Migräne
Was ist Migräne?
Migräne ist eine Erkrankung des Gehirns. Es kommt zu wiederkehrenden Kopfschmerzen, die häufig, aber nicht immer, einseitig lokalisiert sind. Die meisten Betroffenen beschreiben den Schmerz als pochend oder pulsierend, es können aber auch drückende Kopfschmerzen auftreten. Solche Attacken kommen in wechselnder Häufigkeit vor. Die Dauer einer Migräneattacke variiert meist zwischen wenigen Stunden und einigen Tagen. Manchmal können die Beschwerden auch länger als 72 Stunden anhalten. Dauert eine Migräneattacke mehr als drei Tage, spricht man von einem Migränestatus (Status migraenosus, siehe S. 19). Während der Kopfschmerzattacke bestehen häufig Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Lichtscheu (Photophobie), Lärmempfindlichkeit (Phonophobie) oder Überempfindlichkeit gegenüber Gerüchen (Osmophobie). Häufig kommt es zu einem allgemeinen Krankheitsgefühl mit einem vermehrten Ruhebedürfnis, das viele Betroffene dazu zwingt, im Bett zu bleiben und in einem abgedunkelten Raum Ruhe zu suchen. Ganz typisch ist, dass Migränekopfschmerzen bei körperlicher Anstrengung (z. B. Treppensteigen) zunehmen. Dies kann ein gutes Kriterium sein, Migräne von anderen Kopfschmerzen zu unterscheiden. Wenn Sie auf der Stelle hüpfen und die Kopfschmerzen nehmen zu, spricht das sehr für einen Migräneanfall (Hüpftest).
Ist Migräne erblich bedingt: Wieso habe gerade ich Migräne?
Das erhöhte Risiko, an einer Migräne zu erkranken, wird vererbt – in anderen Familien taucht die Migräne als Erkrankung überhaupt nicht auf. Etwa zwei Drittel der Migränepatienten berichten über weitere Betroffene in ihrer Familie. Häufig lässt sich die Erkrankung über Generationen zurückverfolgen, all dies spricht für eine Rolle der Vererbung. Die exakte Erbinformation (Gen) für die Migräne ist bislang nicht bekannt. Vererbt wird das Risiko, an einer Migräne erkranken zu können, nicht jedes Mitglied einer Familie muss damit zwangsläufig erkranken. Es gibt auch nicht ein Migränegen, sondern verschiedene Veränderungen im Erbgut, die mit einem erhöhten Risiko zu erkranken verbunden sind. In den letzten Jahren wurden hier wesentliche Fortschritte durch Studien gemacht, bei denen Gene aus dem Blut tausender Migränepatienten untersucht wurden. Letztlich ist dies für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn bedeutsam, für Ihre eigene Krankengeschichte und Ihre Behandlung aber noch nicht hilfreich.
Ob jemand tatsächlich an Migräneanfällen leidet, hängt wesentlich auch von den Lebensbedingungen ab. Bei Menschen, die an Migräne leiden, kommen eine familiäre Vorbelastung (genetische Prädisposition) und Umweltfaktoren, z. B. Stress als Auslöser, zusammen. Insofern ähnelt Migräne Erkrankungen wie dem Diabetes mellitus („Zuckerkrankheit“), denn auch hier treffen familiäre Veranlagung und Risikofaktoren, wie z. B. Übergewicht, aufeinander. Für beide Erkrankungen gilt, dass glücklicherweise nicht jedes Familienmitglied erkrankt. Wie die Migräne auftritt, kann auch von Familie zu Familie unterschiedlich sein. Auren können familiär gehäuft auftreten, auch bei der chronischen Migräne scheint die Genetik einen Einfluss zu haben. Die Ausprägung der Migräne, die Intensität einer Migräneattacke, deren Häufigkeit, das Auftreten einer Aurasymptomatik oder das Vorkommen von Begleitsymptomen ist von Betroffenem zu Betroffenem verschieden und kann sich im Verlauf des Lebens auch verändern.
Nur in sehr wenigen Familien besteht eine genetisch nachweisbare besondere Form der Migräne, die familiär hemiplegische Migräne (FHM), die sich auch hinsichtlich des Ablaufs der Attacken von anderen Formen unterscheidet (siehe Hemiplegische Migräne, S. 22).
Wie entsteht ein Migräneanfall?
Um die Vorgänge, die sich bei einem Migräneanfall im Gehirn abspielen, zu verstehen, werden zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen durchgeführt – trotzdem ist vieles, was während eines Migräneanfalls auftritt, noch immer nicht vollends verstanden. Menschen mit Migräne sind sehr leistungsfähig. Bei Patienten mit Migräne besteht eine Überempfindlichkeit der Nervenzellen der Hirnrinde, dies führt zu einer verminderten Fähigkeit, das eigene Gehirn vor Reizüberflutungen abzuschirmen. Diese Überempfindlichkeit kann nicht nur während der Migräneattacke, sondern auch zwischen den Migräneattacken bestehen.
In den letzten Jahren konnte gezeigt werden, dass schon am Tag vor einem Migräneanfall Aktivitätsänderungen im Gehirn mittels spezieller kernspintomographischer Untersuchungen erkennbar werden. Dies betrifft den Bereich des Hypothalamus, von dort ausgehend verändert sich dann die Aktivität von Nervenzellen im Hirnstamm am Nervenkern des Gesichtsnervs (Nervus trigeminus). Im Verlauf erfolgen eine Aktivierung schmerzverarbeitender Zentren sowie eine Ausschüttung von schmerzvermittelnden Botenstoffen (Neurotransmittern) an den Blutgefäßen der Hirnhäute. Einer der wichtigsten Botenstoffe ist hier das CGRP (Calcitonin Gene-Related Peptide). Während eines Migräneanfalls wurde eine erhöhte Ausschüttung von CGRP ins Blut gemessen, die sich durch die Behandlung der Schmerzen mit einem Triptan wieder zurückbildet. Körperliche Aktivitäten (z. B. schwungvolles Aufstehen oder das Hinauflaufen einer Treppe) können den pulsierenden Kopfschmerz verstärken. Die Wahrnehmung erfolgt über schmerzleitende Fasern des Nervus trigeminus. Dessen Ursprung liegt im Hirnstamm. Er ist u. a. für die Wahrnehmung von Reizen (Sensibilität) von Gesicht, Hirnhäuten und dem größten Teil des Kopfes verantwortlich. Außerdem kommt es im Hirnstamm zur Aktivierung von Zentren, die für vegetative Funktionen (Herz-Kreislauf-Regulation, Übelkeit, Erbrechen) verantwortlich sind. Die Wahrnehmung schaltet im Migräneanfall auf „empfindlich“ (Sensitivierung): Licht, Lärm und körperliche Aktivität (Erschütterung) werden als unangenehm empfunden.
Abbildung 2Die Migräne beginnt im Bereich des Hirnstammes (1). Beteiligt sind das für die Schmerzleitung entscheidende Nervengeflecht des Gesichtsnervs, das Ganglion trigeminale (2) und das unwillkürliche Nervensystem (Parasympathikus) mit Umschaltung im Ganglion pterygopalatinum (3). An den Gefäßen der Hirnhaut (Dura) (4) kommt es zur Ausschüttung von Botenstoffen (Neurotransmittern), die die Gefäßweite verändern und zu einer schmerzhaften Entzündungsreaktion führen. Die Migräne breitet sich über das Zwischenhirn (5) aus, der Schmerz wird dann in der Hirnrinde (6) bewusst wahrgenommen. Die Wahrnehmung für Licht und Lärm wird bis zur Schmerzhaftigkeit intensiviert, da eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Außenreizen besteht.
Viele Patienten berichten, dass ihre Kopfschmerzen im Nacken beginnen oder aus der Schulter-Nacken-Region in den Kopf aufsteigen. Ursache ist nicht eine Veränderung im Bereich der Halswirbelsäule, sondern die intensivere Wahrnehmung der Muskelanspannung im Migräneanfall. Nervenfasern aus der Halsmuskulatur leiten ihre Schmerzinformation über den Hinterhauptnerv zum Gehirn in das schmerzverarbeitende Zentrum des Nervus trigeminus.
Migräne ist also eine komplexe neurobiologische Funktionsstörung des Gehirns und der Blutgefäße von Kopf und Gehirn. Aber Migräne beinhaltet viel mehr als die unangenehmen Kopfschmerzen.
Wie häufig ist Migräne?
Migräne gehört zu den häufigen Kopfschmerzerkrankungen, sie ist auf der ganzen Welt verbreitet. Insgesamt leiden ca. 15 % der Bevölkerung an Migräne, wobei Frauen häufiger betroffen sind als Männer. Die meisten Betroffenen gibt es zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. Migräne tritt jedoch auch schon im Kindesalter auf – die Häufigkeit liegt hier bei mindestens etwa 5 %. Jungen und Mädchen sind im Kindesalter etwa gleich häufig betroffen. Die erste Regelblutung ist bei Mädchen ein typischer Zeitpunkt des Auftretens der ersten Migräneattacken. Ein deutlicher Geschlechtsunterschied ergibt sich dadurch während oder nach der Pubertät. In den letzten Jahren ist die Häufigkeit von Kopfschmerzen und Migräne bei Kindern und Jugendlichen angestiegen. Auch junge Erwachsene scheinen häufiger betroffen zu sein.
Welche Formen der Migräne gibt es?
Migräne ohne Aura
Treten die Kopfschmerzen mit den Begleitsymptomen Übelkeit, Erbrechen, Licht- und Geräuschempfindlichkeit im beschriebenen Zeitmuster auf (Anfallsdauer beim Erwachsenen 4–72 Stunden, bei Kindern kürzer) und fehlen weitere Symptome, spricht man von einer Migräne ohne Aura. Hierbei handelt sich um die häufigste Form der Migräne.
Migräne mit Aura
Bei ca. 15–25 % der Migränepatienten besteht meist vor Eintritt der Kopfschmerzen eine Aura. Bei der Aura handelt es sich um neurologische Reiz- und Ausfallerscheinungen, die sich vor den Kopfschmerzen langsam entwickeln und sich meist innerhalb von einer Stunde wieder zurückbilden. Es wird diskutiert, dass Erscheinungen, von denen die mittelalterliche Mystikerin Hildegard von Bingen berichtete, einer Migräneaura entsprochen haben. Auch viele Künstler scheinen unter einer Migräneaura gelitten zu haben, was sich zum Teil in ihren Werken nachvollziehen lässt. Wichtige Forschungsarbeiten dazu entstanden 1941 durch den amerikanischen Psychologen Karl Lashley, der seine eigene Aura zeichnete und daraus eine Theorie der neuronalen Dysfunktion entwickelte. Experimentell konnte dann durch den Brasilianer Aristides Leão 1944 das Phänomen geklärt werden. Bei der Migräneaura breitet sich eine Erregungswelle über die Hirnoberfläche aus, diese wird als Cortical Spreading Depression (CSD) bezeichnet. Sie breitet sich zumeist im Bereich der Region, die für das Sehen wichtig ist (Sehrinde), langsam aus und kann dann über die ganze Hirnoberfläche ziehen. Im Anschluss ist die übliche Aktivität der Nervenzellen für kurze Zeit gestört, was die Funktionsstörungen im Rahmen einer Aura erklärt. Die Geschwindigkeit dieser Ausbreitung beträgt 3–5 mm/Minute, dabei kommt es zum Einstrom von Natrium und Calciumionen sowie zum Ausstrom von Kalium, Glutamat und anderen Substanzen an der Zellmembran. Durch diese Depolarisationswelle entsteht eine Funktionsstörung, die sich dann im Verlauf erholt. Eine CSD wird außer bei der Migräne auch nach Hirnschädigungen wie akuten Schlaganfällen oder Schädel-Hirn-Trauma beobachtet. Im Tierversuch ist die Auslösung einer CSD bei weiblichen Ratten oder wenn bei den Tieren eine Mutation wie bei der menschlichen familiären hemiplegischen Migräne besteht, deutlich häufiger, dies könnte erklären, warum Frauen häufiger an einer Migräneaura leiden und warum Auren bei Patienten mit familiärer hemiplegischer Migräne besonders ausgeprägt sind.
Charakteristisch ist ein Abklingen der Symptome spätestens mit Beginn der Migränekopfschmerzen. Aurasymptome werden nicht wie mit einem Schalter „ein- oder ausgeschaltet“. Die langsame Ausbreitung ist ein wichtiges Kennzeichen, um eine Migräneaura von z. B. Erscheinungen eines Schlaganfalles, der schlagartig auftritt, zu unterscheiden. Am häufigsten kommt es zu einer visuellen Aura, d. h. Sehstörungen in Form von gezackten Linien oder Lichtblitzen (Flimmerskotom), bis hin zu Gesichtsfeldausfällen. Migräneauren dauern pro Symptom zwischen einigen Minuten bis zu 60 Minuten an, bestehen also Sehstörung, Kribbeln und Sprachstörung, kann eine Aura auch 2–3 Stunden andauern. Die häufigste Auraform ist die...