1.1 Sedlmayr zitiert Bollnow – eine Anekdote aus dem Merkur
Am 26. Mai 1955 schickt Hans Paeschke, Redakteur des Merkur, dem Philosophen und Pädagogen Otto Friedrich Bollnow die Mai-Ausgabe der Zeitschrift,1 die einen Artikel des österreichischen Kunsthistorikers Hans Sedlmayr enthält, nämlich seine Arbeit »Die wahre und die falsche Gegenwart« (Sedlmayr 1955). In ihr zitiert Sedlmayr auch aus Bollnows Buch Das Wesen der Stimmungen (Bollnow 1941; vgl. Sedlmayr 1955, S. 432; S. 436; S. 440f.). Bollnow kommt in seinem Antwortschreiben vom 29. Juni 1955 auf Sedlmayrs Arbeit zu sprechen. So habe es ihn sehr gefreut, dass seine
von den Philosophen vielfach bespöttelten Gedanken zur Zeitproblematik hier in einem positiven Sinn aufgenommen sind. Dass bei einer so starken Übereinstimmung auch dort, wo ich nicht erwähnt werde, meine Beispiele und die von mir ausgewertete Literatur in den neuen Text übergeht (O. Becker, M. Proust), liegt in der Natur der Sache und ist nur zu begrüßen. Bedenken hatte ich nur an der einen Stelle, 436, Z. 13, wo mein Name in Verbindung mit dem in Anführungszeichen gesetzten Wort »zeitfrei« mich als Vertreter einer der beiden Zeitformen festzulegen scheint, während ich doch die Doppelheit betont hatte.
Dies hat mich veranlasst, in meinem eigenen Text nachzusehen, wie weit dieser Schein von dort her naheliegen könnte, und dabei stellte sich dann eine für mich selber überraschende Übereinstimmung der Auffassungen bis in den Wortlaut hinein heraus. Zu meiner Erheiterung – nicht etwa als Beschwerde – habe ich auf beiliegendem Blatt meinen damaligen Text und den parallelen (ohne Anführungszeichen gesetzten) Text bei Sedlmayr gegenübergestellt (Bollnow an Paeschke, 29.6.1955).2
Bollnow schickt die Gegenüberstellung seines eigenen Texts und Sedlmayrs Adaption mit (Abb. 1). Er ist auch bemüht, aus dieser Affäre keinen Skandal zu machen, betont er doch später im Brief abermals, dass diese Gegenüberstellung keine Beschwerde beinhalten solle, sondern ihm dieses »Kuriosum solchen Spaß gemacht« (Bollnow an Paeschke, 29.6.1955) habe, dass er es der Redaktion lediglich nicht vorenthalten wollte:
Jedenfalls kann sich trotz der Nennung meines Namens kein unbefangener Leser eine Ahnung von dem Grad der Übereinstimmung bilden. – Auch die Entstehungsgeschichte scheint mir klar zu sein: ein Vortragsmanuskript ist unbesehen in den Druck gegeben worden (Bollnow an Paeschke, 29.6.1955).
Bollnow trägt seine Irritation über Sedlmayrs Umgang mit dem Quellentext, wenn auch in aller Deutlichkeit, so doch mit ausgesprochener Kulanz an die Redaktion des Merkur heran. An keiner Stelle benutzt er das Wort »Plagiat«. Joachim Moras, der Bollnows Brief in Abwesenheit von Paeschke beantwortet, reagiert in seiner Funktion als zweiter Herausgeber der renommierten Zeitschrift freilich nicht mit dieser Gelassenheit. In einem Brief vom 5. August 1955 an Bollnow schreibt Moras:
Es ist mir wirklich noch nicht begegnet, dass ein plagiierter Autor mit so viel Langmut eine nur zu berechtigte Beschwerde allzu vertrauenswürdigen […] Herausgebern formuliert. Die ungenaue Art der Zitierung, die nun nicht nur an den von Ihnen angeführten Stellen wie mit Händen zu greifen ist, hätte uns stutzig machen können. Wenn ich mich recht erinnere,3 gehen Sie sogar in einer wahrlich selbstlosen Bemühung um Objektivität so weit, dem Autor alle mildernden Umstände zuzusprechen, und ich bin nicht sicher, ob er sie in Anspruch nehmen dürfte (Moras an Bollnow, 5.8.1955).
Moras erwähnt in diesem Brief zudem, dass er Sedlmayrs 1948 publizierten Bestseller Verlust der Mitte, in dem Bollnow ebenfalls zitiert wird (vgl. Sedlmayr 1951a, S. 170; S. 238), abermals durchgesehen habe, »wo der gleiche Mangel an Sorgfalt bei den vermutlich noch viel umfangreicheren Zitierungen festzustellen« (Moras an Bollnow, 5.8.1955) sei.
Die Redaktion des Merkur will Sedlmayr Bollnows Gegenüberstellung zukommen lassen, um ihn in der Nüchternheit philologischer Evidenz auf die »erstaunliche ›Parallele‹« (Moras an Bollnow, 5.8.1955)4 aufmerksam zu machen. Vermutlich wird dieser Plan auch umgesetzt. So berichtet Moras in einem Brief an Bollnow vom 1. Dezember 1955, dass er Gelegenheit hatte, Sedlmayr zu sprechen. Sedlmayr sei über die »berechtigte Beschwerde bestürzt« gewesen und habe auch bemerkt, dass er Bollnow schon »sein Bedauern darüber ausgesprochen« habe, »dass er die Paraphrasen als solche versehentlich nicht kenntlich gemacht habe« (Moras an Bollnow, 1.12.1955). Dies ist denn auch der Abschluss dieser Affäre, wie sie in der Korrespondenz greifbar wird. Für Sedlmayr und die Redaktion des Merkur hatte diese keine Konsequenzen, nicht zuletzt, weil sie nicht an die Öffentlichkeit gelangte und weil sich Bollnow äußerst nachsichtig zeigte.5
Sedlmayr erinnerte sich aber an diese Affäre, als er seinen Aufsatz 1958 in sein Buch Kunst und Wahrheit integrierte und als Abschlusskapitel unter der Überschrift »Das Problem der Zeit« wieder veröffentlichte (vgl. Sedlmayr 1958, S. 140–159). Anstatt die Zitate aus Bollnows Buch explizit zu markieren und die Paraphrasen deutlich zu kennzeichnen, findet sich im Wiederabdruck von 1958 ungefähr in der Mitte der Passage, zu der Bollnow seine synoptische Gegenüberstellung erstellt hatte, anstatt eines allgemeinen Hinweises auf Bollnow in Klammern (vgl. Sedlmayr 1955, S. 436) eine Fußnote mit folgendem Inhalt: »Das Folgende ist eine freie Paraphrase und Transponierung von zum größten Teil wörtlich zitierten Sätzen aus Friedrich O. Bollnows Buch ›Das Wesen der Stimmungen‹, 2. A. 1943 […]« (Sedlmayr 1958, S. 146). Dass sich diese Fußnote auf ein Folgendes bezieht, wo doch schon der ganze Abschnitt eine Paraphrase nach Bollnow ist, mag irritieren; es ist möglich, dass Sedlmayr selbst nicht mehr genau lokalisieren kann, wo sein ›eigener‹ Text aufhört und die Paraphrase beginnt. Wesentlich ist aber, dass Sedlmayr explizit eine Textpraktik anspricht – die »freie Paraphrase« bzw. »Transponierung« –, die ihm legitim erscheint und Bestandteil seiner wissenschaftlichen Textproduktion ist.
In der Verlagskorrespondenz wird Sedlmayrs Bollnow-Paraphrase von Moras gegenüber Bollnow lediglich indirekt als Plagiat bezeichnet (Moras an Bollnow 5.8.1955). Bollnow wiederum liefert den generös exkulpierenden Hinweis darauf, die fehlenden Nachweise rührten daher, dass es sich bei Sedlmayrs Text womöglich um ein »Vortragsmanuskript« (Bollnow an Paeschke, 29.6.1955) handle, das unlektoriert abgedruckt worden sei. Sedlmayr spricht von einem Versehen, wie Moras berichtet (Moras an Bollnow, 1.12.1955). Mit einer gewissen Beharrlichkeit bestehen alle Beteiligten in ihrer jeweiligen Funktion darauf, aus dieser Affäre keinen Skandal zu machen.
Ohne hier näher auf den Text einzugehen, aus dem dieses Beispiel stammt, kann folgendes bemerkt werden: Sedlmayr weist Zitate nicht nur unzureichend nach, sondern schreibt sie um oder ergänzt sie, um sie in einen neuen Kontext einbinden zu können. Diese Textpraktik birgt das Skandalon des Plagiats, wie dies Moras in seiner Funktion als Redaktor mit verhaltenem Schrecken artikuliert. Wie sich an der Rezeptionsgeschichte von Sedlmayrs Texten zeigen lässt, wird das, was hier Anekdote bleibt, für die Opponenten Sedlmayrs zu einem evidenten und philologisch validierten Argument, Sedlmayrs ideologische und wissenschaftliche Lauterkeit in Frage zu stellen (bspw. Zaunschirm 2004, S. 247). In den Aussagen Bollnows lässt sich hingegen eine pragmatischere Lesart ausmachen. Bollnow begreift Sedlmayrs Um-Schreibung des Originaltextes vorerst als Lapsus, der jedem Autor unterlaufen kann. Er schreibt, es liege in der Natur der Sache, dass Sedlmayr die gleichen Beispiele aus der Literatur anführe, und sieht seine Gedanken abgesehen von der erwähnten Stelle bestätigt. Dies macht aber auf etwas Grundsätzliches aufmerksam: In der Korrespondenz zwischen Bollnow, den Herausgebern Paeschke und Moras und Sedlmayr wird eine Konstellation von Autoren, Redakteuren und Lesern sichtbar, die miteinander agieren und interagieren, die schreiben, abschreiben und zitieren, die sich aufeinander beziehen und voneinander abgrenzen. In Bollnows Nachsicht und im stillschweigenden Konsens, Sedlmayrs Plagiat nicht zu skandalisieren, zeichnet sich ab, wie das Öffentlichmachen von Sedlmayrs Vergehen, das für alle Beteiligten prekär wäre, zu verhindern versucht wird. Die Beharrlichkeit, gegen außen die Geschlossenheit und Schlüssigkeit einer intellektuellen Gemeinschaft zu demonstrieren, bringt die Notwendigkeit mit sich, interne Gefährdungen oder Verstöße dagegen zu harmonisieren. In Sedlmayrs Textpraktik selbst, aber auch in deren Kritik lässt sich deshalb jeweils implizit ein bestimmtes Verständnis von Wissenschaftlichkeit und Intellektualität ausmachen, das heißt hier auch: ein Verständnis davon, wie ein Text ausgestaltet zu sein hat, um von dieser Gemeinschaft – intellektuell oder wissenschaftlich – angenommen werden zu können.
Wenn Sedlmayrs Bollnow-Paraphrase auch als Plagiat bezeichnet werden kann, so verbirgt sich gleichzeitig weit mehr hinter solchen Um-Schreibungen von Zitaten. Sedlmayr gewinnt mit ihnen nämlich auch Denkmodelle und Motive, auf denen er seine Argumentationen aufbauen kann. Und er schafft sich gerade im Verstoß gegen eine Zitierpraxis Deutungsmöglichkeiten außerfachlicher Texte, die ihm in einer konsequenten Auseinandersetzung mit den konkreten Texten nicht offen wären.6 Zugleich sekundieren die Referenzen auf andere Autoren Sedlmayrs Anspruch und dienen nicht zuletzt der Legitimation seines Unterfangens.
1.2 Die Entstehung der Entstehung der Kathedrale – der Atlantis-Verlag und die Lancierung von Sedlmayrs Kathedralen-Buch
Handelt es sich beim oben referierten Beispiel um einen kulturkritischen, essayistischen Text Sedlmayrs, soll nun als nächstes gefragt werden, wie es sich bezüglich Sedlmayrs Zitierpraxis in seinen explizit wissenschaftlichen Publikationen verhält. Neben Sedlmayrs Bestseller Verlust der Mitte ist sein Buch Die Entstehung der Kathedrale sein bekanntestes Werk aus der Nachkriegszeit. Zumindest weckt dieses Buch, das 1950, also zwei Jahre nach der Veröffentlichung von Verlust der Mitte als wissenschaftliches (und ideologisches) Komplement seiner Kulturkritik im Zürcher Atlantis-Verlag publiziert wird, einiges Aufsehen. Sedlmayr, der 1946 wegen seines Engagements im Nationalsozialismus vorzeitig in den Ruhestand versetzt und mit einem dreijährigen Schreibverbot belegt worden war,7 schafft es mit Verlust der Mitte, sich als öffentlicher und kontroverser Zeitdiagnostiker neu zu lancieren.8 Sein umfangreiches Kathedralen-Buch bildet das Gegenstück:9 Hier re-lanciert er sich als Wissenschaftler. Sowohl Sedlmayrs Kathedralen-Buch wie auch sein kulturkritisches Menetekel Verlust der Mitte waren äußerst umstritten. In der zeitgenössischen Kritik dieser Bücher amalgamierten ideologiekritische und fachlich-wissenschaftliche Argumentationen – dies nicht nur aufgrund der biografischen Kompromittierung, sondern auch wegen der zumindest in Verlust der Mitte deutlich erkennbaren Ideologeme. Beide Buchprojekte haben nämlich eine Vorgeschichte, die bis in die 1930er Jahre zurückgeht.10
Um einen ersten Einblick in diese komplexe Konstellation zu gewinnen, in der sich Prozesse der Textproduktion mit solchen der öffentlichen und wissenschaftsinternen Rezeption überschneiden, und um zeigen zu können, wie sprachliche Details zum Angelpunkt werden, bestimmte Wissenschaftskonzeptionen zu debattieren, werden im Folgenden die Vorgeschichte der Produktion von Sedlmayrs Kathedralen-Buch, dessen Lancierung, sowie Aspekte der zeitgenössischen Rezeption umrissen. An diesem Beispiel können verschiedene Problemfelder und Fragehorizonte angesprochen werden, die für die vorliegende Arbeit von Bedeutung sind. Durch die Berücksichtigung der Korrespondenz mit dem Atlantis-Verlag11 ist ein Blick hinter die Kulissen möglich. Sedlmayrs Umgang mit Zitaten und Quellen ist nämlich nicht etwa ein Akzidens seiner kulturkritischen Textproduktion, sondern diese Praktiken sind auch für seine wissenschaftliche Arbeit grundlegend. Und bleiben – was kaum erstaunt – nicht ohne Widerspruch.
Sedlmayr erwähnt gegenüber dem Verleger Martin Hürlimann bereits Anfang der 1940er Jahre ein Buch mit dem Titel Die Entstehung der Kathedrale.12 Nach den Kriegsjahren treten die beiden – zumindest soweit sich dies aus der erhaltenen Korrespondenz erschließen lässt – 1948 wieder in Kontakt, um verschiedene Buchprojekte zu diskutieren (Sedlmayr an Hürlimann, ...