Kapitel 1:
Bestandsaufnahme
Erhältst du indirektes Feedback?
Eines Abends traf ich in einer Studentenkneipe einen wissenschaftlichen Mitarbeiter aus dem Matheinstitut, den ich bereits aus einer Veranstaltung kannte. Damals hatte ich gerade begonnen mir erste Gedanken zum Thema Lehre zu machen und so kamen wir darauf zu sprechen.
Am Tag zuvor war mir ein Aushang mit den Ergebnissen einer Grundlagenvorlesung aufgefallen, wenn ich mich richtig erinnere handelte es sich um "Ingenieursmathematik I". Insgesamt war dort ein Notendurchschnitt von deutlich über 4,0 zu sehen und eine Durchfallquote jenseits von 80%.
Hattest du auch schon mal ein derartiges Ergebnis und falls ja, wie hast du das interpretiert?
Der wissenschaftliche Mitarbeiter betreute besagte Vorlesung und ich war neugierig, wie er dieses Ergebnis wahrnahm. "Wir haben das Skript überarbeitet, das ist jetzt super und total verständlich aufgebaut. Daran, wie wir die Vorlesung halten, kann es nicht liegen. Die hohe Durchfallquote liegt wahrscheinlich an den Studenten selbst. Die haben wohl einfach nichts getan oder das Ganze nicht ernst genug genommen!"
Teilweise konnte ich seine Sicht auf die Dinge nachvollziehen. In seinen Augen und mit seinem Hintergrund (er arbeitete seit mehreren Jahren am Institut) war die Vorlesung inhaltlich nachvollziehbar aufgebaut. In der Veranstaltung saß aber ein ganz anderes Publikum, mit anderen Hintergründen, Interessen, Zielen sowie Fähigkeiten und Potenzialen.
Das Ergebnis der Klausur ist ein Symptom dafür, dass die Veranstaltung nicht darauf ausgelegt war, die Teilnehmer beim Prozess des Lernens zu unterstützen. Ich bezeichne das als eine Form von indirektem Feedback für den Dozenten. Der Umkehrschluss gilt dabei nicht unbedingt. Eine Prüfung die sehr gut ausfällt ist nicht zwangsläufig darauf zurückzuführen, dass auch erfolgreiche Lehre praktiziert wurde.
Solches Feedback kann sich auch auf andere Art zeigen. Generell niedrige Teilnehmerzahlen in der Vorlesung, eine entsprechend geringe Beteiligungsquote oder die spürbare Abwesenheit anwesender Studenten sind ebenfalls wichtige Hinweise. Oft kommen sogar mehrere Dinge zusammen. So auch in meiner Studienzeit, dazu gleich mehr im folgenden Kapitel.
Zuvor möchte ich dich einladen kurz zu reflektieren. Das nächste Kapitel wartet auf dich, bis du damit fertig bist:
• Hast du das Verhalten der Studenten und deren Ergebnisse schon einmal als Feedback angesehen?
• Falls nicht, was ist deine Begründung dafür, das nicht zu tun?
• Denkst du es muss Veranstaltungen geben mit denen stark aussortiert wird, da heute einfach zu viele studieren wollen?
• Gibt es eine Art "Betriebsblindheit" vielleicht auch im Bereich der Lehre?
• Was weißt du über die Studenten in deiner Vorlesung und über die Gründe, warum Sie diese besuchen?
Zustand der Lehre
Damals habe ich mich für mein Bachelor-Studienfach (Angewandte Mathematik) entschieden, weil mich das Thema wahrhaft begeistert hat. Ich war voller Vorfreude, wollte Neues lernen und mehr darüber erfahren, wie das alles genau funktioniert. Das änderte sich auch im Lauf des Studiums nicht. So habe ich jedes Semester gut überlegt und Veranstaltungen ausgesucht, die mich besonders interessierten. Nach den notwendigen organisatorischen Infos ging es dann los.
Fast alle Veranstaltungen hatten dasselbe Format. Die Dozenten machten dem Namen Vor-LESUNG alle Ehre. Inhalte wurden einfach trocken aneinandergereiht und meist genauso monoton vorgetragen. Ganz so, als ob jemand einfach eine Liste mit Stichpunkten vortragen würde. Dazwischen ein paar Mal der Versuch, Studenten durch Fragen mit einzubinden, was allerdings so gut wie nie funktionierte.
Fast ausschließlich lag der Fokus auf der Vorstellung theoretischer Konstrukte. Doch wie kam man auf diese Ideen? Wie wurden die Methoden entwickelt? Und welche Bedeutung haben diese? Wie und wo werden sie heute verwendet, in der Forschung aber auch der Wirtschaft? Nur selten gab es hierzu Antworten, welche dann meist nur aus wenigen Sätzen bestanden.
Alles zusammen genommen war das Ergebnis, dass meine anfängliche Begeisterung innerhalb weniger (Unterrichts-) Stunden im wahrsten Sinn zu Nichte gemacht wurde. Jedes Semester aufs Neue habe ich versucht die Begeisterung für die Themen aufrecht zu erhalten und dem Ganzen zu folgen. Doch schon nach wenigen Veranstaltungen musste ich fast immer aufgegeben. Nicht, dass ich nichts verstanden hätte, sondern weil ich keinerlei Mehrwert darin sah, meine Zeit in solch ermüdenden Veranstaltungen abzusitzen. Veranstaltungen die mir leider nicht dabei halfen, etwas wirklich zu lernen.
Um dem zu entfliehen, habe ich mich lieber in das gemütliche Café der Mensa gesetzt. Skripte und Bücher arbeitete ich dort durch und erschloss mir so selbstständig die Themen. Und das schließlich auch mit großem Erfolg, einem sehr guten Abschluss im Bachelor- als im Masterstudium.
Diese Erlebnisse haben mich aber nicht losgelassen. Eine Situation am Ende des Studiums unterstreicht das Ganze nochmal: Nach der letzten Prüfung traf ich in der Bibliothek eine Freundin und erzählte natürlich, dass ich nun endlich alles geschafft hatte. Auch sie schien darüber sehr erleichtert zu sein: "Freut mich! In letzter Zeit, wenn wir über das Thema Vorlesungen und Studium geredet haben, warst du ja nur noch frustriert…"
Was war der Grund für meine negative Wahrnehmung der Lehre? Lag es an mir selbst? Hatte ich falsche Erwartungen, mir unter den Themen etwas anderes vorgestellt? War ich eine Ausnahme, dass ich mit den Veranstaltungen und wie sie aufgebaut waren nicht klar kam?
Ich machte mich auf die Suche nach Antworten. Doch ähnlich zur Wissenschaft stößt man auf einem solchen Weg auf weitere Fragen, unter anderem die folgende…
Wie viele gute Vorlesungen hattest du?
Im vorherigen Abschnitt habe ich bewusst den Fokus auf negative Aspekte gelegt, um die Probleme der Lehre deutlich zu machen. Natürlich war nicht alles schlecht, so dass ich mich eines Tages fragte, wie viele "gute" Vorlesungen ich rückblickend eigentlich hatte.
Veranstaltungen zu denen ich gerne gegangen bin, die nicht nur informativ, sondern auch unterhaltsam waren. Vorlesungen, bei denen ich schließlich wirklich etwas gelernt habe, was mir noch langfristig in Erinnerung geblieben ist. Etwas, dass ich vielleicht sogar einmal erfolgreich praktisch anwenden konnte.
Denk bitte einfach mal kurz zurück an deine eigene Studienzeit, nicht deine Tätigkeit als Dozent. An wie viele Vorlesungen dieser Art kannst du dich erinnern?
Meine ehrliche Antwort auf die Frage war: zwei. Bei ca. fünfzig Vorlesungen im Verlauf des Bachelor- und Masterstudiums ein, gelinde gesagt, ernüchterndes Ergebnis. Nach dieser Erkenntnis versuchte ich herauszufinden, ob es nur mir so ging und wie andere ihre Erfahrungen bewerteten.
So habe ich im Lauf der nächsten Jahre zahlreichen Freunden, Kommilitonen und Bekannten dieselbe Frage gestellt. Darunter auch viele Studenten anderer Hochschulen als meiner eigenen. Bis heute (mehrere Jahre später) habe ich noch nie eine Antwort bekommen, die man nicht an einer Hand abzählen konnte. Meine Erfahrungen waren also keine Ausnahme, sondern vielmehr der Normalfall.
In der Lehre an unseren Universitäten scheint also grundsätzlich etwas falsch zu laufen. Deshalb habe ich mich aufgemacht herauszufinden, wie es dazu kommt. Ich versuchte zu verstehen was Lernen und Lehre überhaupt ausmacht und ob es Möglichkeiten gibt, daran etwas zu verbessern.
Vorab noch kurz ein Wort zu verschiedenen Universitäten. Auch die sogenannten "großen" oder "Elite-" Universitäten unterscheiden sich nicht in der Art und Weise, wie dort gelehrt wird. Nur weil sie dieses Label tragen, bedeutet nicht, dass dort bessere Dozenten arbeiten, besser motivierte Studenten in den Veranstaltungen sitzen und alle Vorlesungen vorbildlich sind.
Sicher, Lehre ist nicht überall identisch. Einige Ansätze unterstützen das Lernen, andere bewirken genau das Gegenteil. Ich konnte dabei jedoch keine Korrelation zur Art der Bildungseinrichtung feststellen.
Eine Behauptung, von der man sich relativ schnell selbst überzeugen kann. Mitschnitte, Aufzeichnungen und Unterlagen von Lehrveranstaltungen sind inzwischen von fast jeder Universität verfügbar. Per Internet und einschlägiger Videoportale kann man sich ohne Probleme ein eigenes Bild machen.
Vielleicht magst du es direkt einmal ausprobieren und selbst einen Blick auf einige Vorlesungen werfen? Womöglich entdeckst du dabei bereits einige Muster der Lehre und was diese bewirken – im Positiven oder Negativen.
Wie kommt es dazu?
Ich war etwas ratlos. Nach und nach wurde deutlich, dass meine Einschätzung von so ziemlich jedem Studenten geteilt wurde, mit dem ich sprach. Die Lehre ist wirklich in einem schlechten Zustand. Doch die Dozenten und Professoren haben ja genau diese Art der Lehre während ihrer Ausbildung miterlebt – warum machen Sie es dann genau so, wenn Sie später selbst diese Rolle einnehmen?
Dazu Ein kurzes Experiment. Lies bitte den folgenden Begriff und beobachte, was du dir dazu vorstellst:
"Vorlesung"
Wie sehr ähnelt das, was du dir vorgestellt hast, dem Bild einer "klassischen" Vorlesung, eine Veranstaltung bei der ein Dozent vor dem Publikum steht, referiert und versucht etwas zu erklären?
Mir ging es anfangs nicht anders. Das zeigt wie sehr wir durch unsere vergangenen Erlebnisse geprägt wurden. Oder hast du eine Veranstaltung gesehen, bei der tatsächlich eine Zusammenarbeit zwischen Dozent und Publikum stattfindet und der Großteil der Teilnehmer mit Freude am Lernen bei der Sache ist? Denkst du vielleicht gerade das sei utopisch und unrealistisch?
Ein Grund, dass wir in der aktuellen Situation feststecken, ist das Fehlen von positiven Beispielen und Vorbildern. Wie bereits angesprochen ähneln sich die Verhältnisse in verschiedenen Vorlesungen, Fachbereichen, Hochschulen - und sogar Ländern. Jeder, der momentan selbst anfängt in dieser Richtung zu arbeiten, hat fast ausschließlich Lehre in Form von "Vorlesen" kennengelernt.
Bleibt man sich dessen unbewusst, kopiert man einfach Muster, welche man so oft erlebt und dadurch automatisch verinnerlicht hat. Nach wenigen Veranstaltungen steht man ebenso vorne und liest einfach nur vor. Ich gebe dir also keine Schuld daran, wenn du im Moment noch eine klassische Vorlesung mit den negativen Konsequenzen abhältst.
Manchmal ist der Wille da, Lehre zu verbessern. Dann wird oft versucht eine neue Methode der Didaktik auszuprobieren. Diese verspricht vielleicht eine Lösung für viele Probleme zu sein. Doch die Wenigsten befassen sich mit den notwendigen Grundlagen dazu, wie Lernen (nicht Lehre) überhaupt funktioniert. Sieht man sich die tatsächliche Wirkung an, schließt das oftmals die Entwickler besagter Methoden mit ein.
Auch hier kann man nur schwer einen Vorwurf formulieren. Schließlich gibt es wenig hilfreiche Literatur, die sich dem Thema annimmt. Außerdem bleibt durch die zwanghafte Kopplung von Lehre, Forschung und administrativen Aufgaben oft nicht die Zeit, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen.
Darüber hinaus gibt es einige Dozenten, die sich einfach überhaupt nicht für eine Lehrtätigkeit interessieren. Es war ihnen noch nie ein Anliegen, dieser Arbeit nachzugehen. Jedes Semester aufs Neue machen sie dies nur wiederwillig, weil es gefordert wird und nun mal Teil des Arbeitsvertrages ist.
Um an den eigentlichen Ursachen arbeiten zu k...