Vaterworte und ‚Ur-Bilder‘
Zu Differenz und Identität von Kindheits- und Dingerinnerung in romantischen Venusberg-Dichtungen (Der getreue Eckart, Der Runenberg, Das Marmorbild)
1 Einleitung
In diesem Aufsatz soll die epistemische Dimension der romantischen Venusberg-Dichtungen in ihren intertextuellen Verflechtungen – Tiecks Der getreue Eckart und Der Runenberg sowie Eichendorffs Das Marmorbild – rekonstruiert und analysiert werden. Genauer gesagt werde ich die genannten Texte als literarische Auseinandersetzung mit der Frage nach der unbewussten Erinnerung eines Menschen an seine Jugend und dem damit zusammenhängenden Verhältnis zu den Dingen lesen.
Sowohl bei Tieck wie bei Eichendorff soll das Augenmerk auf der prominent vertretenen Vorstellung von prägenden Sätzen bzw. Worten des Vaters in der Adoleszenz liegen. Wiewohl diese Erinnerungen den mittlerweile erwachsen gewordenen Protagonisten (weitgehend) unbewusst sind, formieren sie deren Einbildungskraft so stark, dass man als Leser*in geneigt ist zu glauben, alle Dinge um sie herum seien imaginative Ausgestaltungen dieser ursprünglichen Erfahrungen.
Gleichzeitig soll, ebenfalls bei Tieck und bei Eichendorff, der Fokus auf die materiellen Substrate in der dinglichen Welt auf dem Venusberg gerichtet sein, da diese der Lesart einer vollständigen psychischen Entstehung der Dinge entschieden widersprechen. Die Tafel auf dem Runenberg, das architektonische Ensemble auf dem Venusberg des Marmorbilds inklusive der dazugehörigen Bilder: Diese Dinge basieren, wie ich zeigen werde, gerade nicht nur auf einer psychischen, sondern auch auf einer dem Menschen unverfügbaren materiellen Matrix, nämlich den Steinen, verfallenen Standbildern und Ruinen.
Aufheben lässt sich, wie ich am Ende zeigen möchte, dieser Widerspruch mit einem an Schelling orientierten Modell des Unbewussten als nicht nur Hort individueller Erinnerung an die Jugend, sondern auch als eines überindividuellen ‚Ur-Bilds‘ und einer überindividuellen ‚Erinnerung‘ an die ‚Dinge‘. Dieses individuell-überindividuelle Unbewusste, so soll gezeigt werden, ist die gemeinsame Wurzel der Dinge außerhalb und innerhalb des Menschen.
2 Die Worte des Vaters und die Dinge: Tieck
Zu Beginn von Joseph von Eichendorffs Erzählung Das Marmorbild (1818) trifft der junge Florio auf einen Fremden, der sich wenige Zeit später als der bekannte Sänger Fortunato herausstellen wird. Florio erzählt diesem ihm augenscheinlich zugetanen Menschen, dass er „das Reisen erwählt“ habe und sich dadurch „in Freiheit gesetzt“ fühle. Diese Freiheit habe er, so Florio weiter, bereits als Sehnsucht gespürt, „wenn der Frühling wie ein zauberischer Spielmann durch unsern Garten ging und von der wunderschönen Ferne verlockend sang und von großer unermeßlicher Lust“ (E II, 386).1 Die metaphorische Bezeichnung des Frühlings2 als „Spielmann“ scheint bei Fortunato einen wörtlichen Sprachgebrauch aufzurufen, der dem aufkeimenden Enthusiasmus des bisherigen Gesprächs ein jähes Ende bereitet: „Habt Ihr wohl jemals, sagte er [Fortunato] zerstreut aber sehr ernsthaft, von dem wunderbaren Spielmann gehört, der durch seine Töne die Jugend in einen Zauberberg hinein verlockt, aus dem Keiner wieder zurückgekehrt ist? Hütet Euch!“ (E II, 386).
Worauf Fortunato anspielt, sind drei miteinander verwobene Mythen: die Sage vom getreuen Eckhart und vom Tannhäuser,3 die in Ludwig Tiecks Der getreue Eckart und Der Tannenhäuser (1799) zusätzlich mit dem „Rattenfänger von Hameln“ (T VI, 148)4 verschmolzen werden. Wenn Fortunato explizit von einem „Spielmann“ und dem „Zauberberg“ spricht, dann ist Tiecks Auseinandersetzung mit dem Venusberg-Stoff, auf die sich der junge Eichendorff ja auch andernorts bezieht,5 die einzige Referenz.6 „Habt Ihr niemals von dem Berge gehört, den die Leute nur den Berg der Venus nennen?“, wird schon Tiecks Eckart von einem alten Mann gefragt. Letzterer fügt hinzu: „Ein Spielmann von wunderseltner Art ist plötzlich von unten hervor gekommen, den die Höllischen als ihren Abgesandten ausgeschickt haben, dieser durchzieht die Welt, und spielt und musiziert auf einer Pfeifen, daß die Töne weit in den Gegenden wider klingen“ (T VI, 156).
Die Rede des alten Mannes – ich beginne meine Überlegungen mit Tiecks Eckart – beschreibt ein Parallelschicksal zur Geschichte des getreuen Eckart. Letzterer trauert um seine Kinder, von denen der „Herzog“ von Burgund zwei hat hinrichten lassen, weil der Herrscher gegenüber dem einstmaligen „Freund“ ein starkes „Mißtrauen“ hegt, dieser „wolle ihm gar sein Herzogtum entreißen“ (T VI, 153). Dies ist insofern unbegründet, als der Herzog seinem Helden nach einer gewonnenen Schlacht selbst angetragen hat, ein „Bruder“ und damit der zweite „Herr“ seines Herzogtums zu sein. Anscheinend haben Eckarts „Feinde“ am Hof den Herzog jedoch darauf hingewiesen, dass Eckart große Sympathien im Volk hat. Sogar Eckarts jüngster Sohn weiß bereits, dass „alle Leute im ganzen Lande“ seinem Vater „beistehn“ würden, wenn er sich gegen ihn erhöbe. Dementsprechend hat der Herzog Eckart zum „Feind“ und „Verräter“ erklärt, mit dem Ergebnis, dass er nicht nur seine zwei Kinder töten lässt, sondern später auch Eckart selbst ans Leben will, da „dessen Tod nur ihn völlig sicher stellt[ ]“ (T VI, 151–153; 158; 160).
Es handelt sich bei Eckart und dem Alten insofern um ein Parallelschicksal, als Letzterer ebenfalls zwei Kinder verloren hat. Nach seinen Aussagen sind die beiden Söhne den Tönen des oben genannten Spielmanns zum Venusberg gefolgt. Die Parallele festigt sich nicht nur inhaltlich, da die beiden Söhne-Paare jeweils „mit […] unerklärlicher Gewalt“ fortgerissen wurden, ohne jemals wieder „den Rückweg“ finden zu können, sondern auch formal, im Sinne einer Paranomasie, da beide Söhne-Paare in einen „Berg“ bzw. eine „Burg“ gelockt wurden (T VI, 157).
Bekanntlich sieht man sich im Leben nicht nur einmal: Wenn sich Eckart und der Herzog von Burgund später versöhnen, dann geschieht dies alles andere als zufällig in der „Hütte“ des „Greis[es]“, der Eckart „unlängst sein großes Unglück mit seinen Söhnen erzählt hatte“ (T VI, 164). Dorthin nämlich nehmen Held und Herzog Zuflucht, nachdem dieser jenen aus einem Unwetter gerettet und sich entschlossen hat, ihm das Leben zu schenken, wiewohl dieser ihm wehrlos ergeben war.
Der Herzog, der kurz darauf verstirbt, setzt Eckart zum „Vormund[ ] über seine Söhne“ und zum Leiter der „Regierung“ ein, solange diese noch minderjährig sind; dieses Geschenk nimmt Eckart an und betrachtet des Herzogs Söhne als seine „Nachkommenschaft“. Es ist offensichtlich, dass Burgund auf diese Weise versucht, dass ihm seine „schweren Sünden“, also der Neid und die damit verbundene Tötung der Kinder Eckarts, „vergeben“ werden (T VI, 164; 166). Zumindest bis zur Volljährigkeit des ersten Sohnes ist Eckart wieder der „Herr“, den der Herzog ihm erst angeboten und dann abgesprochen hat, und als dieser Herr nun auch wieder, wenn auch nur symbolisch und nicht biologisch, Vater von zwei Söhnen.
Die Frage ist jedoch, ob die damit erhoffte Sühne für Burgund auch tatsächlich erfolgt ist: Der Erzähler erwähnt nämlich, dass Eckart versucht, das „Andenken“ an seine biologischen Kinder zu „unterdrück[en]“, was ihm jedoch nicht vollständig gelingt, da er in solchen Augenblicken eines „lieblichen Klang[s]“ aus der „Ferne“ gewahr zu werden „schien“. Dieser Klang weist eine deutliche Ähnlichkeit zu der Musik des zuvor erwähnten teuflischen Musikers auf: Das „wunderbare Gerücht von dem Spielmanne, der aus dem Venusberge gekommen“, welches Eckbert ursprünglich „[n]iemalen“ gehört hat, hat sich nämlich nach dem Tod des Herzogs „in allen Gegenden“ des Landes „so verbreitet[ ]“, wie der im Gerücht thematisierte Spielmann „das ganze Land durchzieh[t]“ (T VI, 156; 166). Auch Eckart ist also nicht frei von der Anziehungskraft des Venusbergs, oder andersherum ausgedrückt: In seinem Unbewussten7 lebt das erlittene Unrecht weiter fort, nur dass er jetzt, da er das Angebot von Burgund angenommen hat, auch an dieser Schuld teilhat. Wenn er also im Folgenden vor dem Venusberg warnt, weiß er, wovon er spricht.
Bei genauerem Hinsehen wird noch ein drittes Schicksal in das Amalgam eingeflochten. Es war nämlich nicht Eckart alleine, der den Herzog gerettet hat, vielmehr hat sein Knappe mit Namen „Wolfram“ die rettende Hütte des Alten durch das lebensgefährliche Hinaufklettern auf eine Tanne erspäht. Zum Dank vermacht der Herrscher dem Knappen, den er wegen seiner Tat „Tannenhäuser“ nennt, „die beiden Schlösser, die hier auf den nächsten Bergen liegen“ (T VI, 163–165). In diesem doppelten Vermächtnis – der Vormundschaft über die Söhne inklusive Regierung an Eckart und der Schlösser inklusive Namensänderung an den Knappen – wird eine Verbindungslinie zwischen dem ersten und dem zweiten „Abschnitt“ gezogen.
Der Erzähler setzt in diesem zweiten Teil der Erzählung nun damit ein, dass „mehr als vier Jahrhunderte seit dem Tode des getreuen Eckart verflossen“ sind; Ort des Erzählens ist „am Hofe“, der jetzt kaiserlich ist: Tannenhäusers Vater ist „kaiserlicher Rat“ (T VI, 171);8 später ist auch von einem „Feldzug“, den der „Kaiser […] gegen seine Feinde“ (T VI, 177) unternimmt, die Rede. Der Erzähler erwähnt den Sohn des „edl...