1.1 Lebenszeit
Gorgias soll nach Apollodor 109 Jahre alt geworden sein, was in der Forschung kaum als Übertreibung gewertet wird.1 Seine genauen Lebensdaten sind ungewiss und wurden im 19. Jh. viel erörtert. Bevor ich zum angenehmeren Teil der eigentlichen Lebenserzählung (1.2–1.6) komme, scheint mir eine Dikussion der ‚harten Fakten‘ unumgänglich. Ich referiere erstens (1.1.1) die Argumentation für die heute am häufigsten vertretene Datierung (483–375), zweitens (1.1.2) die davon abweichende Position von Wilamowitz (500/497–392/389) und drittens (1.1.3) die Gründe für meinen eigenen Datierungsansatz (475 ± 5 bis 375 ± 5). Erst vor dem Hintergrund dieser Datierung sind auch Gorgias’ Werke genauer zu datieren, was wiederum für deren Interpretation von Bedeutung ist.
1.1.1 Die opinio communis 483–375
Den Zeitraum 483–375 hatte Frei anhand einer „Wahrscheinlichkeitsrechnung“ 2 vorgeschlagen, die versucht, die wichtigsten Zeugnisse zu Gorgias’ Leben miteinander in Einklang zu bringen: Pseudo-Plutarch berichtet: „[Antiphon von Rhamnus] ist geboren zur Zeit der Perserkriege und des Sophisten Gorgias, ein wenig jünger als dieser.“3 Wenn mit κατὰ τὰ Περσικά das Jahr 480 gemeint ist, 4 dürfte Gorgias’ Geburtsdatum – sofern der Nachricht zu trauen ist – zwischen 485 und 480 liegen.
Für diesen Ansatz könnte auch ein Zeugnis Olympiodors sprechen: „Zweitens aber bemerken wir, dass sie [sc. Gorgias und Platon]5 zur selben Zeit lebten: Denn Sokrates ist auf das dritte Jahr der 77. Olympiade zu setzen (470/469), und der Pythagoreer Empedokles, Gorgias’ Lehrer, hatte Umgang mit ihm. Und zweifellos schrieb Gorgias die nicht schmucklose Schrift ‚Über die Natur‘ in der 84. Olympiade (444–441), so dass Sokrates um 28 Jahre oder wenig früher lebte.“ 6 Diels nahm an, dass der Nachricht noch die ursprünglich richtigen Angaben aus Apollodors Chronik zu entnehmen sind: 7 Olympiodor habe aber Sokrates’ Akme mit dem Geburtsjahr verwechselt, weswegen Olympiodor angenommen habe, Empedokles sei Schüler des Sokrates gewesen. Für das Abfassungsdatum von Περὶ φύσεως habe er dann Gorgias’ Akme gesetzt; also sei auf 484–481 als Geburtsjahr zurückzurechnen.
Wenn dem so ist, wäre Gorgias im Jahr 427 – dem einzig sicheren Datum seiner Biographie, nämlich dem Jahr seiner Gesandtschaft nach Athen (vgl. Kap. 1.3) – etwa 56 Jahre alt gewesen. Das passt, laut Frei, zu der Nachricht Philostrats, Gorgias sei, als er sich in Athen unterredete – obwohl schon höheren Alters (ἤδη γηράσκων) –, von vielen bewundert worden. 8 Wenn mit dem allgemeinen Ausdruck διαλεχθεὶς δὲ ᾿Aθήνησιν tatsächlich jene berühmte Gesandtschaft gemeint ist, dann sollte Gorgias als ἤδη γηράσκων im Jahr 427 nicht unter 50 und nicht über 60 Jahre alt gewesen sein. 9 Diese Bedingung wäre mit dem Geburtsjahr 483 erfüllt.
Zwar gibt es keine konkreten Hinweise auf Gorgias’ Lebensende, doch deuten mehrere Zeugnisse darauf hin, dass er bis in die 370er Jahre gelebt haben könnte: Sokrates überlebte er 10 und Platons Gorgias – wohl um 385 verfasst 11 – soll er noch selbst gelesen haben. 12 Pausanias berichtet, Iason, der Herrscher von Thessalien (frühestens 390–370), habe Gorgias höher geschätzt als Polykrates. 13 Wenn das bedeutet, dass Iason ihn während seiner Herrschaftszeit (und nicht nur zuvor) besonders ehrte, dann können etwa die 380er Jahre als terminus post quem für Gorgias’ Tod gelten. Es wurde aufgrund dieser Nachricht auch für wahrscheinlich gehalten, dass Iason ihn an seinen Hof eingeladen hatte und er seinen Lebensabend dort verbrachte. 14 Gegen diese Annahme scheint eine Stelle aus Plutarchs De genio Socratis zu sprechen, die in den älteren Gorgiasstudien kaum Beachtung fand und erst von Velardi 1998 genauer untersucht wurde: „Wo aber Lysis war, wusste man lange Zeit nicht, bis Gorgias aus Leontinoi bei seiner Rückkehr von Griechenland nach Sizilien den Leuten um Aresas sichere Meldung brachte, dass er Lysis getroffen habe, als dieser sich in Theben aufhielt.“ 15 Wenn das nicht frei erfunden ist, was bei der Schrift De genio Socratis nicht verwundern würde, müsste nach Velardis Chronologie Gorgias zwischen 395 und 379 nach Sizilien gereist sein. 16 Sollte dies die letzte große Reise des hochbetagten Mannes gewesen sein, dann starb er wohl in Sizilien und nicht, wie Pausanias’ Zeugnis vermuten lässt, am Hof des Iason, dessen Gunst er aber schon vor den Herrscherjahren, etwa in den 390er Jahren, erworben haben könnte, weswegen Paus. 6, 17, 9 und Plut. De gen. Socr. 583B einander nicht ausschließen müssen.
1.1.2 Die Datierung von Wilamowitz 500/497–392/389
Gegen 483–375 spricht die in der Suda überlieferte Datierung des Porphyrios: „Porphyrios setzt ihn [sc. Gorgias] auf die 80. Olympiade [460–457]; aber man muss denken, dass er älter war.“ 17 Dies wird allgemein so aufgefasst, dass in den Augen des Porphyrios Gorgias’ Akme in die 80. Olympiade fällt und seine Geburt in die 70. Also: 500/497–392/389. Wilamowitz sprach sich nachdrücklich dafür aus, dass dieses Zeugnis als das – im Hinblick auf Geburt und Akme des Gorgias – einzig sichere ernst genommen werden müsse: „das ist überliefert. […] es gibt gar keine schwierigkeit, wenn man die antike überlieferung nur stehn und die modernen träume fahren lässt“. 18 Allerdings gibt es doch Schwierigkeiten: Gorgias wäre dann schon als Greis nach Athen gekommen. Den in vielfacher Hinsicht innovativen Palamedes etwa, den Wilamowitz – wie auch die Helena – noch 1893 fälschlicherweise für unecht hielt, 19 der aber tatsächlich etwa um 400 von Gorgias verfasst wurde, 20 müsste man dann einem fast Hundertjährigen zusprechen. Auch mit dem Schülerverhältnis zu Empedokles, der wohl in den 480er Jahren geboren ist, und anderen Zeugnissen gäbe es Probleme. – Auch wenn die Datierung 500/497–392/389 ausscheidet, so bleibt doch festzuhalten, dass eine der wichtigsten Angaben, die uns überliefert ist, der modernen Rekonstruktion von Frei und Diels widerspricht.
1.1.3 Neudatierung 475 ± 5 bis 375 ± 5
Der folgende Datierungsvorschlag will die opinio communis nicht radikal infrage stellen, sondern als deren Korrektur verstanden werden. Wie gerade gesehen, ergeben sich bei der Ansetzung der Geburt vor 483 einige Probleme. Das scheint mir nach 483 nicht der Fall zu sein. Zunächst sind vier der bereits erwähnten Testimonien daraufhin noch einmal kritisch zu prüfen.
(1) Philostr. soph. 1, 9, 1 = A1 (s. Anm. 10): Philostrats Nachricht, dass Gorgias bei seiner Athenreise im Jahr 427 schon in fortgeschrittenem Alter war, schien nach der heute gängigen Interpretation von Frei zu fordern, dass er mindestens 50 Jahre alt gewesen sein muss, womit seine Geburt nach 477 ausgeschlossen wäre. – Es müsste allerdings erst bewiesen werden, dass mit dem sehr allgemeinen Ausdruck διαλεχθεὶς δὲ ᾿Aθήνησιν ἤδη γηράσκων überhaupt die politische Mission von 427 gemeint ist. Im Gegensatz zu den meisten neueren Interpreten war sich Frei dieser Schwierigkeit durchaus bewusst. 21 Meines Erachtens sprechen lediglich die Aoriste διαλεχθεὶς … ἐθαυμάσθη, die auf ein besonderes Ereignis im Leben des Gorgias deuten könnten, für die Annahme, dass die Stelle die Gesandtschaft von 427 meint. Frei hingegen sah schließlich „jede[n] Zweifel über die Bedeutung [des Worts διαλέγεσθαι] an unserer Stelle“ 22 durch Diodor 12, 53, 3 = A4 beseitigt, der über die Gesandtschaft u. a. berichtet: οὗτος οὖν καταντήσας εἰς τὰς ᾿Aθήνας καὶ παραχθεὶς εἰς τὸν δῆμον διελέχθη τοῖς ᾿Aθηναίοις περὶ τῆς συμμαχίας … Das Vorkommen des Allerweltsworts διαλέγεσθαι an beiden Stellen überzeugt mich nicht. Der entscheidende Unterschied besteht doch darin, dass bei Diodor klar ist, worüber geredet wurde, nämlich περὶ τῆς συμμαχίας, während Philostrats Leser darüber im Unklaren gelassen werden. Sie könnten sich den Anlass dieser unbestimmten Unterredung in Athen auch kaum aus dem Kontext erschließen – im Gegenteil: Der Kontext spricht meines Erachtens gegen Freis chronologische Verwendung der Stelle. Philostrat, der ansonsten die ausführlichsten Nachrichten über Gorgias liefert, erwähnt nämlich nirgends die Gesandtschaft nach Athen oder das Jahr 427. 23 Stattdessen berichtet er vor unserer Stelle von einem denkwürdigen Auftritt des Gorgias im Athener Theater, wo er dem Publikum seine Improvisationskünste im Rahmen des „προβάλλετε-Programms“ 24 demonstrierte, welches dazu aufforderte, dem Redner ein beliebiges Thema zu stellen, über das er dann zu sprechen hatte. Wenn der Ausdruck διαλεχθεὶς δὲ ᾿Aθήνησιν also einen bestimmten Moment in Gorgias’ Leben bedeuten sollte, so würden Philostrats Leser doch eher an diesen spektakulären Auftritt im Athener Theater denken, über den sie gerade unterrichtet worden sind, 25 als an die Gesandtschaft nach Athen, deren Kenntnis sie zuvor aus anderen Quellen erlangen müssten.
Unter Berücksichtigung des Kontexts scheint es so zu sein, dass Philostrat gar keinen bestimmten Auftritt des Gorgias meint, sondern lediglich die besondere Leistung an sich herausstellen will, dass Gorgias, selbst als er schon auf der Schwelle zum Greisenalter stand, vor einem großen und anspruchsvollen Publikum wie dem der Athener reüssieren konnte. 26 Im Anschluss heißt es, dieser Erfolg müsse auch nicht verwundern: Gorgias hätte sich doch auch so angesehene Leute wie Kritias ...