Thorsten Krüger, Geestland
Cola Zero Schulden
Tausende Kommunen in Deutschland sind hoch verschuldet, waren es auch vor der Corona-Krise schon. Thorsten Krüger ist Bürgermeister von Geestland an der Nordsee und hat einen Ausweg gefunden. Kann der auch anderswo funktionieren?
Als Thorsten Krüger 2005 sein Amt als Bürgermeister antrat, waren die Ritzen in den Fenstern im Rathaus so groß, dass er und seine Kollegen sie mit Handtüchern abdichten mussten. Krüger erzählt das ganz nüchtern, gar nicht dramatisch, obwohl es manchmal ganz schön stürmen kann um so ein Rathaus an der Nordseeküste. Aber, sagt Krüger, „es konnte ja nicht sein, dass in den Kindergärten der Putz bröckelt und wir bauen im Rathaus neue Fenster ein.“
Heute sind alle Kindergärten und Schulen saniert, auch das Rathaus hat neue Fenster und Krüger denkt darüber nach, wie er einen BMX-Sport-Verein in die Stadt locken kann und will eine Akademie für nachhaltiges Wirtschaften gründen. Krüger hat Geestland aus den Schulden geführt und wirbt nun damit, dass in seiner Stadt gegen den Trend an der Nordsee der Anteil junger Menschen in der Bevölkerung steigt.
Wie hat er das geschafft? Und kann das, was ihm gelungen ist, auch anderswo gelingen?
Kapitel Eins: die Ausgangslage
Herr Krüger, wie war die Situation bei Ihrem Amtsantritt?
Als ich 2005 Bürgermeister geworden bin, waren wir noch nicht zu Geestland fusioniert, die Stadt hieß noch Langen. Die Handlungsfähigkeit war damals stark eingeschränkt. Wenn eine Bank ausgetauscht werden sollte, mussten wir ewig diskutieren, weil kein Geld da war. Wir konnten den Auftrag einer Kommune nicht mehr ordentlich erfüllen und mussten uns auf das absolute Minimum begrenzen. So kann sich eine Kommune nicht entwickeln.
Wie sah das in Zahlen aus?
Als wir um 2011 herum die Fusion zwischen Langen und der Samtgemeinde Bederkesa in der Nachbarschaft begonnen haben, hatten beide zusammen 60 Millionen Euro Schulden. Außerdem hatten wir einen Sanierungsstau in noch einmal derselben Höhe. Das war der höchste Schuldenstand in der Geschichte der Stadt.
Woher kamen die Schulden?
Viele sagen, ja, ihr habt Altschulden, weil ihr früher Fehler gemacht habt. Das sehe ich nicht so. Die Schulden sind entstanden in einer Phase, in der es Deutschland nicht gut ging. Die Arbeitslosigkeit stieg, die Kommunen mussten viele Sozialleistungen zahlen. Gerade in der wirtschaftlich schlechteren Zeit sind neue Aufgaben für die Kommunen hinzugekommen. Dafür gibt es natürlich auch Geld und ich glaube auch, dass genügend Geld da ist im Land, es ist nur schlecht verteilt. Über uns Kommunen steht noch der Bund, das Land und der Landkreis. Wenn es dann einmal Geld gibt, greift jeder mal in die Schatulle und unten kommt wenig an. Aber komischerweise: Die Arbeit fällt durch.
Wie meinen Sie das genau?
Das war zum Beispiel so, als der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz für unter Dreijährige beschlossen worden ist. Die Gelder, die es dafür gegeben hat, sind an das Land gegangen und wurden dann verteilt. Für die Administration haben Land und Landkreis einen Teil behalten – aber wir müssen die Krippen bauen und wir müssen sie mit Personal bestücken. Wenn man diese Struktur in der Mitte verschlanken würde, würde das Geld sparen.
Also hat die Stadt selbst gar keine Fehler gemacht?
Klar, man hätte das eine oder andere in der Vergangenheit auch einfach nicht machen können. Manche freiwillige Leistung kann man sich als Kommune natürlich sparen – man hätte etwa kein Vereinsheim bauen müssen. Ich finde aber, das ist eine wichtige Leistung für die Bürger. Wir müssen hier vor Ort eine Erlebniswelt stellen, die dafür sorgt, dass die Menschen hier bleiben. Wenn wir nicht in unsere Infrastruktur investieren, dann werden uns die Leute verlassen – und dann haben wir noch weniger Einnahmen, können uns noch weniger leisten, geraten in einen Teufelskreislauf. Ich finde, dass wir einen gewissen Standard halten müssen. Wir müssen nicht in einer Wahnsinns-Komfortwelt leben, aber wir müssen uns einfach um unsere Aufgaben vernünftig kümmern können.
Eigentlich geht es den Städten und Gemeinden in Deutschland gut – so war es bis zur Corona-Krise, und wie genau es anders wird, ist noch nicht abzusehen. Alle deutschen Kommunen zusammen haben seit 2012 Überschüsse erzielt, 2017 und 2018 waren diese historisch hoch. Auch die Summe der problematischen Kassenkredite in deutschen Kommunen, die eigentlich nur der kurzfristigen Überbrückung von Engpässen dienen sollen und die seit jeher ein Indiz für kommunale Finanzprobleme sind, sinkt seit 2015 stetig.
Grund für das alles ist die jahrelang gute wirtschaftliche Lage. In den Gemeinden im Süden und Südwesten Deutschlands sah das mindestens nach der weltweiten Finanzkrise dann so aus: Die Gewerbeeinnahmen sprudeln, die Bevölkerung ist vergleichsweise reich, die Rathäuser können investieren.
Viele Gemeinden im Saarland, in Rheinland-Pfalz und in Nordrhein-Westfalen scheinen dagegen in einem ganz anderen Deutschland zu liegen. Das war auch schon in den Vor-Corona-Zeiten so. Denn in diesen Bundesländern liegt die Mehrzahl der Städte und Dörfer, die bis heute unter der Schuldenlast ächzen. Und diesen Gemeinden geht es nicht nur ein bisschen schlechter als den anderen – es geht ihnen sehr viel schlechter: Während die Kommunen in Bayern, Baden-Württemberg, Sachsen und Thüringen quasi schuldenfrei sind, die Pro-Kopf-Verschuldung mit den problematischen Kassenkrediten in diesen Ländern im zweistelligen Bereich liegt, ist sie im Saarland mit mehr als 2.000 Euro am höchsten.
Und dann gibt es noch Niedersachsen, das Bundesland, in dem Thorsten Krüger Bürgermeister von Geestland ist. In dem Land wurde die Pro-Kopf-Verschuldung mit Kassenkrediten von mehr als 500 Euro im Jahr 2007 auf 255 Euro 2017 gesenkt. In dem Land liegen dem aktuellen Finanzreport der Bertelsmann Stiftung zufolge aber auch gesunde und kriselnde Kommunen sehr dicht beieinander, ist der Unterschied zwischen ihnen besonders groß. Man könnte sagen, was sich in ganz Deutschland abspielt, zeigt sich in Niedersachsen wie unter einem Brennglas: Arme und reichen Kommunen driften in Deutschland immer weiter auseinander.
Kapitel Zwei: der Zukunftsvertrag
Bei Ihnen in der Stadt sah es also richtig mies aus. Was haben Sie dann gemacht?
Ich betone das immer wieder: Das war keine Leistung eines Einzelnen. Ich darf Gott sei Dank dabei sein, aber das ist eine Mannschaft, die dahintersteht.
Aber Sie führen die Mannschaft an.
Nach meinem Amtsantritt habe ich mir erst einmal ein halbes Jahr angeguckt, wie die Abläufe hier sind. Dann habe ich mir eine Raufasertapete gekauft und auf dem Flur ausgerollt. Darauf habe ich einen Plan geschrieben, wie ich vorhabe, die Stadt umzugestalten. Ich habe wochenlang am Wochenende im Rathaus gesessen und meiner großen Sucht gefrönt: Alle fünf Meter habe ich eine Flasche Cola Zero – Gott sei Dank ist es Zero – neben die Tapete gestellt und mich langsam vorgearbeitet. Als die Tapete voll war, habe ich sie in kleine Teile geschnitten und in meinem Büro aufgehängt. Den Plan habe ich den Kollegen dann auf einer Klausurtagung vorgestellt und gefragt: Spinn ich oder spinn ich nicht?
Und was war die Antwort?
Wir haben den Plan dann gemeinsam überarbeitet, die Politik ins Boot geholt und die Öffentlichkeit informiert. Als Belohnung hab´ ich dann erstmal einen Artikel bekommen, der mich als Sternthaler-Mädchen vorm Rathaus darstellte, so nach dem Motto: ‚Krüger will 10,6 Millionen vom Land, dann gehts besser‘. Das war am 24. September 2008. Und am 23. September 2010 habe ich dann 10,5 Millionen vom Land überweisen bekommen. Das war der erste Zukunftsvertrag, den wir gemacht haben mit dem Land, damals noch für die Stadt Langen.
Zukunftsvertrag, das müssen Sie erklären.
Das Prinzip ist, dass das Land 75 Prozent unserer Altschulden ablöst. Wir verpflichten uns, die restlichen 25 Prozent draufzulegen, keine neuen Schulden zu machen und alles, was wir über haben, in den Abbau der investiven Kredite zu stecken. Die hatten ja damals teilweise gar keinen Gegenwert mehr.
Warum wurden Sie dafür öffentlich kritisiert?
Weil viele Leute in ihren Strukturen gefangen waren und gesagt haben, die bekommen sowieso kein Geld. Das gab es früher nicht, dass die Kommunen sich über ihre Stadtgrenzen hinaus irgendwo beteiligt haben. Wir hatten also viele Widerstände und viele haben uns ein bisschen belustigt angeguckt. Wir haben das aber durchgezogen. Wie wir dann vom Ministerium den ersten Scheck bekommen hatten und am Buffett saßen, um das zu feiern, kamen dann schon die ersten, die das immer kritisiert haben, und meinten: ‚Ham wir das nicht toll gemacht?‘ Da hab‘ ich gesagt: ‚Ja, haben wir gut gemacht.‘ Mir ist egal, wann die Leute auf den Zug springen. Ich habe vom ersten Tag an vom Wir gesprochen. Auf dieser Veranstaltung ist dann die Samtgemeinde Bederkesa mit dem Ministerium an uns herangetreten und hat gesagt: Könnt ihr nicht mal überlegen, Bederkesa hat auch keine Handlungsfähigkeit mehr, ob ihr nicht zusammengeht.
Und das haben Sie dann gemacht.
Wir haben uns erst einmal sechs Monate Arbeitszeit ausgebeten, um zu schauen, ob das sinnhaft ist. Dann haben wir ein Team gebildet aus der Samtgemeinde Bederkesa und der Stadt Langen, 36 Leute. Kein Regierungsberater, nichts, sondern Leute, die jeden Tag damit zu tun haben, wie es bei uns aussieht, im Bürgerbüro etwa. Nach den sechs Monaten haben wir gesagt: Wenn wir das wollen, schaffen wir das. Wir haben dann mehr als 100 Infoveranstaltungen gemacht und überall Rede und Antwort gestanden. Und am Ende haben 96 Prozent der Kommunalpolitikerinnen der Fusion und dem weiteren Zukunftsvertrag zugestimmt. Das ist eine Quote, da kann man schon von demokratischem Mehrheitsbeschluss reden.
Ist das also die Lösung – Altschuldenablösung und Fusionierungen?
Nicht allein. Wir haben uns 2008 ein Verschuldungsverbot gegeben, was in der Bundesrepublik Deutschland erst 2013 eingeführt worden ist. Wir haben 2008 festgelegt, wie wir nachhaltig wirtschaften und arbeiten wollen – was ja erst seit 2015 so richtig in Deutschland diskutiert wird.
Das, was Krüger und sein Team gemacht haben, ist nicht nur für Geestland wichtig. Es ist, wenn man so will, eine Aufgabe von Verfassungsrang. Artikel 72 des Grundgesetzes fordert, dass der Bund dafür zu sorgen hat, dass überall in Deutschland gleichwertige Lebensverhältnisse herrschen.
Nur: Wenn sich arme und reiche Kommunen immer weiter voneinander entfernen, dann ist dieser Anspruch quasi nicht zu erreichen. Dann hängt die Lebensqualität der Menschen immer stärker davon ab, wo sie wohnen. Wo jemand lebt, entscheidet inzwischen wesentlich darüber mit, wie sehr er an der Gesellschaft teilhaben kann, wie groß seine Aufstiegschancen sind.
Um dem entgegenzuwirken, hatte die Bundesregierung 2018 eine Kommission eingesetzt, die die Ursachen für die ungleichen Lebensverhältnisse untersuchen und überlegen sollte, was dagegen helfen könnte. Die Empfehlungen des Gremiums gibt es inzwischen, und im Prinzip können sie auf den Satz zusammenschrumpfen: Wir müssen alles besser machen, bei der Strukturpolitik, der Digitalisierung, bei der Förderung des Ehrenamts und beim Wohnraum.
Was aber würde Städten wie Gelsenkirchen oder Frankfurt an der Oder schnell helfen, die selbst in wirtschaftlich guten Zeiten nicht wissen, wie sie ihre kommunalen Aufgaben erfülle...