Gute wissenschaftliche Praxis
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Gute wissenschaftliche Praxis

Eine philosophische Untersuchung am Fallbeispiel der biomedizinischen Forschung

  1. 264 Seiten
  2. German
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Gute wissenschaftliche Praxis

Eine philosophische Untersuchung am Fallbeispiel der biomedizinischen Forschung

Über dieses Buch

Forschungsskandale und Diskussionen über Strukturprobleme der Biomedizin evozieren oft die Forderung nach mehr Verantwortung in der Forschung und der Einhaltung von Prinzipien guter wissenschaftlicher Praxis. Doch was genau ist "gute wissenschaftliche Praxis" und wie kann die Forschungsgemeinschaft Verantwortung für die Verlässlichkeit von Forschungs- und Publikationsprozessen übernehmen? Die vorliegende Untersuchung beantwortet diese Fragen in Form einer prinzipienbasierten Forschungsethik. Durch Fallstudien über Datenfälschung in der Stammzellenforschung, Datenunterdrückung in der Influenzaforschung und die Kontamination von Zellkulturen in der Krebsforschung wird insbesondere gezeigt, dass wissenschaftliche Selbstkorrektur kein notwendig eintretender Effekt der kollektiven Suche nach Erkenntnis ist. Vielmehr sind die Prävention, Identifikation und Korrektur von Fehlern in Forschungs- und Publikationsprozessen Resultate der intendierten Bemühung um epistemische Integrität im konkreten professionellen Handeln. Prinzipien der guten wissenschaftlichen Praxis - wie Ehrlichkeit, Unvoreingenommenheit, Anerkennung wissenschaftlicher Leistung und Kollegialität - müssen deswegen als handlungsleitende Regeln konkretisiert werden.

Häufig gestellte Fragen

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Information

1 Fallstudien

In diesem Kapitel wollen wir zunächst anhand von Fallstudien aus dem Bereich der biomedizinischen Forschung verstehen, inwiefern wissenschaftliches Fehlverhalten, fragwürdige Forschungspraktiken, mangelnde Sorgfalt und ehrliche Fehler voneinander abgrenzbare Arten des von der guten wissenschaftlichen Praxis abweichenden Verhaltens sind. Wir wollen ferner untersuchen, welche Folgerungen sich aus der Betrachtung von konkreten Fällen des abweichenden Verhaltens in Forschungs- und Publikationsprozessen für die Entwicklung einer prinzipienbasierten Forschungsethik ergeben.
Die in der biomedizinischen Ethik übliche Unterscheidung zwischen theoriebasierter Ethik, prinzipienbasierter Ethik / Prinzipienethik (principlism) und auf Fallstudien basierender Ethik / Kasuistik (casuistry) (Beauchamp und Childress 2013) macht es notwendig, vor der Darstellung beispielhafter Fälle von Verstößen gegen die gute wissenschaftliche Praxis die mögliche Rolle von Fallstudien in der Wissenschaftsethik genauer zu betrachten. Im Sinne der Kasuistik sind Fallstudien nämlich Elemente einer Methode zur Analyse, Diskussion und Bewertung moralischer Probleme. In der Kasuistik werden einzelne Fälle nach einer detaillierten Analyse mit paradigmatischen Fällen verglichen und bewertet, wobei von letzteren Fällen angenommen wird, dass sie ihrerseits korrekt entschieden wurden. Da die vorliegende Untersuchung keinen Versuch darstellt, für den Bereich der Forschungsethik eine ähnliche Methode zu entwickeln, muss geklärt werden, welche weiteren Funktionen Fallstudien in der Forschungsethik haben können. Wir können hier neben der Funktion im Sinne einer kasuistischen Ethik vier weitere Funktionen unterscheiden.
Fallstudien haben erstens eine didaktische Funktion im Kontext der Lehre guter wissenschaftlicher Praxis, insofern sie auf anschauliche Weise über konkretes normkonformes, normabweichendes und hinsichtlich des normativen Status kontroverses Verhalten informieren und damit motivational wirksam sein können. In diesem Sinne können Fallstudien im wissenschaftsethischen Unterricht eingesetzt werden, um von Studenten und Studentinnen als abstrakt empfundene Regeln des wissenschaftlichen Arbeitens greifbar zu machen und intuitive Zustimmung zu diesen Regeln zu bewirken. Didaktisch dienen Fallstudien deswegen sowohl im Kontext von Prinzipienansätzen zur guten wissenschaftlichen Praxis als auch in tugendbasierten Forschungsethiken, die eine theoretische Alternative zu prinzipienbasierten Ansätzen sind, als motivierende Instanzen. Beispielsweise haben Robert T. Pennock und Michael O’Rourke im Rahmen einer an Tugenden des wissenschaftlichen Arbeitens orientierten Forschungsethik Unterrichtskonzepte entwickelt, die explizit auf Fallstudien rekurrieren, in denen sogenannte „exemplars“ – vorbildliche Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen – vorgestellt werden (Pennock und O’Rourke 2016).
Zweitens haben Fallstudien auch außerhalb der Lehre von guter wissenschaftlicher Praxis in diversen Stufen der grundlegenden und weiterführenden akademischen Ausbildung eine appellative Funktion im Sinne der Schaffung von Problembewusstsein. In diesem Kontext fördern sie auch die Bereitschaft zur Entwicklung von Verfahren zur Qualitätssicherung im weiteren Sinne und fördern die Akzeptanz der Umsetzung solcher Verfahren, die ohne konkrete Fallbeschreibungen als übergriffige Reglementierung von Forschungs- und Publikationsprozessen angesehen werden könnten.
Drittens haben Fallstudien offensichtlich auch eine heuristische Funktion, da ihre Durchführung zumeist erste Schritte hin zur Entwicklung und Implementierung von Verfahren zur Qualitätssicherung darstellen. Diese Funktion ist auch in der forschungsethischen Literatur erkennbar, weil Fallbeschreibungen fast immer mit mehr oder minder konkreten Empfehlungen zur Qualitätssicherung verbunden werden.
Viertens haben Fallstudien auch eine interpretative Funktion im Kontext der Spezifikation und Plausibilitätsprüfung von Prinzipien guter wissenschaftlicher Praxis und grundlegenderen normativen Konzepten der Wissenschaftsethik.
Aufgrund dieser vielfältigen Funktionalität verwenden selbst mit Prinzipienansätzen operierende Bioethiker wie Beauchamp und Childress Fallstudien als didaktische, heuristische und interpretative Instrumente, obwohl sie Kasuistik als Methode zur Analyse und Auflösung von moralischen und praktischen Dilemmata ablehnen. Im weiteren Verlauf dieser Untersuchung werden wir dies ebenso handhaben und kein kasuistisches Modell einer Wissenschaftsethik entwickeln, sondern Fallstudien in erster Linie als Heuristik und Hilfsmittel in der Interpretation von Prinzipien der guten wissenschaftlichen Praxis einsetzen. Die folgenden drei Fallstudien, über Datenfälschung in der Stammzellenforschung durch Woo Suk Hwang (Kapitel 1.1), Datenunterdrückung in der Influenzaforschung durch das in Basel ansässige Pharmaunternehmen Hoffmann-La Roche (Kapitel 1.2) und die Verunreinigung von Zellkulturen in der Krebsforschung (Kapitel 1.3) dienen der Gewinnung erster Einsichten in den Problembereich guter wissenschaftlicher Praxis in der biomedizinischen Forschung und werden im späteren Verlauf aufgegriffen, wenn es um die Formulierung einer Forschungsethik geht.
Die Wissenschaftsethik kann sich eines großen Fundus’ von Fallstudien bedienen und eine erschöpfende Literaturübersicht kann hier selbstverständlich nicht gegeben werden. Trotzdem scheint es sinnvoll, kurz auf bekannte Studien zu bedeutenden Fällen von Verstößen gegen die gute wissenschaftliche Praxis und Übersichtswerke mit einzelnen (kürzeren) Fallstudien einzugehen. Fast in allen längeren Werken über Verstöße gegen die gute wissenschaftliche Praxis, insbesondere wissenschaftliches Fehlverhalten und mangelnde Sorgfalt im wissenschaftlichen Arbeiten, finden sich hinweise auf die Übersichtsarbeiten Betrayers of Truth (1989) von William Broad und Nicolas Wade und Fraud and Misconduct in Biomedical Research (2008) von Frank Wells, Michael Farthing und Stephen Lock sowie On Fact and Fraud (2010) von David Goodstein. Im deutschen Sprachraum erfreut sich auch Heinrich Zankls Fälscher, Schwindler, Scharlatane (2012) einer gewissen Popularität. Speziell für den Bereich der medizinischen, pharmazeutischen und biomedizinischen Forschung wurden eine Reihe von populärwissenschaftlich Übersichtsarbeiten über Verstöße gegen die gute wissenschaftliche Praxis vorgelegt. Zu nennen sind hier insbesondere die Monographien von Maria Angell (The Truth about the Drug Companies, 2004), Ben Goldacre (Bad Pharma, 2007), Carl Elliott (White Coat, Black Hat, 2010), Sheldon Krimsky (Science in the Private Interest, 2003), Jacky Law (Big Pharma, 2007) und Robert Whitaker (Anatomy of an Epidemic, 2013). Neben solchen Übersichtsarbeiten haben Fallstudien über Verstöße gegen die gute wissenschaftliche Praxis und insbesondere den schädigenden Einfluss kommerzieller Interessen auf die Medikamentenforschung einen festen Platz in der medizinischen Literatur gefunden. Sehr hervorgetan haben sich in diesem Kontext das British Medical Journal und PLoS Medicine, die seit Anfang der 2000er Jahre verstärkt Beiträge über Verstöße gegen die gute wissenschaftliche Praxis und Vorschläge zum Schutz der Integrität biomedizinischer Forschung veröffentlicht haben. Ein Blick in diese Quellen zeigt, dass Forschungsskandale in allen Bereichen der biomedizinischen Forschung zu finden sind und mittlerweile unter Fachwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen kaum noch große Verwunderung, wohl aber Empörung provozieren. Freilich finden sich Verstöße gegen die gute wissenschaftliche Praxis auch in anderen Disziplinen. Wie die Forschungsskandale um Karl-Theodor zu Guttenberg (Rechtswissenschaft), Jan Hendrik Schön (Physik) und Diderik Stapel (Psychologie), aber auch die diversen oben genannten allgemeinen Sammelbände mit Fallstudien illustrieren. Hier aber fokussieren wir auf die biomedizinische Forschung. Die folgende Tabelle listet einige bekannte Forschungsskandale in der biomedizinischen Forschung seit 1981 auf, in denen einzelne Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen gegen die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis in besonders eklatanter Weise verstoßen haben.
Tab. 1:Bekannte Forschungsskandale in der Biomedizin
Jahr der
Aufdeckung
Beschreibung
Quelle
1981
Datenfälschungen in der kardiologischen Forschung an der Harvard Medical School durch John Darsee. 82 wissenschaftliche Artikel wurden widerrufen, Darsee wurde 1983 für 10 Jahre von der Forschungsförderung durch das National Institute of Health (NIH) ausgeschlossen.
Kochan und Budd 1992
1997
Datenfälschungen und Ideendiebstahl in der Onkologie und Hämatologie zwischen 1994 und 1996 durch Friedhelm Herrmann und Marion Brach. 21 wissenschaftliche Artikel wurden widerrufen.
DFG 2000
2004
Datenfälschung und Datenmanipulation sowie Verstöße gegen bioethische Richtlinien in der Stammzellenforschung an der Staatlichen Universität Seoul durch Hwang Woo Suk. Vier wissenschaftliche Artikel wurden widerrufen. Hwang wurde 2010 wegen Veruntreuung von Forschungsmitteln und Verstoßes gegen bioethische Richtlinien zu 18 Monaten Haft auf Bewährung und ca. 700.000 $ Strafzahlung verurteilt.
Kakuk 2009
2005
Datenfälschung in der Forschung über Menopause und Adipositas durch Eric Poehlman an der University of Vermont. Zehn wissenschaftliche Artikel wurden widerrufen. Poehlman wurde 2006 zu einem Jahr und einem Tag Haft verurteilt.
Dahlberg und Mahler 2006
2006
Datenfälschung in der Onkologie am Radium Hospital in Oslo durch Jon Sudbø zwischen 1993 und 2005. 12 wissenschaftliche Artikel wurden widerrufen.
Nylenna und Horton 2006
2008
Datenfälschung in der Anästhesiologie zwischen 1996 und 2008 durch Scott Reuben am Baystate Medical Center in Springfield, Massachusetts. 21 wissenschaftliche Artikel wurden widerrufen, Reuben wurde zu 50.000 $ Strafzahlung, 360.000 $ Ersatz von Forschungsmitteln und sechs Monaten Haft verurteilt.
Gerste 2009
2009
Datenfälschung und Durchführung von Studien ohne Genehmigung in der Anästhesiologie durch Joachim Boldt am Klinikum Ludwigshafen. 88 wissenschaftliche Artikel wurden widerrufen.
Wise 2013
Sicher sind Fälle besorgniserregend, in denen Forschungsdaten gefälscht und manipuliert wurden, jedoch sollten sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass neben intendierten schwerwiegenden Verstößen gegen die gute wissenschaftliche Praxis in erster Linie mangelnde Sorgfalt im wissenschaftlichen Arbeiten und eine Reihe von subtilen Praktiken zur Vorteilsbeschaffung in Forschungsprozessen (sogenannte „fragwürdige Forschungspraktiken“) für Fehler in der biomedizinischen Forschung verantwortlich zu machen sind. Zudem hat sich mittlerweile auch die Einsicht durchgesetzt, dass neben individuellen Verstößen gegen die gute wissenschaftliche Praxis auch auf der kollektiven Ebene von Forschergemeinschaften erkenntnisschädigendes Verhalten zu finden ist, durch das die epistemische und moralische Integrität der biomedizinischen Forschung empfindlich gestört wird. Deswegen werden Verstöße gegen die gute wissenschaftliche Praxis nicht mehr nur auf der Mikroebene individuellen Verhaltens, sondern auch auf der Makroebene kollektiven Verhaltens erforscht. Der Blick richtet sich dann auf inhärente Probleme in der Organisation arbeitsteilig differenzierter Forschungs- und Publikationsprozesse, den Einfluss kommerzieller Interessen auf die Validität von Forschungsergebnissen und die Wahl von Forschungszielen und die Transformationen in der ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Title Page
  2. Copyright
  3. Contents
  4. Danksagung
  5. Einleitung
  6. 1 Fallstudien
  7. 2 Ergebnisse der empirischen Forschung über Verstöße gegen die gute wissenschaftliche Praxis
  8. 3 Was ist gute wissenschaftliche Praxis?
  9. 4 Fragwürdige Forschungspraktiken in der biomedizinischen Forschung und Verantwortung im Kontext von wissenschaftlichem Fehlverhalten
  10. 5 Verantwortung im Kontext strukturell bedingter Verstöße gegen die gute wissenschaftliche Praxis in der biomedizinischen Forschung
  11. 6 Fünf Strategien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis
  12. Schluss
  13. Sachregister
  14. Personenregister