch östlich des Rheins lebten, durch das ganze Süddeutschland und Österreich bis ins heutige Ungarn. Jedoch auch diese Gebiete zu erobern, schien ihm wohl noch utopisch. Stattdessen wusste er, dass der Rhein, von Süden nach Norden fließend, eine gute und auch einigermaßen leicht zu verteidigende Grenze sein konnte.
In seinem Kriegsbericht „De bello Gallico“ (noch heute muss jeder Lateinschüler Stücke davon lesen und übersetzen lernen) hat er seinen Römern und auch noch der Wissenschaft bis in die Neuzeit weisgemacht, links des Rheins – also westlich – hätten die Gallier gewohnt, und östlich die „barbarischen Germanen“. Um die zu züchtigen – Caesar hatte schon zu Beginn seines Gallien-Feldzuges eine große Schlacht mit Germanen ausfechten müssen 4 – hatte er mit einem Teil seiner Truppen kleine Ausflüge über den Rhein gemacht und die dort lebenden Germanen natürlich „glorreich besiegt“. Er hatte sogar von seinen Soldaten eine Holzbrücke über den Rhein bauen lassen, bei Unkel südlich von Bonn. Die Reste dieser Brücke werden im 4. Kapitel dieses Buches noch eine wichtige Rolle spielen.
Der Rest des Lebens Caesars ist Geschichtskundigen bekannt: nach seinen Erfolgen in Gallien errang er in Rom die Alleinherrschaft, wurde aber eben deswegen ermordet (44 v. Chr.). Die Folge war ein lange dauernder Bürgerkrieg, den schließlich Caesars Großneffe Octavian für sich entschied. Von 31 v. Chr. – 14 n. Chr. war er unter dem Namen Augustus Alleinherrscher im Römischen Reich. Im Inneren herrschte in dieser Zeit Frieden, aber nach außen war Rom weiter so aggressiv wie zuvor.
Es scheint zu den Hauptzielen der römischen Politik in den Jahrhunderten zuvor gehört zu haben, alle paar Jahre eine neue Region rund um das Mittelmeer zu erobern: teils des Prestiges wegen, teils aus wirtschaftlichen Gründen: Jede neue Provinz konnte wichtige Rohstoffe oder Waren liefern, vor allem aber auch Sklaven, die dann kostenlose Arbeitskräfte für die reiche Oberschicht Roms stellten. Zu Augustus Zeiten waren praktisch bereits alle Länder rund um das Mittelmeer in römischer Hand, nun musste es im Norden Europas weiter gehen.
Ab dem Jahr 15 v. Chr. führte der Stiefsohn des Augustus, Drusus, teilweise zusammen mit seinem Bruder Tiberius, Feldzüge am Nordrand der Alpen. Dabei gelang es ihm, das ganze Gebiet zwischen den Alpen und der Donau zu erobern: die heutige Schweiz, Südbayern, Österreich bis zur Donau, große Teile des heutigen Ungarn. Fünf neue Provinzen konnte das Römische Reich dort einrichten: Raetia (im wesentlichen die Schweiz und Südbayern), Noricum (Österreich südlich der Donau), Pannonia (Ungarn südlich und westlich der Donau ) , Moesia und Illyrica. Wieder war der wirtschaftliche Gewinn groß. Diese Gebiete hatten zwar nicht sehr viele Einwohner, aber sie waren reich an Bodenschätzen und konnten landwirtschaftliche Erzeugnisse liefern.
Augustus hatte sicher keine maßstabgerechte Landkarte von Europa, aber doch eine einigermaßen zutreffende Vorstellung, dass zwischen den bisher eroberten Regionen westlich des Rheins und südlich der Donau (etwa bis zum heutigen Passau) ein riesiges Dreieck von noch nicht erobertem Land lag: die sogenannte „Germania libera“.
Um dieses Land zu erobern, waren a...