1. Einführung
Für dieses Buch musste ich eine Auswahl treffen, welche der unzähligen Mythen, Sagen & Märchen von Thale ich in diesem Bans wiedergegeben möchte. Teils ist es sehr schade, fast traurig, aussortieren zu müssen, damit dieses Buch nicht 1.000 Seiten dick & damit unhandlich wird. Andererseits ist es umso erfreulicher: Weiß ich doch um die enorme Vielfalt, mit der uns so viele Erzähler reich beschenkten, weil die Erzähler selbst von den mystischen, zauberhaften & heiligen Plätzen unserer Vorfahren reich beschenkt wurden. Ja, die Orte selbst erzählen aus einer unversiegbaren Quelle, so dass ich am liebsten nur still lauschen möchte, im Angesicht solcher Fülle. So spüre ich am besten meine Dankbarkeit & bleibe ganz „verliebt in die verrückte Welt“, um damit Hermann Hesse nachzuahmen, der ebenso verstand zu lauschen &das ihm Erzählte mit dem Herzen weiterzugeben. Gleichermaßen soll dieses Buch sie beschenken, liebe Leserin & lieber Leser! Es soll Sie einen Moment herausnehmen aus Ihrem Alltag & sie in alte Zeiten an heilige Orte entführen. Sie entscheiden am Ende selbst, ob Sie den Plätzen eine ebenso große Ehrerbietung entgegenbringen wollen, wie ich meine, dass sie‘s verdienen.
„Vor Beginn des Weges durch die Anlage noch ein Hinweis: machen wir uns bewusst, dass wir eine Anlage betreten, in der unsere Vorfahren über viele Jahrtausende hinweg ihre Anbetung verrichteten. Verhalten wir uns deshalb rücksichtsvoll und achten diese einmalige Kultanlage!“ (Hermerding 1994) Wenn Sie dann wandern, versuchen Sie (freilich nur wenn Sie nichts Besseres zu tun haben) ein kleines Experiment: Wandern Sie stets einige Minuten in Stille, ohne vom Gespräch oder anderen Dingen abgelenkt zu werden, spüren Sie bitte bei jedem Schritt den geschichtsträchtigen, geweihten Boden unter ihren Füßen. Gehen Sie langsamer als sonst, achtsamer. Thich Nhat Hanh, ein Lehrer der buddhistischen Meditation, sagte einmal: „Gehen Sie so, als ob Ihre Füße mit jedem Schritt den Boden küssen wollen!“ Atmen Sie bewusst ein & aus, verharren Sie an den Orten & nehmen Sie jeden Ort ganz in sich auf. Lassen Sie den Ort auf sich wirken, genießen Sie ihn, bis Sie etwas Wundervolles erleben! Das Faszinierende sind Sie selbst – einzigartig, kostbar, wie jeder dieser Orte um Thale herum – viel Spaß mit diesem Erleben!
„Was ich nicht erlernt habe, das 6 habe ich erwandert!“ (Goethe)
Wie das Bodetal zu seinen Sagen und Märchen kam
Seit ca. 7000 Jahren ist das Vorland zur Bode & seit ca. 2800 v. Chr. die prähistorischen Burgenanlagen um Hexentanzplatz & Rosstrapp (mit über 250 ha Fläche wohl die Größte ganz Sachsen-Anhalts) von Menschen besiedelt. (vgl. Behrens, 2013) So weit reichen die ersten Bodenfunde in den Grabhügeln dieser Stätten zurück. Viele Menschen konnten früher nicht lesen oder schreiben, ja es gab nicht einmal eine einheitliche Sprache, nur Dialekte. Wichtige Geschehnisse (wie Unruhen, Kriege oder Hungersnöte) konnten von Generation zu Generation bloß mündlich weitergegeben, besondere Naturphänomene (Gewitter, Überschwemmungen etc.) nur mit Glaubensgebilden erklärt werden. Das alles tauschte man sich aus, „sagte“ es weiter & jeder Erzähler schmückte die Geschichten mit seinen Ideen, dem Wissen oder Aberglauben weiter aus, ließ andere Details aber weg, ganz wie beim spaßigen Spiel „Stille Post“.
Das Bodetal eignete sich hervorragend, vielleicht wie nur wenige Orte in Deutschland dazu, sagenreich zu werden, denn überall lauerten einst Gefahren (von Höhlenbär & anderen Wildtieren, giftigen Pflanzen etc.), in finsteren Wäldern & zeitweise unüberwindlichen, reißenden Strömen, engen Schluchten & unbezwingbaren Klippen. Aber auch die romantischen Täler, Wiesen & Auen wussten zu verzaubern. Überall vermutete man Nixen, Elfen, Zwerge, aber auch die dunklen Alben & in allen Orten waren die Götter lebendig, wirkten & webten, tobten oder segneten.
Die Sagen rund um Thale erzählen also teils vom alten Volksglauben (germanischen Mythen) & oft ist gut beobachtbar, wo Mythen sich zu Sagen verwandelten, wann der christliche Glauben einsetzte & aus den alten Göttern Wotan & Donar plötzlich Teufel und Dämonen wurden. Die weisen Frauen (Hagedisen) diffamierte man zu Hexen & die altheiligen Kult- und Festplätze wurden zu Stätten der Götzenanbetung, umbenannt in Hexentanzplatz, Teufelsmauer u.a.! Oftmals stehen heute auch auf den heiligen Stätten unserer Vorfahren alte Kirchen oder Klöster, wie beim Kirchberg & Kloster Wendhusen der Fall. War der alte Glauben aus den Menschen nicht herauszubekommen, nutze man einfach die Orte & Zeiten, an die sich die Menschen gewöhnt hatten & gab dem Alten einen neuen Namen, neuen Schein, so geschehen z.B. bei Walpurgis.
Die Sagen erzählen aber auch vom harten Leben der einfachen Bevölkerung alter Zeiten. Sie berichten von Not, Armut, Hunger & Pein, von den Ängsten (um alles Unerklärbare) & Wünschen (Reichtum, Ehre, Liebe oder geheimen Kräften, die das Leben erträglicher machen sollten) der Bewohner hier im Harz. Der Name des nördlichsten Mittelgebirge Deutschlands lässt sich wohl von „hard“ herleiten, was Bergwald meint, obschon ich die Legende glaubhafter & schöner finde, dass sich das Wort Harz von „Herz“ ableiten lässt. Einem alten Märchen nach soll der Harz nämlich entstanden sein, als der „König der Liebe“ starb und sich dessen übergroßes & volles Herz, das für alles Lebendige schlug, nach seinem Tode zum Harzgebirge formte, in dem die Menschen Schutz, Nahrung und Wohlstand finden sollten. Und wie sonst, wenn nicht mit der Wahrhaftigkeit dieser Sage, wäre unsere Liebe zum Harz erklärbarer?!
Nach dem heutigen Wissenstand scheinbar sinnlos anmutenden Geschichten liegt oft eine tiefe Volksweisheit zugrunde. Diesen wahren Kern lohnt es zu ergründen. Wozu sollte ich das tun, was wäre mein Gewinn daraus? - So wie ich es derzeit sehe & beobachte, leiden viele Menschen an einem entzauberten Alltag, einem sinnentleerten Leben, an Entfremdung zur Natur. Noch immer tragen wir Ängste in uns, allein schon bei dem Gedanken wir würden uns allein im tiefen Wald befinden & die Nacht würde über uns hereinbrechen, vielleicht knackt hier und da gar noch ein Ästlein, dann sind wir eingeschüchtert. Manch einer mag diese Ängste vielleicht für begründet halten, hört man doch leider viel zu oft in der Presse von grauenhaften Geschehnissen, die überall um uns herum passieren: „Menschlicher Arm im Bodetal gefunden! Wo ist der Rest der Leiche?“ (Mitteldeutsche Zeitung, 14. März 2014).
Rein statistisch gesehen ist es aber viel wahrscheinlicher, von einem wütenden Familienmitglied eine Brat-pfanne in der eigenen Küche über den Schädel gezogen zu bekommen, als im Wald von einem Fremden getötet zu werden. Fürchten wir uns also deshalb vor dem Betreten der eigenen Küche? Nun, ich rede jetzt nicht vom Grundgefühl eines Mannes, der von seinem bös schauenden Eheweib zum Küchen-dienst verdonnert wird und dieser würde dann wahrhaftig begründete, mannigfache Ängste ausstehen. Solche sind mir als lang in Beziehung stehender Mann auch bekannt, aber von denen rede ich nicht - nein!
Was genau soll uns denn im Walde Furchtbares widerfahren? Soll uns ein tollwütiges Eichhörnchen überfallen & in den kleinen Zeh beißen? „Der Teufel ist bekanntermaßen ein Eichhörnchen!“, heißt es in einem wunderbaren Sprichwort, das meiner Meinung nach besagt, dass wir den Teufel selbst an die Wand malen, um uns dann zu wundern, dass er dort tatsächlich abgebildet ist. Dieses Phänomen nennt sich auch „Sich-selbst-erfüllende-Prophezeiung“! Wenn ich Angst davor habe, dass etwas geschieht, wird mir das Befürchtete tatsächlich widerfahren. Was hat das aber mit Sagen & Märchen zu tun?
Sagen (historisch datiert & ortsgebunden) erzählen oft vom Aberglauben jener Menschen, die u. a. mit dem Gefühl der Angst konfrontiert sind. Märchen hingegen sind überall & nirgends geschehen, sind poetisch oder symbolhaft verschlüsselt & wurden einst als Initiationsrituale genutzt. Sie helfen dabei, in uns verborgene Gedanken & Gefühle zu erkennen & auszuheilen. Jede Geschichte, kann uns wichtige Lehren, Lebensratschläge oder eine andere Perspektive auf die Dinge mit auf den Weg geben. Es gibt einen wunderbaren Spruch, den ich Ihnen nicht vorenthalten möchte: „Kindern erzählt man Märchen zum Einschlafen. Erwachsenen hören sie, um aufzuwachen!“
Der Sinn dieser Geschichten ist es also, wach zu werden, wahrhaftig die Augen & Ohren für das große Ganze zu öffnen, das Leben & seinen Reichtum zu spüren & sich dadurch vielleicht wieder, wie ein Kind, an tausend kleinen Dingen zu erfreuen. Wir können durch Sagen & Märchen wieder lernen, dankbar zu sein. Mit dieser Dankbarkeit & der Liebe zur Natur fühlen wir uns reich beschenkt, erfahren es als innigstes Bedürfnis, die Welt um uns herum nicht auszunutzen, sondern zu schützen & ebenso zu beschenken. Diesbezüglich ist mein liebstes Motto:
„Ich verlasse einen Platz in der Natur stets schöner, „veredelter“, als ich ihn vorgefunden habe.“ Zum Beispiel sammle ich im Wald stets ein wenig Müll auf, hinterlasse ein Zeichen (ohne etwas in Fels oder Baum einzuritzen, z.B. durch das Bauen einer kleinen Steinpyramide, eines Natur-Mandala) oder ein kleines natürliches Geschenk (einen Heilstein etc.). Wie Sie, lieber Leser, das handhaben wollen, sei Ihnen freilich selbst überlassen. Ich wünsche Ihnen jedenfalls auf all Ihren Wegen den größten Segen & sagenhaft schöne Momente!
Einige hoffentlich praktische Hinweise vor Wanderbeginn:
- Die Touristeninformation im Thalenser Bahnhof vergibt kostenlose Stadtpläne und Flyer zum Mythenweg und des Weiteren freundliche Auskünfte darüber, wie man zu all diesen sagenhaften Orten kommt, die in diesem Buch vorgestellt werden.
- Wer in Betracht zieht, öfter in Thale oder anderswo im schönsten Mittelgebirge Deutschlands (gemeint ist natürlich der Harz) Urlaub zu machen, sollte sich die aktuelle Wanderkarte der Harzer Wandernadel kaufen. Meiner Meinung nach stimmt hier absolut das Preis-Leistungsverhältnis. Die Karten sind sehr genau & wetterfest, für alle widrigen Gezeiten also, in denen die „Wilde Jagd“ umhergeht.
- Und wenn Sie schon dabei sind, ist es möglich einen Wanderpass zu erwerben, ebenfalls von der Harzer Wandernadel. An nahezu jedem bekannteren Aussichtspunkt gibt es einen Stempel zu „ergattern“ & mit 8 verschiedenen Stempeln erhält man als Andenken an die schöne (freilich auch strapaziöse) Wanderzeit dann schon die bronzene Anstecknadel! Besonders für alle kleinen (& großen) Kinder, ist das stets Motivation, doch noch einige Kilometer mehr zu laufen, als es die Lust zuvor hergab.
Nun viel Spaß, mit den Sagen, dem Erfahren der wundervollen Plätze und den berührenden Worten Heinrich Heines (1824) ...
... Steiget auf, ihr alten Träume! Öffne dich, du Herzenstor!
Liederwonne, Wehmutstränen strömen wunderbar hervor.
Durch die Tannen will ich schweifen, wo die muntre Quelle springt,
Wo die stolzen Hirsche wandeln, wo die liebe Drossel singt.
Auf die Berge will ich steigen, auf die schroffen Felsenhöhn,
Wo die grauen Schloßruinen in dem Morgenlichte stehn.
Dorten setz ich still mich nieder und gedenke alter Zeit,
Alter blühender Geschlechter und versunkner Herrlichkeit. ...
In harz‘licher Verbundenheit,
Ihr Sagen- & Märchenerzähler Carsten Kiehne
2. Germanische Mythologie -
„Eine Mythenwanderung mit Dr. Harald Watzek“
Wir beginnen mit der Mythenwanderung am Brunnen der Weisheit, direkt am Rathaus Thales gelegen. Wenn Sie, liebe Leserin und lieber Leser, nachher dem Mythenweg folgen wollen, dann ist es am einfachsten, Sie folgen den Hufeisen in Richtung Innenstadt und der Berge Hexentanzplatz und Rosstrapp. Was es mit den Hufeisen auf sich hat, fragen Sie?
Das sind die „kleinen Rosstrappen“, die an das eigentliche Mal hoch oben auf dem Berge, das eigentlich von Sleipnir stammt, erinnern soll – aber dazu gleich mehr.
Das Hufeisen symbolisiert seit jeher Schutz vor bösen Geistern (vor allem vor den Inneren, wie Zorn, Neid, Missgunst, Furcht etc.). Im Allgemeinen ist es aber auch Zeichen für Glück und Reichtum. Zum Beispiel bedeutet es über einer Tür aufgehängt folgendes: Ist die Öffnung oben, so soll das Glück (wie in einen Kessel oder ähnlich einer Pforte) hineinfallen und allen Bewohnern oder Gästen zugute kommen. Ist die Öffnung des Hufeisens aber nach unten gerichtet, soll es all diejenigen mit Gottes Schutz und Segen beschenken, die dort ein- und ausgehen. Diesen Segen wünsche ich Ihnen auf Ihrer Wanderung zu den bezaubernden und mystischen Figuren und Orten in der Innenstadt Thales. Auf dass das Wegeglück in jedem Ihrer Schritte liege, auf dass diese uralten Geschichten Sie mit innerem Reichtum (wie Wissen und Frieden) füllen werden, der freilich dann, nur äußeres Wohlergehen nach sich ziehen kann – viel Spaß!
Der Brunnen der Weisheit
Wotan (oder Odin, wie er in den nordischen Landen genannt ward) war der „alles beherrschende Allvater, der alles durchdringende, belebende oder vernichtende Geist und Odem der Natur.“ (Nolte, 4) Nach Thale aber kam er mit den Windzwergen und seinen beiden Raben Hugin und Munin („Gedanke“ und „Erinnerung“) ...