Vom aufgeklärten Verstand zur idealistischen Vernunft?
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Vom aufgeklärten Verstand zur idealistischen Vernunft?

Das Verhältnis von Religion und Philosophie bei Hegel

  1. 116 Seiten
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Vom aufgeklärten Verstand zur idealistischen Vernunft?

Das Verhältnis von Religion und Philosophie bei Hegel

Über dieses Buch

Georg Wilhelm Friedrich Hegel gilt als systematischer Vollender der abendländischen Metaphysik, wo er die antike geistige Substanz durch die freie Subjektivität der Neuzeit retten wollte. Eine tiefenpsychologische Deutung sucht einige verstecktere Urmotive seines dialektischen Denkens freizulegen, welches den weltgeschichtlichen Weg von europäischer Aufklärung über die Freiheitsphilosophie der Französischen Revolution zum absoluten 'objektiven Idealismus' des aufstrebenden Bürgertums begrifflich nachzeichnet, aber damit auch den religionsphilosophischen Weg des Monotheismus vom 'substanziellen' Verstand des Alten zum Heiligen Geist des Neuen Testaments und die christliche Entwicklung vom katholischen Papismus zur protestantischen Reformation, welche laut Hegel das 1776 und 1789 geistig vorwegnahm.

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Volksreligion – Vernunft – Liebe?
Die Logik der alttestamentarischen Gerechtigkeitsreligion überlebt beim Lutheraner Hegel in seiner „Rechtsphilosophie", und die Prädestinationslehre Luthers im Konzept einer „List der Vernunft", die sich der persönlichen Leidenschaften der Individuen nur unbemerkt bediene, um hinterrücks ihre Vorsehungsziele zu erreichen. Aber dass kein Mensch von sich aus das Sittengesetz erfüllen könne, sondern angewiesen bleibe auf das Erlösungswerk Christi, kann Hegel nicht dulden, ohne die Vernunftautonomie der Philosophie preiszugeben.
Hier ist der Punkt, wo Hegel die protestantische Innerlichkeit und Selbstgewissheit jeder patriarchalischen und katholisch-papistischen Gesetzesfrömmigkeit überlegen sieht, aber das protestantisch gereinigte Christentum jeder Philosophie unterlegen. Das Gesetz Gottes ist ihm ebenso zu heteronom wie der lutherisch zugespitzte paulinische Gnadenglaube und die Glaubensgnade.
Für Hegel streift der biblische Vatergott seine Außerweltlichkeit erst in Jesus Christus ebenso ab, wie die Liebe erst in der monogamen Familienehe ihre roman- tische Schwärmerei und sinnliche Flüchtigkeit verliert. Im Gottesgesetz sieht er genau jene irrationale Heteronomie, die er im preußischen Staat nicht mehr entdecken kann. Das antagonistische „System der Bedürfnisse" sprenge zwar die Sittlichkeit der Familie, aber der Rechtsstaat sei die Synthese von Familienleben und Gesellschaftsleben, von Privatsphäre und Öffentlichkeit, von Intimsphäre und Gemeinwesen. Wenn bürgerliches Christen- tum und christliche Familie kollidieren, umso schlimmer für die letztere.
Karl Marx hat die bürgerliche Gesellschaft ihre proletarischen Opfer und Totengräber produzieren sehen, aber so wenig wie Hegel die gesetzestreue Familiarität der Lohnsklaven gegen die rechtsstaatliche Zähmung der kapitalistisch zweiten Natur des modernen Menschen mobilisiert wissen wollen. Bürgerliche Familien stehen einander dort nur liberalkapitalistisch als Marktkonkurrenten gegenüber, als Rechtssubjekte im Existenzkampf aller gegen alle. Das Familienleben ist nur dazu da, den Menschen als Bürger herzustellen, als Marktrivalen fit zu halten, seine Arbeits- oder Kapitalfähigkeit zu produzieren in Heimarbeit. Für Hegel ist die Familie die 'notwendige Mitte' zwischen Individuum und Gesellschaft wie das Werkzeug zwischen Mensch und Natur, das ganz Besondere zwischen Einzelnem und Allgemeinheit : als Individuum vor der Gesellschaft und zugleich als Gesellschaft vor dem Individuum. Den Schoß der Familie sieht er so weiblich wie das Gemeinwesen männlich, in das der Mann hinausmüsse.
Das Gesetz Gottes weiß er nur im Rechtsstaat gut aufgehoben, aber das sei nicht die 'Demokratie des Pöbels', sondern eine konstitutionelle Erbmonarchie. Um diesen Preis ist er bereit, ihn auch und vor allem zu verteidigen gegen alle populistischen „Bewegungen". Denen, die in Hegel einen preußischen Vorläufer des Totalitarismus verdammen, sei gesagt, dass er diesen Rechtsstaat auch mobilisiert hätte gegen ökopazifistische „Bewegungen“.
Wenn dieser Staat der Staat der Bürger ist, dann ist die Familie die Gesellschaft des Proletariers, in dem Hegel nur verhinderten Bürger in spe erkennen konnte. Vom Industrialismus verstand er immerhin so viel, dass er am Ende seines Lebens in einer Variante seiner Vorlesungen zur „Rechtsphilosophie" ein vernünftiges Ende der konstitutionellen Monarchie denken konnte als „Demokratie auf der Grundlage der Arbeit".
Gegen Kants Moralbegriff, der sittlichen Autonomie des hagestolzen Autisten, verteidigte ein Hegel zu Recht die Familiarität als sittliche Sinnlichkeit und sinnliche Sittlichkeit zugleich, als Synthesis von „bloßem Begehrungsvermögen" und der „Achtung fürs Sittengesetz".
Hegel wirft dem Gesetz Gottes zweierlei vor, das eng zusammenhängt : Es sei kein unmittelbar einsichtiges Vernunftgesetz, das die Menschen sich selbst gegeben, sondern nur als Ukas von oben empfangen hätten, und dieses Gesetz verlange von den ihnen, den Staat im Zweifelsfall dem Familienleben zu opfern statt umgekehrt die Bande des Blutes dem Vaterland. Hier beginnt bereits der Rassismus des Blutes zu rebellieren gegen familiäre Blutsverwandtschaft. Gleiches Blut haben hier nicht die Mitglieder einer Familie, sondern eines 'Volksgeistes', und die Inzucht der Blutsbrüderschaft ist geboten statt verboten, wo Hegel unter dem Einfluss der indogermanischen Romantik den biblischen Mythos von der adamitischen Gleichheit der Abstammung aller Menschen 'aufgehoben' glaubte. Die Philosophie fasste hier ihre Zeit in Gedanken, indem sie dem Zeitgeist die Rationalisierung nachschickte.
Hegel war außerstande, im Gottesgesetz die 'praktische Vernunft' anzuerkennen und zu erkennen : Hier sei nicht der Knecht sein eigener Gesetzgeber, sondern nur sein oberster Dienstherr. Aber der Sklave befreie sich nicht, indem er ein Gesetz erfülle, das er sich selbst nie hätte geben können, weil er darauf nie selbst gekommen wäre.
So sehr also Hegel bereit ist, gegen Kants bloßen Formalismus die materiale Sittlichkeit des Familienlebens philosophisch abzusegnen, so wenig kann er im biblischen Gesetz genau jene Synthese von Logik und Erfahrung, von Rationalität und Realismus vollbracht finden, die er wohl in Luthers Aufhebung von mönchischer Lasterkeuschheit, Bettelarmut und Kadavergehorsam verwirklicht weiß, aber in Luthers 'Rechtfertigung allein durch Glauben' an eine Erlösung durch „fremde Genugtuung Gottes" auch wieder nur so wenig verkörpert glaubt, dass erst die Philosophie an Autonomie herbeischaffe, was auch im protestantischen Christentum noch zu viel Gnade von außen sei, als dass es menschlich vernünftig und frei zugehe.
Hegel ist zu stark fixiert auf den paulinisch augustinischen Luther, wenn er glaubt oder denkt, dass es zwischen Moses und Jesus gegangen wäre um den Streit zwischen Gesetz und Gewissen, zwischen Zeremonialität und Spiritualität, wo es doch in Wirklichkeit eher ging um den Streit zwischen der Rechtfertigung des Menschen durch Werk oder Gnade, also zwischen einer Erlösung durch Gesetzerfüllung oder durch Glaube an die göttliche Impotenz des Menschen. Vielleicht hat die deutsche Reformation das Gesetz Gottes zu einem menschlichen Vernunftgesetz gemacht, aber dann gleichzeitig dafür gesorgt, dass es nach menschlichem Ermessen nicht zu erfüllen ist, während die Katholiken ihr Sittengesetz zwar von Gott haben und 'nicht von selbst', aber es selbst erfüllen können, statt es von einem Messias erfüllt zu bekommen und nur zu glauben, dass es von anderen bereits an ihrer Stelle erfüllt sei. Diesen Widerspruch hat Hegel nicht bemerkt oder unaufgelöst gelassen. Genauer : Es war der Grund, aus dem er philosophisch über den Protestantismus hinausgehen zu müssen glaubte, ohne den Gang der Weltgeschichte bis Preußen als Gang der Freiheit und Vernunft aufgeben zu müssen. Wollte er die Vernunft der Geschichte retten, durfte er nicht zugeben, dass schon zu Beginn der Geschichte jenes Maß an vernünftiger Freiheit realisiert war, das Hegel erst an ihrem preußischen Ausgang sehen zu dürfen glaubte.
Eine Philosophie des deutschen Protestantismus muss diesen 'aufheben' und Gottvater im jeweiligen Landesvater inkarniert fühlen. Der Protestant hat ja das Vernunftgesetz nur sich selbst gegeben (will man Hegel glauben), aber nie selbst erfüllen können und müssen. Der Christ glaubt, dass ein anderer es für ihn erfüllt hat. Der Lutheraner kann gute Werke erst tun, wenn er glaubt, dass der Messias für ihn das Gesetz erfüllt hat, das er sich nur selbst gibt, wenn er es von Gott empfängt.
Der Lutheraner vermag nicht das Gesetz Gottes zu erfüllen, das er sich nach Hegel als Vernunftgesetz selbst gegeben hat, und das Volk des Buches erfüllt selbst das Gesetz, das es sich selbst nicht gegeben hat? Welche Autonomie ist vernünftiger, welche Heteronomie freier? Oder kann und muss jeder Mensch des Alten Bundes das Gesetz Gottes selbst erfüllen mit Gottes Hilfe, weil es ein Gesetz von Vernunft und Natur ist, und ist das Gesetz für den Christen ganz unerfüllbar, weil es eben nicht sein eigenes Vernunftgesetz ist, sondern der blinde Wille eines launischen Dämons? Die vom Christen erflehte Hilfe von außen, macht sie nicht unfreier als die vom Vorgänger benötigte? Wenn Gott der einzige ist, der das Gesetz erfüllen kann, das er den Menschen gab, wenn er es also in Jesu Gestalt stellvertretend für alle impotenten Menschen erfüllen musste, um sie nicht mit dem verdienten ewigen Tod bestrafen zu müssen, dann kann auch der philosophische Begriff nicht retten, was dort an Autonomie ganz verloren gegangen ist. Gesetzestreue ist Werkfrömmigkeit, die im Katholizismus noch ihren Platz hatte, bei Luther aber nicht mehr.
(Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte, Stuttgart 1961, S. 443): „Das Erkennen als Aufhebung der natürlichen Einheit ist der Sündenfall, der keine zufällige, sondern die ewige Geschichte des Geistes ist. Denn der Zustand der Unschuld, dieser paradiesische Zustand, ist der tierische. Das Paradies ist ein Park, wo nur die Tiere und nicht die Menschen bleiben können. Der Sündenfall ist der ewige Mythus des Menschen, wodurch er eben Mensch wird."
Der dialektische Dreischritt ist der Fortschritt von der Mutter-Kind-Symbiose über die Vertreibung aus dem uterinen Paradies zur Vereinigung des Erwachsenen mit einem Weibe, einer Vereinigung, die keine Wiedervereinigung mit der Mama ist, sondern Vermählung mit dem ganz anderen Geschlecht, sofern es ganz anders ist als Mama. So führt die Kategorie 'Synthesis' den Mann, und das ist bei Hegel der Mensch wie bei fast allen Philosophen, zwar zurück zum Weibe, aber nicht zur eigenen Mutter. Mutterleib, Geburt und Vereinigung mit dem anderen Geschlecht, sofern es anders ist als der gegengeschlechtliche Elternteil, sind die drei Phasen jeder Entwicklung auf jeder neuen Spiralebene: Inzest, Verdrängung dieses Triebwunsches und Rückkehr des Verdrängten ins Bewusstsein, um die eigene Mutter als Triebobjekt eintauschen zu können gegen eine fremde Schöne. Die Synthesis ist Rückkehr zum ewig Weiblichen, aber nicht zur Mama, sondern zu einer ganz anderen Vertreterin des ganz anderen Geschlechtes. Und der Vater steht als Erzengel mit dem Flammenschwert vor dem Eingangsportal des Paradieses, um dem Menschenkind jede Rückkehr in den Kindergarten Eden zu verwehren, also den Tod an der Mutter Natur und in der Mater-ie. Fortan wird nur der 'kleine Tod' erlaubt sein, den Mann und Weib aneinander sterben.
Mann und Weib ein Leib, und dieser Leib ist der des neuen Erdenbürgers (ein Menschenkind, das nicht Kindeskind sein darf). Aber Hegel ist nicht bei Marx 'gut aufgehoben'. Der Denkfehler passiert beim Übergang von der Familiarität zur 'bürgerlichen Gesellschaft' : Diese falsche Triade [Familie - Bürgertum - Landesvater] spiegelt sich in der ebenso falschen Trias von [AT - Papismus - Reformation]. Ernst Bloch wird später diesen Irrweg vervollständigen durch den Dreischritt [AT - NT - Marxismus] oder [Gottvater - Menschensohn - Stalin]. Im Falle der Religion versteht Hegel die dialektische Synthesis nicht primär als Liebesvereinigung von Gottvater und Mutter Natur, um Menschenkinder zu erschaffen, sondern in einer „Versöhnung" von Gottvater und seinen Erdensöhnen, exemplarisch von Jehova und Jesus. Nach dem Talionsprinzip, erinnerte Freud, muss es eine Blutschuld gegen Gottvater gewesen sein, die sein Sohn mit dem Tode zu büßen hatte. Jesus stirbt für die Vatermordversuche aller Menschenkinder und für ihre frevelhaften Versuche, in den Mutterleib der Natur zurückzukehren, der dem Vater vorbehalten ist.
Das Gesetz Gottes ist das Gesetz der Väter, und der Unwille, es zu erfüllen, ist als Anschlag auf den Vater und seine Prinzipien gewertet. Wenn Freud Recht hat, muss sich im Gottesgesetz das Inzesttabu verbergen und werden in den Satzungen des Alten Bundes 613 Formen zurückgewiesen, sich am eigenen Vater zu vergreifen, um in den Schoß der eigenen Mutter zurückkehren zu können, also 613 Möglichkeiten angeboten, sein eigener Vater zu werden, um von Mutter Natur freizukommen und der Abhängigkeit von ihr.
Nicht erst im Christentum wird dieses Gesetz, sofern der Einzelne es sich wirklich zu eigen macht, eben zu seinem Gewissen, statt ein sinnloser und demütigender Befehl von oben zu bleiben. In diesem Gewissen die 'Selbstgewissheit des Ich' zu erkennen und anzuerkennen, kann die philosophische Interpretation der religiösen Wahrheiten helfen. Die Weisheit in diesen Weisungen zu erkennen heißt, das wahre Ich und seine wohlverstandenen Eigeninteressen in diesem 'Über-Ich' nicht zu verkennen und das eigene Ich im eigenen Über-Ich gut 'aufgehoben' zu wissen, besser als in einem Es, das sein Wohin in seinem Woher sieht.
Das biblische Gesetz verliert viel von seinem vielgerügten Zeremonialformalismus, wenn darin die Formen des Inzesttabus erkannt werden können. Was ist der Alte Bund mit dem himmlischen Vater anderes als ein Beistandspakt gegen die Versuchungen des Menschenkindes, in den Mutterleib der Natur zurückzudrängen und auf dem Weg dorthin zurück über die Leiche des Vaters zu gehen, statt selbst einer zu werden im Bunde mit einem anderen Weibe als der eigenen Mutter? Hegel konnte den Unterschied zwischen Jehova und Jesus nur sehen als Unterschied zwischen Gehorsam und Gewissen, zwischen Gesetzeserfüllung und Selbstgewissheit.
Heute wird nicht nur unterschieden zwischen Vernunft und Unvernunft, sondern auch zwischen verschiedenen Rationalitätstypen. Analytische wie dialektische Vernunft können getrennt werden, instrumentelle und kommunikative Vernunft lassen sich voneinander abheben, auch werthierarchisch einander zuordnen schon in den Sozialwissenschaften. In der biblischen „Theo-rie“ nicht nur blanke Unvernunft, Widervernunft und Widernatur verherrlicht zu finden, sondern einen ganz anderen Rationalitätstyp wiederentdecken zu dürfen, bleibt nun offenbar weiter einer ungewissen Zukunft vorbehalten.
Die beste Einheit von Natur und Vernunft zu finden, ist vielleicht weniger eine Sache von Erfindungsgabe als von Wiederentdeckungslust. Die Geschichte als Geschichte des Fortschritts in den Mitteln und Wegen zu sehen wie als Verfallsgeschichte der Zwecke und Ziele, ist vielleicht vernünftiger als das Umgekehrte. ̶ Es ist, als hätte die Kindheit der Geistesgeschichte eine klarere Vorstellung gehabt von dem, was es heißt, erwachsen zu werden, während unser geschichtliches Greisenalter eher infantile Wunschvorstellungen kultiviert, die Lebensmittel zu Lebenszielen erhebt und die Endzwecke zu Produktionsmitteln erniedrigt. Ist die 'patriarchalische' Unterdrückung der Frauen biblisch gerechtfertigt? Die Gebote vom Sinai beziehen sich darauf, mit Hilfe des Vaters erwachsen zu werden, die Verbote darauf, zurück zu den Müttern zu steigen. Das Gesetz ist rational als Gesetz der Überwindung des menschlichen Ödipuskomplexes, und da diese Überwindung eben für Männer schwieriger scheint als für Frauen, ist es ein patriarchalisches Gesetz. Der Frau ist geholfen, wenn ihrem Mann geholfen ist, diesen Komplex aufzulassen. Das Gesetz weist den Weg, wie der Jüngling sein Vater werden kann, ohne ihn zu töten, und sich mit dem anderen Geschlecht vereinigt, ohne in den Schoß der eigenen Mutter zurückzukehren als ein Säugling oder Embryo.
Beschneidung : Der Mensch soll nicht in den Samen zurück, aus dem er kommt; die Zeit ist unumkehrbar und der Lebenslauf nie ein Kreislauf. Die Brüderlichkeitsgebote, Blutschandeverbote, Reinheitsvorschriften und Speiseordnungen zielen auf den verschiedensten Ebenen des Lebens darauf ab, die Vermischungen mit tierischen oder gar toten Stufen der Mutter Natur zu untersagen und zu verhüten. Das göttliche Gesetz des Vaters ist Geburtshilfe und kein Empfängnisverhütungswissen. Von der Vertreibung aus dem Mutterleibparadies der Natur, vom Sündenfall also bis 'dass ihr werdet wie euer Vater im Himmel', gereinigt von aller Kontamination mit den astralsiderischen, mineralischen, vegetativen und animalischen Ebenen der Mutter Erde und den in ihrem Bauche beerdigten Toten, besteht das ewige Leben in der Zeugung mit der schönen Fremden jenseits der eigenen Mama, in der und an der wir alle so gern „zum Grunde" gehen wollen. Die Bibel erkennt die Todeswünsche in dem, was wir als unseren Lebenshunger erleben, und die Lebenskraft in dem, was wir als unsere Beerdigung erleben. Sie lehrt, uns als Kinder desselben Vaters und derselben Mutter Erde zu empfinden, um eine Brüderlichkeit jenseits von Kain und Abel erstrebenswert zu machen, eine Brüderlichkeit, die auf dem gemeinsamen Verzicht aller Geschwister beruht, einander zu beseitigen, um wieder mit der eigenen Mama allein und all-eins zu sein wie vor der Geburt. Der biblische Mythos vom Sündenfall ist ein schönes Sinnbild für die Waffen der Frau, den Mann aus dem Mutterleib der Natur herauszulocken und ihn zu verführen, mit ihr zusammen den Paradiesgarten der Kindheit zu verlassen. Sobald Mann und Weib einander erkennen, dürfen sie nicht mehr in den Leib ihrer Mütter zurück.
Mann und Weib ein Leib, und dieser Leib ist nicht die Leibeshöhle der eigenen Mutter. Dieser Deutung scheint zu widersprechen, dass Gottvater ja selbst verboten hat, vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen zu essen. Aber diese Stelle verrät keine Ungereimtheit, sondern bezeugt die weise Vernunft des Autors dieser Passage. ̶ Wissen wir nicht spätestens seit Sigmund Freud, dass der ursprüngliche und mächtigste Wunsch der Geschlechter nacheinander ein Inzestwunsch ist, der ja gerade von seiner Richtung abzulenken ist? Wer innerhalb des Mutterleibes nach der verbotenen Frucht greift, wird aus dem Mutterleib verbannt; das ist das Gesetz des Vaters, und niemand kann in den Mutterleib zurückwollen, ohne dort als Kind sterben oder den Inzest begehen zu wollen. Die 'Erbsünde' besteht ganz einfach darin, dass niemand im Mutterleib bleiben kann, ohne inzüchtig der Mutter verbunden bleiben zu wollen, und vor diesem Schicksal, in und an der eigenen Mutter „zum Grunde" zu gehen, will die biblische Wahrheit das Menschenkind gerade gütig bewahren in seinem ureigenen wohlverstandenen Interesse. Vor der Kastrationsangst bewahrt nur die Exogamie. War die 'maieutische' Hebammenkunst Gottes nicht größer als die des Sokrates, der engelmachenden Hexe oder 'Magna Mater'?
„Mit dem Glück ist es nicht anders als mit der Wahrheit. Man hat es nicht, sondern ist darin. Ja, Glück ist nichts anderes als das Umfangensein, Nachbild der Geborgenheit in der Mutter. Dann aber kann kein Glücklicher wissen, dass er es ist. Um das Glück zu sehen, müsste er aus ihm heraustrete...

Inhaltsverzeichnis

  1. Danksagung
  2. Textbeginn
  3. Tiefenpsychologischer Deutungsversuch
  4. Impressum