1 Einleitung
Die Untersuchung der Perfektbildung im Deutschen mit den Auxiliaren haben und sein ist ein viel bearbeitetes Forschungsgebiet der germanistischen Sprachwissenschaft. Es existiert eine schier unüberschaubare Anzahl an Untersuchungen, die sich mit grammatiktheoretischen, formalen sowie semantischen Fragen der Bedingungen und kognitiven Organisation von Auxiliarselektion beschäftigen. Die Anfänge der Auxiliarselektionsforschung finden sich in theoretischen Arbeiten generativer Prägung zur Selektion und Derivation der Auxiliare aus der kognitiven Tiefenstruktur. Diese theoretisch motivierten Selektionsprozesse begründeten auch den Namen des Forschungsfeldes als Auxiliarselektionsforschung. Erst seit der Jahrtausendwende entwickeln sich in diesem Bereich auch Forschungen und Modelle mit semantischem, kognitivem, typologischem oder gebrauchsbasiertem Ansatz. Dabei ist ein deutliches Übergewicht an diachronen Studien zu verzeichnen. Synchrone Auxiliarselektionsphänomene werden vornehmlich durch indirekte, elizitierende Methoden und nur in seltenen Fällen durch sprachgebrauchsbasierte Studien operationalisiert. Vor allem die Vernachlässigung spontansprachlicher Daten innerhalb der Auxiliarselektionsforschung aufgrund statistisch unzureichender Frequenzen wird teuer erkauft – über kommunikative Relevanzen dieser Konstruktionen in ihrer funktionalen, gesprächsbezogenen Einbettung und ihrem Variationsverhältnis zu anderen Konstruktionen ist bisher wenig bekannt. Auch ein medialitätsdifferenzierender Blick wurde bislang nicht unternommen.
Obgleich die Auxiliarselektionsforschung eine lange Tradition aufweist, sind auch Studien zu Phänomenen arealer und funktional bedingter Auxiliarvariation ein nach wie vor aktuelles Desiderat. Die Verzerrung zugunsten standardsprachlicher Erscheinungen versperrt den Blick auf regionalspezifische Phänomene wie beispielsweise die westfälische [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion. In der Alltagsinteraktion autochthoner SprecherInnen des westfälischen und emsländischen Sprachraums sind standardabweichende Konstruktionen des sein-Perfekts mit telischen Verben wie angefangen konventionalisiert und augenscheinlich wenig salient, wie die folgende Interviewsituation aus Eichinger (2010: 446) verdeutlicht (Bsp. (1)):
| (1) | Int. | Also, was mir als eigentümlich vorkommt, ist, wenn ich höre: |
| | „ich bin angefangen heute morgen“. |
| G | Ja, das hört sich auch scheiße an. |
| Int. | Würdest du das nicht sagen? |
| G | Nein, ich würde sagen: „ich bin heute morgen angefangen“. |
Obgleich die einschlägige Niederdeutschforschung diese Konstruktion als „typisch” (vgl. Elspaß 2016: 363) für den westfälischen Sprachraum und seine SprecherInnen1 bezeichnet, wurde sie bisher keiner systematischen empirischen Analyse unterzogen. Es existieren keine Studien zur diachronen oder synchronen Entwicklung, dem funktionalen Spektrum, dem Variationsverhältnis, der Medialitätsbindung oder der kognitiven Verarbeitung des Phänomens. Allein diachrone Untersuchungen zum mittelniederländischen Auxiliarwechsel von nl. hebben (dt. ‚haben‘) nach nl. zijn (dt. ‚sein‘) (z.B. nl. ik ben begonnen ‚ich bin begonnen/angefangen‘) können erste Hinweise auf das zentrale systemische Spannungsfeld zwischen Transitivität und Telizität bei inchoativen und egressiven Verben liefern (vgl. Kern 1912; Rooij 1981). Dieses Spannungsfeld wird sich im Rahmen der Untersuchung als ein entscheidender Faktor für die synchrone Auxiliarvariation im historisch verwandten niederdeutsch-westfälischen Gebiet herausstellen.
1.1 Gegenstand der Untersuchung
Forschungsgegenstand dieser Arbeit ist zusammengefasst die areale, synchrone und funktionale Auxiliarvariation von Konstruktionen mit telischen Partizipien wie angefangen, begonnen und aufgehört im Repertoire autochthoner westfälischer und emsländischer SprecherInnen, SchreiberInnen und LeserInnen. Im Zentrum des Interesses steht die Frage der grammatiktheoretischen, gebrauchsbasierten Rekonstruktion medialitäts- und sprachverarbeitungsbedingter Variation der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion und die daraus resultierende Rekonstruktion syntaktischer Repräsentationen im Rahmen der Konstruktionsgrammatik. Methodisch verschreibt sich die Arbeit einem mixed-methods-Ansatz zur Untersuchung der angefangen-Konstruktion im regionalen spontansprachlichen und schriftlich-publizistischen Sprachgebrauch als auch in der experimentellen Sprachverarbeitung. Die Untersuchung ist somit im interdisziplinären Spannungsfeld zwischen (syntaktischer) Variations- und Varietätenlinguistik (vgl. Labov 1978b; Lavandera 1978), Gesprächsforschung (vgl. Bergmann & Luckmann 1995; Deppermann 2008) und Psycholinguistik (vgl. Bard, Frenck-Mestre & Sorace 2010) angesiedelt.
Die Fragestellung verfolgt gleich in mehrfacher Hinsicht entscheidende Desiderate der traditionellen Auxiliarselektionsforschung. Zunächst erweitert die Untersuchung den Forschungsstand durch einen arealen, niederdeutschen Fokus. Das vorrangige Untersuchungsinteresse der einschlägigen Auxiliarselektionsforschung liegt bisher auf typologischen Fragestellungen gesplitteter Intransitivsysteme und damit auf Selektionsfaktoren von Perfektauxiliaren innerhalb nationaler Standardsprachen (vgl. Perlmutter 1989; Lieber & Baayen 1997; Sorace 2000; Gillmann 2016). Nur wenige Arbeiten in diesem Forschungsfeld – vor allem im deutschsprachigen Raum – adressieren Besonderheiten arealer Variation (vgl. Paul 1918: 172–179; Eichhoff 1978: 35/125; Haider & Rindler-Schjerve 1987: 1054; Grewendorf 1989: 10; Grønvik 1986: 43–44; Kaufmann 1995: 407–411; Diedrichsen 2002: 43–44; Keller & Sorace 2003: 75–87). Die bestehenden Untersuchungen konzentrieren sich bislang ausschließlich auf Phänomene im oberdeutschen Sprachraum wie die süddeutsche sein-Tendenz bei Positionsverben wie sitzen, liegen oder stehen (z.B. ich bin gestanden vs. ich habe gestanden). Niederdeutsche Formen der Auxiliarvariation, wie die in Bsp. (1) vorgestellte [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion, sind bisher noch nicht in den Forschungsfokus gerückt worden. Auch areale empirische Arbeiten mit Fokus auf kleineren regionalen Sprechgemeinschaften, die dem Standardbias in der bisherigen Auxiliarselektionsforschung entgegenwirken, sind selten.
Ferner erweitert die Untersuchung das Gebiet der Auxiliarselektionsforschung auf grammatiktheoretischer und methodologischer Ebene. Grammatiktheoretische Grundlage zur Erklärung westfälischer Auxiliarvariation mit telischen Partizipien bildet eine konsequente gebrauchsbasiert-konstruktionsgrammatische Methodologie (vgl. Goldberg 1995, 2006; Croft 2001, 2012; Bybee 2010; vgl. im Rahmen der Auxiliarselektionsforschung dazu auch Hinze & Köpcke 2007 sowie Gillmann 2016). Vor diesem Hintergrund wird auch der im Rahmen der generativen Grammatik geprägte Begriff der Auxiliarselektion durch den Terminus der Auxiliarkonstruktion ersetzt. Die Untersuchung basiert auf der theoretischen Annahme, dass regionalsyntaktische Phänomene wie das sein-Perfekt mit angefangen als konventionalisierte Form-Bedeutungspaare in einem taxonomisch organisierten kognitiven Netzwerk gespeichert sind. Innerhalb dieses Netzwerks wird die [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion im wechselseitigen Zusammenspiel mit anderen telischen Perfektkonstruktionen und weiteren sprachlichen Kategorien des Tempus-Aspekt- beziehungsweise des Tempus-Diathese-Interface beleuchtet. In Abgrenzung zur einschlägigen Auxiliarselektionsforschung geht die Untersuchung davon aus, dass Auxiliarvariation nicht nur ein Phänomen des Perfekttempus ist, sondern auch eine Rolle bei ähnlichen historisch verwandten Konstruktionen wie dem Resultativum und dem Zustandspassiv spielt.
Der konstruktionsgrammatische Zugang bildet ferner die Grundlage für die Untersuchung des theoretisch-methodischen Zusammenhangs zwischen Sprachgebrauch, Sprachverarbeitung und kognitiver Repräsentation. Die Methodiken gebrauchsbasierter Ansätze, die zur theoretischen Rekonstruktion syntaktischer Konstruktionen im Sprachwissen herangezogen werden, reichen von rein korpusbasierten, über gemischt-methodische Ansätze bis hin zu rein sprachverarbeitungsbezogenen Studien (vgl. Gilquin & Gries 2009). Rein korpusbasierte Ansätze – qualitativer wie auch quantitativer Art – gehen im Rekonstruktionsprozess kognitiver Konstruktionen von einer „flache[n] Ontologie“ (Krämer 2001: 269) zwischen aktualisiertem Konstrukt und systemgebundener Abstraktion aus. Diese theoretische Annahme macht es möglich, Konstruktionen als sich wiederholende Muster aus dem Sprachgebrauch korpusbasiert zu operationalisieren (vgl. das From-Corpus-to-Cognition-Prinzip nach Schmid 2000: 38–40). Psycholinguistische Ansätze hingegen fokussieren stärker das kognitive Postulat gebrauchsbasierter Ansätze und definieren syntaktische Repräsentationen als Ergebnis des entrenchments, das durch allgemeine kognitive Prozesse wie Wiederholung, Frequenz und Kategorisierung geprägt ist. Sprachverarbeitungsbasierte Methodiken können somit Aussagen über unterschiedliche Grade der kognitiven Verankerungen von (syntaktischen) Konstruktionen treffen.
Kombinierte korpus- und sprachverarbeitungsbasierte Ansätze zeigen, dass sich grammatiktheoretische Rekonstruktionen von sprachlichen Phänomenen in Abhängigkeit von der zugrundeliegenden Methode unterscheiden können (vgl. Gilquin 2008; Blumenthal-Dramé 2012). Sie plädieren für eine methodische Triangulation, um einen multiperspektivischen Zugang zu (syntaktischen) Repräsentationen zu schaffen (vgl. Blumenthal-Dramé 2012: 205–211). In Anlehnung an diesen kombinierten Ansatz verfolgt die vorliegende Untersuchung einen mixed-methods-Ansatz (vgl. Creswell & Creswell 2014: 215–240) aus qualitativen und quantitativen Analysen von spontansprachlichen und schriftlichen Sprachgebrauchsdaten in Kombination mit einem Sprachverarbeitungsexperiment. Die Arbeit nimmt damit eine methodische Erweiterung der Ansätze innerhalb der einschlägigen Auxiliarselektionsforschung vor, die sich bisher vornehmlich auf elizitierende oder auschließlich schriftliche Sprachgebrauchsdat...