1.1 Zum Fach und zu seinem Studium
G 100. Das Fach Vergleichende Indogermanische Sprachwissenschaft, kurz Indogermanistik, ist an den deutschsprachigen Universitäten unter leicht variierenden Bezeichnungen als Institution (Lehrstuhl, Professur) etabliert: Vergleichende und Indogermanische Sprachwissenschaft (Freie Universität Berlin, Ludwig-Maximilians-Universität München), Vergleichende Indogermanische Sprachwissenschaft (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen), Indogermanische Sprachwissenschaft (Westfälische Wilhelms-Universität Münster), Indogermanistik (Friedrich-Schiller-Universität Jena), Historisch-Vergleichende Sprachwissenschaft (Universität zu Köln, Humboldt-Universität zu Berlin), Vergleichende Sprachwissenschaft (Goethe-Universität Frankfurt am Main, Philipps-Universität Marburg, Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Universität Zürich), Sprachwissenschaft (Universität Wien). Das sind die Suchergebnisse im Internet, wenn man am Computer als Suchwort Indogermanistik und den jeweiligen Ortsnamen eingibt. Das Studienfach selbst kann unter verschiedenen anderen Bezeichnungen aufgeführt werden, auch unterschieden nach BA- und MA-Studium. Ein PhD-Studium in Vergleichender Indogermanischer Sprachwissenschaft, also eine Promotion, kann man an deutschen Universitäten übrigens immer dann durchführen, wenn es an der betreffenden Universität eine in Vergleichender Indogermanischer Sprachwissenschaft habilitierte Person gibt, unabhängig von der Existenz einer indogermanistischen Institution, an der ein BA- oder MA-Studium möglich ist. Beispielsweise kann man an der Freien Universität Berlin weiter in Vergleichender und Indogermanischer Sprachwissenschaft promovieren, obwohl das Seminar für Vergleichende und Indogermanische Sprachwissenschaft seit 2013 geschlossen ist.
Auch außerhalb des deutschsprachigen Raums kann man Indogermanistik studieren: Indogermanistik ist eine internationale Disziplin, und so wird das Fach schon immer auch in vielen verschiedenen Ländern vertreten, im englischsprachigen Raum etwa im Vereinigten Königreich an den Universitäten in Oxford und Cambridge, in den Vereinigten Staaten an den Universitäten von Kalifornien in Los Angeles und von Texas in Austin sowie in Harvard und Cornell, um nur einige zu nennen. Aber beispielsweise auch in Frankreich (Paris), den Niederlanden (Leiden), Dänemark (Kopenhagen) und Russland (Moskau, St. Petersburg) wird Indogermanistik unterrichtet.
Aktuelle Daten zu den Möglichkeiten für ein Studium der Indogermanistik bietet die Website der Indogermanischen Gesellschaft (→ indogermanistik.org),aber auch der Thesaurus Indogermanischer Text- und Sprachmaterialien (TI-TUS) von Jost Gippert an der Goethe-Universität Frankfurt (→ titus.unifrankfurt.de). Interessante Informationen zum Studium der Indogermanistik finden sich auch auf der Website Hochschulkompass (→ hochschulkompass.de)der Hochschulrektorenkonferenz (HRK).
Die Indogermanische Gesellschaft vertritt als Fachverband das Fach Indogermanistik nach außen, s.u. G 201 Abs. 2. Sie organisiert etwa alle vier Jahre eine große Fachtagung (= FT), s.u. in der Bibliographie s.v. FT. Hinzu kommen kleinere Kolloquien und Arbeitstagungen (= AT), s.u. in der Bibliographie s.v. AT, FT und Kolloquium.
Zur aktuellen Situation der Disziplin Indogermanistik als sog. Kleines Fach gibt es ferner Informationen auf der Website Portal Kleine Fächer (→ kleinefaecher.de) der an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz angesiedelten, von Mechthild Dreyer und Uwe Schmidt geleiteten, Arbeitsstelle Kleine Fächer, die die Arbeit der seinerzeit an der Universität Potsdam eingerichteten Arbeitsstelle Kleine Fächer unter der Leitung von Norbert Franz fortführt, deren knapp 300 Seiten umfassender Abschlussbericht des Projekts Kartierung der sog Kleinen Fächer (Stand 2012) unter derselben Internetadresse eingesehen werden kann ebenso wie der aktuelle Kartierungsbericht von 2019. Die Arbeitsstelle Kleine Fächer ist eine Forschungseinrichtung, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziert wird.
Die Indogermanistik als eines der sog. Kleinen Fächer ist schon seit der Zeit des Wirtschaftswunders in einem andauernden Rückzugsgefecht gegenüber der modernen Linguistik einerseits und den modernen Philologien andererseits. Das schlagende Argument gegen die Indogermanistik ist in beiden Fällen der wirtschaftliche Nutzen: Moderne Sprachwissenschaft und moderne Sprachen sind anwendungsbezogen, Indogermanistik und alte Sprachen braucht niemand. Die ewig gestellte Frage an Schüler und Schülerinnen Humanistischer Gymnasien, die Latein und Griechisch lernen und diese altehrwürdigen Sprachen auch an der Universität studieren wollen, ist: „Und was machst du später damit?“
G 101. Es gibt seit geraumer Zeit eine ganze Reihe von Standortbestimmungen zu Wesen und Aufgaben der Indogermanistik: → Arbeitsausschuß der Idg. Gesellschaft. Kratylos 13 (1968: 222f.) (= Linguistische Berichte 9, 1970: 78–80); Karl Hoffmann: Wozu die „Kleinen“ Fächer? Z.B. Vergleichende Indogermanische Sprachwissenschaft und Indoiranische Philologie. Uni-Kurier: Zeitschrift der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg 22 (1978: 33f.); Oswald Szemerényi (1990: 32–36); Rosemarie Lühr: Indogermanistik am Wendepunkt? Thesen zur zukunftsorientierten Ausrichtung einer Disziplin. Gießener Universitätsblätter 25 (1992: 77–90); George Dunkel: Zürcher Indogermanistik zwischen Vergangenheit und Zukunft. Informationsblatt der Universität Zürich 6 (1990: 10–12); Günter Neumann: Zur Interdisziplinarität der Geisteswissenschaften. Ein Beispiel: Die Vergleichende Sprachwissenschaft. Gießener Universitätsblätter 29 (1996: 61–67).
An erster Stelle lohnt es sich in diesem Zusammenhang, die heutigen Fachbeschreibungen anzusehen, die auf den Internetpräsenzen der indogermanistischen Einrichtungen an den jeweiligen Universitäten angeboten werden.
G 102. Es gibt nichts Spannenderes und Kreativeres als historischvergleichende Sprachwissenschaft.
Eine Warnung aber gleich vorweg: Der Weg zu einer akademischen Anstellung im Bereich der Sprachwissenschaft ist steinig und dornenvoll. Wer dazu aufbricht, kann gewinnen, aber auch verlieren. Wer viel Geld auf seinem Konto haben will, muss andere Wege gehen. Gegenüber 2010 ist die finanzielle Lage und berufliche Situation in der Indogermanistik im Jahre 2020 noch um ein Vielfaches schwieriger geworden.
Grundvoraussetzung für ein erfolgversprechendes Studium ist nach wie vor ein persönliches lebhaftes Interesse an Sprache und Sprachen. Eine Vorliebe für die rückwärtsgewandte erklärende historische Perspektive muss dazukommen. Mit der allgemeinen Hochschulreife sollten Kenntnisse des Lateinischen und Griechischen am besten gleich von der Schule mitgebracht werden. Wo die heutigen Schulpläne dies nicht mehr haben realisieren lassen, können die notwendigen Lateinkenntnisse (Latinum) sowie Griechischkenntnisse natürlich auch im Laufe des Grundstudiums erworben werden. Kenntnisse des Englischen und Französischen sind für die Lektüre der Fachliteratur unerlässlich; auch Spanisch-, Italienisch- und Russischkenntnisse sind hilfreich.
Latein, Griechisch und Altindisch (Vedisch) gehören zu den tragenden Säulen der Indogermanistik, schon allein deswegen, weil sich die Fachdiskussion seit ihren Anfängen immer wieder auf Probleme dieser Sprachen bezieht. Nur die entsprechenden Sprachkenntnisse ermöglichen eine eigenständige Beurteilung.
Neben der Beschäftigung mit den drei genannten Sprachen ist es ratsames sich, sich im Laufe des Studiums gute Kenntnisse des anatolischen Hethitischen sowie Kenntnisse einer germanischen Sprache (Gotisch, Althochdeutsch oder Altniederfränkisch) und einer Sprache der balto-slavischen Gruppe (z.B. Altbulgarisch oder Litauisch) anzueignen.
Es geht nichts über die eigene Lektüre von Originaltexten. Ein persönlicher Gewinn ist es auch, klassisch gewordene indogermanistische Arbeiten und Aufsätze richtig von A–Z zu lesen und nicht nur bei Bedarf nachzuschlagen.
Es lohnt sich, hohe eigene Maßstäbe zu setzen und sich auch umzusehen, wie andere Sprachwissenschaftler zu dem geworden sind, was sie sind: → FS Wandruszka (1991); Sebeok (1966).
Wie jedes Fach kennt auch die Indogermanistik ungeschriebene Gesetze der Zunft. So sollte es die Pflicht eines jeden sein, neue Schritte nur „im Gespräch“ mit der bereits in der Fachliteratur zugänglichen Forschung zu gehen und dem bereits Geleisteten die Ehre des Zitats zuteil werden zu lassen. Problematisch ist aber die immer größer werdende Menge von Daten, die zu diesem Zwecke zu meistern ist. Der Umgang mit und die Ehrfurcht vor dem Bisher darf einem aber nicht die Einsicht zum Neuen blockieren.
1.2 Die Indogermanistik mit Computer und Internet
G 200. Die Indogermanistik kann wie jede andere Wissenschaft auf Computer und Internet nicht mehr verzichten. Digitale Resourcenrecherche sowie computerbasierte Prozesse zum Datencheck sind in den Zeiten der sog. Digital Humanities auch in der Forschung zu den ältesten Sprachstufen nichts Neues mehr. Indogermanistik ist, da sie sich besonders mit Sprachen beschäftigt, die nicht mehr gesprochen werden, deren überlieferte Zeugnisse also geschlossene Textkorpora bilden, Korpuslinguistik par excellence. Exemplarisch für die frühe Anwendung kalkulatorischen Denkens und statistischer Methoden in der Indogermanistik ist schon das von der Systematik der Sanskrit-Grammatik inspirierte Wörterbuch zum Rig-Veda von Hermann Graßmann (1873), einem auch in seiner ursprünglichen Profession, Mathematik und Physik, vorausschauenden und zukunftsweisenden Forscher, der aber von seinen zeitgenössischen Kollegen lange geflissentlich ignoriert wurde und sich so dankenswerterweise dem Studium des Altindischen und speziell dem ältesten altindischen Textkorpus, nämlich dem R̥gveda widmete. Inzwischen kann innovative Computertechnologie nicht nur die formal-statistische, sondern sogar die semantisch-etymologische Forschung in der Indogermanistik erleichtern und beschleunigen, da Computerprogramme heute schon mit sehr hoher Trefferwahrscheinlichkeit verwandte Wörter in verschiedenen Sprachen identifizieren können. Zu diesem futuristischen Potential: → J.-M. List / S. Greenhill / R. Gray: The Potential of Automatic Word Comparison for Historical Linguistics. PLoS ONE 12(1): e0170046 (2017).
Seit der Jahrtausendwende haben sich auch die digitalen Informationsmöglichkeiten gewaltig gesteigert. Bibliotheken, Verlage, ...