II. Sachinformationen
Die im ersten Kapitel beschriebenen emotionalen Reaktionen auf festgestellte oder empfundene Missstände der gesellschaftlichen Situation in westlichen Ländern sind wertvolle Hinweise für die Gestaltung persönlicher und gesellschaftlicher Entwicklung sowie unerlässliche Motoren, um sich an dieser Entwicklung zu beteiligen. Angst, Wut und Behauptungen verzerren aber oft die Suche nach objektiven Informationen, ohne die kaum hilfreiche Lösungsansätze persönlicher oder gesellschaftlicher Probleme gefunden werden können. Deshalb werden in diesem Kapitel einige solcher Sachinformationen zu jedem der erwähnten Problemfelder unterbreitet.
Wegen der Vielzahl und Komplexität dieser Themen ist es jedoch kaum möglich, mit naturgemäß eingeschränktem Sachverstand (der Autor versteht von einigen Problemfeldern einiges und von manchen kaum etwas) in überschaubarer Zeit die Wissensbestände zu allen Komplexen auf dem neuesten Stand zu präsentieren. Wie wir aktuell beim Thema Corona gesehen haben, entwickelt auch die Wissenschaft fortlaufend neue und komplexere Erkenntnisse und revidiert frühere Thesen. Deshalb werden die Leser*innen, die einigen Zahlen oder Erklärungen in den folgenden Ausführungen nicht trauen, ermutigt, selbst nach anderen Sachinformationen oder Sichtweisen zu suchen. Als Merkhilfe werden zum Ende jeder der nun folgenden Detailinformationen zwei Icons platziert, die Ihnen ermöglichen, selbst anzumerken, ob Sie die vermittelte Information als größtenteils glaubwürdig erachten oder meinen, sie müsste überprüft werden.
Zum besseren Verständnis dieses besonderen Umgangs mit der Korrektheit von Informationen dient das Kapitel „Wie dieses Buch entstanden ist“ im Anhang dieses Buches.
Ängste, Ärger, Wut
Info zu 1: Flüchtlinge in Europa
Über 250 Millionen Menschen leben weltweit als Flüchtlinge in einem fremden Land oder Landesteil. Seit dem Jahr 2000 ist die Zahl der Migrant*innen um 85 Millionen gestiegen. Es sind Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlinge. Wobei „Wirtschaftsflüchtlinge“ das falsche Wort ist, denn sie flüchten nicht vor ihrer Wirtschaft, sondern vor miserablen Lebensbedingungen, weil in ihrem Land die Wirtschaft meist wegen Despotismus und massiver Korruption zusammengebrochen ist. Wenn wir die Menschenrechte ernst nehmen wollen, müssen wir diese Flüchtlinge an unserem Wohlstand teilhaben lassen; schließlich beruht unser Reichtum zu einem guten Teil auf unserer Ausbeutung der Bodenschätze ihrer Heimatländer. Selbstverständlich ist dies für die Aufnahmeländer eine große Herausforderung, besonders seit der europäischen Flüchtlingskrise von 2015. In den Jahren 2014–2017 wurden in Europa fast vier Millionen Asylanträge gestellt, 1,6 Millionen allein in Deutschland. Allerdings muss diese Belastung im zeitlichen Verlauf relativiert werden. In Deutschland sank die hohe Zahl von 746.000 Asylbewerber*innen im Jahr 2016 im folgenden Jahr auf 222.000 und 2019 auf 166.000. Sie war damit nicht mehr viel höher als die durchschnittliche Zahl der Asylanträge in den 20 Jahren vor der Krise (Abb. 1).
Abb. 1: Asylantragszahlen 1990 – 2019 in Deutschland
[Quellen für diese und die weiteren Abbildungen finden Sie im Anhang.]
Wenn man großzügig annimmt, dass in den kommenden Jahren durchschnittlich 300.000 Asylanträge gestellt und 80 % davon positiv entschieden werden, würde die Bevölkerung in Deutschland mit seinen 83 Millionen Einwohner*innen jährlich um nur 0,3 % wachsen. Diese Entwicklung würde das Land, das seit jeher auch von der Kreativität der aus anderen Kulturen stammenden Menschen profitiert hat, nicht nur ertragen, sondern für die Zukunft ertüchtigen. Weiter muss die Belastung eines Landes durch die Aufnahme von Flüchtlingen auch relativiert betrachtet werden. In der Türkei mit ihren 82 Millionen Einwohner*innen leben zurzeit 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge (also 4,4 % der Gesamtbevölkerung) und im Libanon mit seinen sechs Millionen Einwohner*innen sind es etwa 980.000 syrische und 310.000 palästinensische Flüchtlinge (22 % der Gesamtbevölkerung).
Vordringlich muss jedoch eine speziell europäische schwerste systematische Menschenrechtsverletzung an Flüchtlingen gestoppt werden: Das bewusste Sterbenlassen von ertrinkenden Flüchtlingen im Mittelmeer.
Das glaube ich größtenteilsüberprüfen! Info zu 2: Europäischer Multikulturalismus
In einigen Stadtteilen Deutschlands kann der Eindruck entstehen, die deutschen Eingeborenen seien schon heute gegenüber der großen Anzahl an Menschen aus anderen Kulturen in der Minderheit. Doch dies entspricht keineswegs der nationalen Realität. Zwar umfasst die ausländische Bevölkerung Deutschlands 11 Millionen Personen, aber die meisten stammen aus vorwiegend christlich geprägten Ländern und nur 4 Millionen aus Ländern anderer Kulturen.
Der Islam wird von vielen Europäer*innen wegen der brutalen Ansichten und Handlungen seiner unter der islamistischen Flagge agierenden extremistischen politischen Gruppierungen als große Bedrohung erlebt. In der Schweiz wurde deshalb durch eine Volksabstimmung der Bau von Minaretten verboten. In Deutschland empfinden viele Unbehagen gegenüber der vermeintlich großen Zahl islamischer Gebetsstätten: Etwa 2.600 zählt man dort bereits (siehe Strack 2018). Aber das sind nicht viele, wenn man diese Zahl einer anderen gegenüberstellt: In Deutschland stehen 45.000 christliche Kirchen. Oft wird dem Islam vorgeworfen, seine Heilige Schrift, der Koran, vertrete eine brutale, bluttriefende religiöse Haltung. In der Bibel der Christen ist nicht weniger Bluttriefendes zu lesen. Das Problem sind also nicht die alten Schriften, sondern ihre Übersetzung in die heutige Zeit. Weltoffenen Christen und Muslimen gelingt diese. Allerdings besteht bei den Muslimen das Problem, dass wichtige islamische Grundhaltungen mit demokratischem Denken und Handeln nicht vereinbar sind. Das bedeutet, dass Muslime, die in westlichen Ländern eine neue Heimat finden möchten, sich in diesen Punkten – das heißt den länderspezifischen Grundgesetzen – anpassen müssen.
Menschen mit dunkler Hautfarbe, Afrikaner*innen, indigene Bewohner*innen Ozeaniens und Südostasiens, Afroamerikaner*innen, Latinos, Chines*innen und Japaner*innen mahnen weiße Europäer*innen schnell an die Existenz des Fremden (draußen in der Welt und in sich selbst), ganz besonders jene, die kaum je eine reale Erfahrung mit Nicht-Weißen gemacht haben. Tragischerweise sind People of Color in Europa oft Menschen, die in ihrer Heimat Schweres erlebt haben, um ihre Existenz bangen und fliehen mussten, oder in europäischen Staaten geborene Nachfahren solcher schwer geprüften Eltern. Zufall ist dies natürlich nicht, denn der europäische Kolonialismus hat in den vergangenen vier Jahrhunderten die Wirtschafts- und Sozialstrukturen vieler afrikanischer und südamerikanischer Länder zerstört. Vor der Kolonialisierung lebten die Menschen in Afrika und Südamerika zwar einfach, aber mit teilweise höherer sozialer und kultureller Kompetenz als viele Europäer heute. Afrikaner*innen, wie auch Menschen aus der arabischen, chinesischen und südamerikanischen Welt, bringen zudem, wenn sie zu uns kommen, stets auch etwas vom Erbe ihrer Hochkulturen vor einigen Jahrtausenden mit.
Das glaube ich größtenteilsüberprüfen! Info zu 3: Globalisierung, Automatisierung und Digitalisierung
Die weltweite Verflechtung von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur bringt uns Menschen der westlichen Welt viele Vorzüge. Wir essen zu jeder Jahreszeit, was wir wollen, weil wir uns Nahrungsmittel aus den entferntesten Ecken der Welt kostengünstig beschaffen können. Wir kleiden uns in Wunschkleider, produziert in Billiglohnländern, reisen mit minimalem Aufwand nicht in 80, sondern in fünf Tagen rund um die Welt, profitieren von Medikamenten, die in globaler wissenschaftlicher Kooperation optimiert wurden, und können uns jederzeit weltweit über jedes mögliche Thema informieren. Aber der Preis der Globalisierung ist hoch, sobald dieser nicht nur in Dollar, Euro und Franken berechnet wird...