Anton Tschechows Ausgewählte Prosa I
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Anton Tschechows Ausgewählte Prosa I

Ein Zweikampf, Der Taugenichts, Die Dame mit dem Spitz, Eine Bagatelle, Der Kuss, Gram, Schatten des Todes und dreizehn weitere Meistererzählungen

  1. 296 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Anton Tschechows Ausgewählte Prosa I

Ein Zweikampf, Der Taugenichts, Die Dame mit dem Spitz, Eine Bagatelle, Der Kuss, Gram, Schatten des Todes und dreizehn weitere Meistererzählungen

Über dieses Buch

Eindrucksvolles Panorama von Bewusstseinskunst, Stimmungsdramatik, affektiven Sprechweisen, melodramatischen Effekten, Komik und latentem Unbehagen in Verlassenheit und Leere mündend. Zwanzig meisterhafte Erzählungen, von Herausgeber Joerg K. Sommermeyer so ausgewählt und angeordnet, dass der Leser von der ersten bis zur letzten Zeile diese spannende Prosa Tschechows nicht mehr weglegen kann. Ein Fresserbuch!

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Information

Jahr
2021
ISBN drucken
9783752622720
eBook-ISBN:
9783753409900
Ein Zweikampf
I
Acht Uhr morgens war es, die Zeit, wo die Offiziere, Beamten und Sommergäste nach der schwülen, heißen Nacht im Meer zu baden pflegten. Nach dem Bad ging man in den Pavillon und trank Kaffee oder Tee. Iwan Andrejitsch Lajewskij, ein blonder, hagerer Mann von achtundzwanzig Jahren, traf, als er, die Uniformmütze des Finanzressorts auf dem Kopf und Pantoffeln an den Füßen, zum Baden kam, am Strand viele Bekannte und darunter seinen Freund, den Militärarzt Samoilenko.
Doktor Samoilenko war ein Mann von dicker, aufgedunsener Gestalt, auf der ohne Hals ein großer, kurzgeschorener Kopf saß. Er hatte ein rotes Gesicht, eine gewaltige Nase, struppige schwarze Brauen und einen grauen Backenbart. Seine Stimme war ein heiserer Militärbass.
So machte er bei der ersten Begegnung einen unangenehm raubeinigen Eindruck auf jedermann. Aber schon nach wenigen Tagen fand man sein Gesicht ungewöhnlich gutmütig, liebenswürdig und sogar hübsch. Trotz seiner Plumpheit und seiner rauen Art war er ein friedliebender, unendlich gutmütiger, wohlwollender und verbindlicher Mensch. Mit der ganzen Stadt stand er auf du, allen pumpte er Geld, kurierte alle, stiftete Verlobungen und Versöhnungen und arrangierte Picknicks, bei denen er dann Hammelfleisch am Spieß briet und aus Thunfischen eine sehr wohlschmeckende Suppe kochte. Es war nur eine Stimme, er war ein ausgezeichneter Mensch. Nur zwei Schwächen hatte er: erstens schämte er sich seiner Gutmütigkeit und suchte sie durch grimmiges Dreinschauen und künstliche Grobheit zu maskieren und zweitens liebte er es, wenn die Lazarettgehilfen und Soldaten zu ihm Exzellenz sagten, obwohl er erst Staatsrat war.
»Eine Frage, Alexander Dawidowitsch«, begann Lajewskij, als sie beide bis an die Schultern im Wasser waren, »gesetzt den Fall, du hättest ein Weib geliebt und mit ihr zusammengelebt mehr als zwei Jahre, und dann, wie es geht, hört die Liebe auf, und du fühlst, dass sie für dich eine Fremde geworden ist. Was würdest du in diesem Fall tun?« »Sehr einfach: geh, mein Engel, wohin dich der Wind trägt. Und Schluss.« »Das ist leicht gesagt. Aber wenn sie nirgends hin kann? Sie steht allein in der Welt, hat keinen Verwandten, keinen Pfennig, sie versteht auch nicht zu arbeiten.«
»Ach was? Schmeiß ihr eine einmalige Zahlung von fünfhundert Rubeln in den Rachen, oder fünfundzwanzig im Monat. Was weiter? Furchtbar einfach.«
»Gesetzt den Fall, du hättest fünfhundert oder fünfundzwanzig im Monat, aber das Weib, von dem ich rede, ist intelligent und stolz. Könntest du dich entschließen, ihr Geld anzubieten? Und in welcher Form?«
Samoilenko wollte antworten, aber in diesem Augenblick schlug eine große Welle ihnen über die Köpfe, brach sich am Ufer und floss plätschernd zwischen den Steinchen zurück. Die Freunde verließen das Wasser und begannen sich anzuziehen.
»Natürlich ist es kein Vergnügen, mit einer Frau zu leben, die man nicht liebt«, sagte Samoilenko und schüttelte den Sand aus seinen Stiefeln; »aber, Wanja, man muss doch menschlich denken. Sieh mich an, ich würde es ihr überhaupt nicht zeigen, dass ich sie nicht mehr liebe, und mit ihr Zusammenleben bis an mein seliges Ende.«
Aber plötzlich wurde er verlegen, arretierte seine Fantasie und sagte: »Meinetwegen braucht's überhaupt keine Weiber zu geben. Hol sie der Teufel!«
Sie waren fertig und gingen in den Pavillon. Dort fühlte sich Samoilenko ganz wie zu Hause und hatte sogar sein eigenes Stammgeschirr. Jeden Morgen brachte man ihm auf einem Tablett seine Tasse Kaffee, ein hohes, geschliffenes Glas mit Eiswasser und ein Gläschen Kognak. Zuerst trank er den Kognak, dann den heißen Kaffee und zum Schluss das Eiswasser.
Und das schmeckte ihm augenscheinlich sehr gut. Als er getrunken hatte, wurden seine Augen noch freundlicher, er strich sich mit beiden Händen den Backenbart, blickte aufs Meer hinaus und sagte: »Die wundervolle Aussicht!«
Lajewskij fühlte sich matt und zerschlagen nach einer langen Nacht voll unfroher, nutzloser Gedanken, die ihm den Schlaf geraubt und die Schwüle und Dunkelheit noch schwerer gemacht hatten. Vom Bad und dem Kaffee wurde ihm nicht besser.
»Also weiter, Alexander Dawidowitsch«, sagte er, »ich will es nicht verheimlichen und dir, meinem Freund, offen gestehen, die Geschichte mit Nadeschda Fjodorowna ist faul, äußerst faul! Verzeih’, dass ich dich in meine Geheimnisse ziehe, aber ich muss mich aussprechen.«
Samoilenko wusste im Voraus, wovon die Rede sein würde, er senkte den Blick und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte.
»Zwei Jahre hab' ich mit ihr gelebt. Ich lieb' sie nicht mehr«, fuhr Lajewskij fort, »das heißt, richtiger, ich weiß jetzt, dass wir uns nie geliebt haben. Diese zwei Jahre waren ein Betrug.«
Lajewskij hatte die Gewohnheit, beim Sprechen aufmerksam seine rosigen Handflächen zu betrachten, an seinen Nägeln zu kauen oder an seinen Manschetten zu nesteln. Auch jetzt tat er das. »Ich weiß ja genau, dass du mir nicht helfen kannst«, sagte er, »aber ich erzähle es dir, weil für uns Unglücksvögel und überflüssige Menschen das Heil im Aussprechen liegt.
Ich muss alles mitteilen, was ich tue, ich muss eine Erklärung und Rechtfertigung meines abgeschmackten Lebens finden in irgendwelchen Theorien oder in Typen aus der Literatur. Vorige Nacht habe ich mich so mit dem ewigen Gedanken getröstet: Wie recht hat doch Tolstoi, wie erbarmungslos recht! Und davon wurde mir leichter. Wahrhaftig, er ist ein großer Dichter.«
Samoilenko hatte Tolstoi nie gelesen und wollte jeden Tag damit anfangen. Er wurde verwirrt und sagte: »Ja, andere Dichter dichten aus ihrer Fantasie, er aber direkt nach der Natur «... »Ach Gott«, seufzte Lajewskij, »wie hat die Zivilisation uns ausgemergelt! Ich hatte mich verliebt in eine verheiratete Frau, und sie sich in mich. Anfangs gab's bei uns Küsse und stille Abende und Schwüre und Philosophie und Ideale und gemeinsame Interessen ...
Was für eine Lüge! Wir flohen in Wahrheit vor ihrem Mann, logen uns aber vor, vor der Öde unserer gebildeten Welt zu fliehen. Unsere Zukunft malten wir uns so aus: Ich würde anfangs im Kaukasus, bis wir uns mit Land und Leuten bekannt gemacht hätten, die Beamtenuniform anziehen und eine Zeitlang im Staatsdienst bleiben, dann aber würden wir uns ein Stück Land nehmen und im Schweiße des Angesichts schaffen, einen Weinberg, ein Feld bebauen usw.
Wärest du an meiner Stelle, oder dein Zoolog, dieser Herr von Koren, ihr würdet vielleicht dreißig Jahre mit Nadeschda Fjodorowna Zusammenleben und euren Erben einen reichen Weinberg und tausend Dessjatinen Maisland hinterlassen. Ich habe mich vom ersten Tage an bankrott gefühlt. In der Stadt unerträgliche Hitze und Langeweile, kein Mensch, und kommt man hinaus, da lauern unter dem Strauch Skorpione oder Schlangen. Und weiterhin Berge und Einöde. Fremde Menschen, eine fremde Natur, eine traurige Kultur. Lieber Freund, es ist viel leichter mit Nadeschda Fjodorowna am Arm im Pelz den Newskij Prospekt entlang zu bummeln und von warmen Ländern zu plaudern. Hier gilt es nicht den Kampf ums Leben, sondern den Kampf um den Tod, und was bin ich denn für ein Kämpfer? Ich trauriger Neurastheniker mit meinen gepflegten Händen. Am ersten Tag hab' ich's eingesehen, dass meine schönen Gedanken von einem arbeitsamen Leben, von einem Weinberg den Teufel nichts taugten. Und was die Liebe angeht, so kann ich dir sagen, dass es ebenso uninteressant ist, mit einem Frauenzimmer zu leben, das Spencer gelesen hat und dir zuliebe bis ans Ende der Welt mitgelaufen ist, als mit irgendeiner x-beliebigen Akulina. Sie riecht genauso nach dem Bügeleisen, nach Puder und Medikamenten, sie trägt genauso jeden Morgen ihre Papilloten, und es ist genau derselbe Selbstbetrug ...«
»Ohne Bügeleisen kommt man in keiner Wirtschaft aus«, sagte Samoilenko und wurde rot, weil Lajewskij so intime Details von einer bekannten Dame erzählte, »du bist, merk' ich, heute nicht bei Laune, Wanja. Nadeschda Fjodorowna ist eine reizende und gebildete Frau, du bist ein sehr begabter Mensch. Warum solltet ihr nicht zusammenpassen? Es ist ja wahr, ihr seid nicht verheiratet«, sagte Samoilenko und sah sich nach den Nachbartischen um, »aber das ist doch nicht eure Schuld, und außerdem der Mensch soll keine Vorurteile haben und sich auf das Niveau zeitgemäßer Ideen erheben. Ich bin selbst für die Ehe ohne Formen, ja . Aber, ich meine, wenn man einmal zusammenlebt, so soll man auch bis ans Lebensende zusammenbleiben.« »Ohne Liebe?«
»Das erkläre ich dir gleich«, sagte Samoilenko. »Vor acht Jahren hatten wir hier einen alten Agenten. Er war ein sehr kluger Mensch. Siehst du, der sagte immer: im Familienleben ist die Hauptsache Geduld ... Verstehst du, Wanja? Nicht die Liebe, sondern die Geduld. Die Liebe kann nicht lange dauern. Zwei Jahre hast du in Liebe gelebt, jetzt ist dein Familienleben augenscheinlich in die Phase getreten, wo du all deine Geduld in Anwendung bringen musst, um das Gleichgewicht zu erhalten.«
»Du glaubst deinem alten Agenten, für mich aber ist sein Rat ein Blödsinn. Der Alte konnte heucheln. Er vermochte es, einen ungeliebten Menschen als Instrument anzusehen, das ihm zur Übung seiner Geduld sehr gute Dienste leisten konnte. So tief bin ich noch nicht gesunken. Wenn ich meine Geduld üben will, kaufe ich mir einen Tumapparat oder ein störrisches Pferd, die Menschen lass' ich in Ruhe.«
Samoilenko bestellte eine Flasche Weißwein mit Eis.
Nach dem ersten Glas fragte Lajewskij plötzlich: »Sag' doch mal, was ist das, Gehirnerweichung?«
»Das, ja, wie soll ich dir's gleich erklären das ist so eine Krankheit, wenn die Gehirnmasse sich erweicht, gleichsam flüssig wird.« »Ist sie heilbar?«
»Ja, wenn die Krankheit noch nicht eingerissen ist. Kalte Duschen, spanische Fliegen. Auch innerliche Mittel gibt's.«
»So, so ... Also siehst du, so liegt die Sache. Ich kann nicht mit ihr leben. Es übersteigt meine Kräfte. Wenn ich mit dir zusammen bin, siehst du, dann philosophiere ich und bin heiter, zu Hause aber verliere ich ganz meinen Mut. Ich fühle mich so hochgradig beengt; wenn man mir z. B. sagte, ich müsste auch nur noch einen Monat mit ihr Zusammenleben, ich glaube, ich würde mir eine Kugel in den Kopf schießen. Und auseinander können wir auch wieder nicht... Sie steht allein in der Welt, versteht nicht zu arbeiten, Geld haben wir beide keins.
Wohin soll sie gehen? Zu wem? Kein Ausweg ... Nun sag' mir mal, was ist da zu machen?«
»M-ja«, brummte Samoilenko, er wusste keine Antwort, »liebt sie dich denn?«
»Ja, sie liebt mich gerade so weit, als sie in ihren Jahren und bei ihrem Temperament einen Mann nötig hat. Von mir würde sie sich ebenso schwer trennen wie von ihrem Puder und ihren Papilloten. Ich bin ihr ein notwendiges Boudoirrequisit.«
Samoilenko wurde verlegen. »Du bist heute schlecht aufgelegt, Wanja«, sagte er, »du hast offenbar nicht gut geschlafen.«
»Ja, ich habe schlecht geschlafen. Ich fühle mich überhaupt nicht wohl. Ich habe so eine Leere im Kopf, der Herzschlag stockt, und dabei fühle ich mich so schwach. Ich muss entfliehen.«
»Wohin denn?«
»Dahin, nach dem Norden. Zu den Tannen, zu den Pilzen, zu den Menschen, zu den Ideen.
Mein halbes Leben gäbe ich darum, könnte ich jetzt irgendwo im Gouvernement Moskau oder Tula sein und in einem Bach baden, weißt du, dass man ganz durchkältet wird, und dann spazieren, bummeln ein paar Stunden, wenn auch mit dem minimalsten Studentlein, und schwatzen, schwatzen. Und wie es da nach Heu duftet! Weißt du noch? Und abends, wenn man im Garten auf und ab geht und aus dem Hause das Klavier ertönt und in der Ferne die Eisenbahn vorbeirasselt «
Lajewskij lachte vor Vergnügen, und die Tränen traten ihm in die Augen. Um sie zu verbergen, reckte er sich, ohne aufzustehen, nach Zündhölzern zum Nebentisch hinüber.
»Achtzehn Jahre sind's jetzt, dass ich nicht mehr in Russland war«, sagte Samoilenko, »ich weiß gar nicht mehr, wie es dort aussieht. Ich glaube, es gibt auch kein herrlicheres Land als den Kaukasus auf der ganzen Welt.«
»Wereschtschagin hat ein Bild gemalt: da quälen sich die zum Tode Verurteilten auf dem Grund eines tiefen Schachtes. Wie solch ein Schacht kommt mir dein herrlicher Kaukasus vor. Wenn ich die Wahl hätte und könnte entweder Schornsteinfeger in Petersburg oder Fürst auf dem Kaukasus werden, ich würde lieber Schornsteinfeger sein, als hier unter einer Platane liegen und irgendeine idiotische, dreckige Lesghinierin anglotzen. Und die Tscherkessinnen, was für ein Schund ist das bei Licht besehen.«
»Sag’ das nicht.«
Lajewskij versank in Gedanken. Samoilenko musterte seine gebeugte Gestalt, die ins Leere starrenden Augen, das blasse, schweißige Gesicht, die eingefallenen Schläfen, die abgekau­ten Nägel und den Pantoffel, der von der Ferse hinunterhing und einen mangelhaft gestopften Strumpf sehen ließ, und fühlte Mitleid mit ihm. Und wahrscheinlich, weil er ihm wie ein hilfloses Kind vorkam, fragte er: »Lebt deine Mutter noch?«
»Ja, aber wir sind ganz auseinander. Sie konnte mir diese Verbindung nicht verzeihen.«
Samoilenko hatte seinen Freund gern. Er sah in ihm einen guten Kerl, eine studentische Seele, einen zwanglosen Menschen, mit dem man gut ein Glas Wein trinken, einen Scherz machen und nach Herzenslust schwatzen konnte. Was er an ihm verstand, gefiel ihm durchaus nicht. Lajewskij trank viel und außer der Zeit, spielte Karten, kümmerte sich nicht um seine Arbeit, lebte über seine Mittel, gebrauchte häufig im Gespräch unpassende Ausdrücke und zankte sich in Gegenwart dritter mit Nadeschda Fjodorowna das alles gefiel Samoilenko durchaus nicht. Andererseits hatte Lajewskij Philosophie studiert, war auf zwei dickleibige Zeitschriften abonniert, redete oft so klug, dass nur wenige es verstanden, und lebte mit einer intelligenten Frau zusammen das alles verstand Samoilenko nicht, und es gefiel ihm. Dafür stellte er Lajewskij über sich und empfand Hochachtung vor ihm.
»Noch eine Kleinigkeit«, sagte Lajewskij kopfschüttelnd, »es bleibt aber unter uns. Ich verheimliche es noch vor Nadeschda Fjodorowna, verplappere dich nicht ihr gegenüber. Vorgestern hab' ich einen Brief bekommen: ihr Mann ist an Gehirnerweichung gestorben.«
»Gott hab ihn selig!« stieß Samoilenko hervor, »warum verheimlichst du ihr das denn?«
»Ihr diesen Brief zeigen, das hieße einfach: sei so freundlich und komm in die Kirche zur Trauung. Aber zuerst muss Klarheit in unsere Beziehungen kommen. Wenn sie sich überzeugt hat, dass ein weiteres Zusammenleben zwischen uns unmöglich ist, dann zeig' ich ihr den Brief. Dann hat es keine Gefahr mehr.«
»Ich will dir was sagen, Wanja«, sagte Samoilenko, und sein Gesicht bekam plötzlich einen betrübt...

Inhaltsverzeichnis

  1. Über dieses Buch
  2. Der Autor
  3. Die Übersetzer
  4. Der Herausgeber
  5. Inhaltsverzeichnis
  6. Widmung
  7. Die Bauern
  8. Wolodja der Große und Wolodja der Kleine
  9. Ein Zweikampf
  10. Das Glück
  11. Das neue Landhaus
  12. Der Kuss
  13. Der Taugenichts [Mein Leben]
  14. Typhus
  15. Die Dame mit dem Spitz
  16. Die Leichtbeschwingte
  17. Die letzte Mohikanerin
  18. Eine Bagatelle
  19. Eine schreckliche Nacht
  20. Elend
  21. Gram
  22. Jonytsch
  23. Schatten des Todes
  24. Träume
  25. Wolodja
  26. Zu Hause
  27. Buchanzeige
  28. Impressum