Vorbemerkung
Im Folgenden soll die Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Zeit in modernen Zeit-Theorien untersucht und kritisch geprüft werden. Am Ende dieser Untersuchung stellt sich heraus, dass es gute systematische Gründe dafür gibt anzunehmen,
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dass der traditionelle Dualismus von Subjektivität und Objektivität unhaltbar ist,
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dass daher auch die herkömmliche scharfe Dichotomie von subjektiver und objektiver Zeit abgeschwächt werden muss, und
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dass somit die aristotelischen Intuitionen (A1) – (A10) in neuer Form wieder aufgenommen werden können,
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wobei es sich allerdings nur um eine Zeit-Theorie handelt, die für das Bezugssystem Erde und den Bereich mittlerer Größen gilt.
Metaphysik der Zeit
Mit den Grundsätzen (A1), (A2) und (A3) skizziert Aristoteles seine Metaphysik der Zeit. Unter modernen Zeit-Theoretikern werden hautsächlich drei metaphysische Positionen vertreten: Eternalismus, Präsentismus und Possibilismus.
Die Eternalisten glauben, dass der zeitliche Wandel nicht zur ontologischen Grundausstattung gehört. Sie fragen sich, was Aussagen über zeitliche Ereignisse wie „Mozart starb im Jahre 1791“ wahr macht. Nun, offenbar die Tatsache, dass Mozarts Tod in das Jahr 1791 fällt. Und diese Tatsache gehört zur Welt, unabhängig davon ob wir vor 1791, in 1791 oder nach 1791 darüber reden. Sie ist unabhängig sowohl von der modalzeitlichen als auch von der lagezeitlichen Ordnung. Dies gilt auch für Aussagen über die Zukunft. Tatsachen existieren in permanenter Gegenwart. Und das gilt dann auch vom Universum als Ansammlung aller Tatsachen. Das ist die Vorstellung vom sogenannten Blockuniversum (block universe theory), die bei vielen Physikern gut ankommt.117 Dies gilt umso mehr, als die quantentheoretischen Grundgesetze der modernen Physik keine eindeutige Zeitrichtung ausweisen. Die Tendenz, die sich neuerdings abzeichnet (und deren Details den Rahmen dieses Essays sprengen würden), geht dahin, dass sich die Zeit aus den Grundlagen der Physik emanzipiert, wie ein Experte kürzlich formuliert hat.118
Der Präsentismus geht davon aus, dass weder das Vergangene existiert, da es Geschichte ist, noch die Zukunft, da sie noch vor uns liegt (presentism). Das Einzige, was existiert, ist das Gegenwärtige, das Sein in Präsenz, das sich ständig verschiebt. Der Possibilismus betrachtet die Relation von Vergangenheit und Zukunft als asymmetrisch. Im Verlauf der Wanderung des Jetzt wächst der Block vergangener realer und unveränderlicher Ereignisse ständig (growing (evolving) block theory).119 Präsentismus und Possibilismus greifen offensichtlich auf die modal-zeitlich Ordnung zurück und respektieren den zeitlichen Wandel als grundlegenden Bestandteil der Welt.120
Diese drei Position sehen sich allerdings bislang schwerwiegenden Problemen ausgesetzt.121
Präsentisten und Possibilisten gehen von einer ausgezeichneten metaphysischen Stellung der Gegenwart und damit auch der Gleichzeitigkeit aus und geraten durch die Relativitätstheorie in Schwierigkeiten, aus der folgt, dass verschiedene physikalische Bezugssysteme unterschiedliche Ereignisse als gegenwärtig klassifizieren. Die Eternalisten stehen vor dem bislang ungelösten Problem, erklären zu müssen, wie die unbestreitbare irreversible Zeitrichtung in die Welt kommt. Hauptsächlich sind drei Erklärungen angeboten worden: die intrinsisch gerichtete Kausalität, die thermodynamische Zunahme der Entropie, und die leichte Inhomogenität der Energieverteilung im Zuge des Urknalls. Viele Theoretiker bezweifeln jedoch eine ausgezeichnete Richtung der Kausalität122 und weisen auf lokale Systeme hin, in denen die Entropie abnimmt.123 Daher wird der Verweis auf den Urknall meist als bisher beste Lösung gehandelt. Diese Lösung verlegt den Ursprung des Zeitpfeils in eine Randbedingung des Universums und ist daher mit der Eliminierung des Zeitpfeils aus den quantenmechanischen Grundgesetzen gut vereinbar.
Aus Sicht der führenden modernen Zeittheorien steht die Zeit-Auffassung von Parmenides, Zenon und Platon offensichtlich dem Eternalismus nahe. Aristoteles ließe sich am besten als Possibilist einordnen124 – allerdings in einer speziellen Variante, die eine eternalistische Komponente enthält. Denn zwar wächst auch nach Aristoteles der Block unveränderlicher Ereignisse und Prozesse, doch seine These, dass Bewegungen von sich aus noch keinen zeitlichen Wandel enthalten, entspricht der eternalistischen Auffassung, dass die Grundgleichungen der Physik keinen Zeitpfeil enthalten. Im Übrigen adressiert Aristoteles zwar das Problem der Zeitrichtung nicht explizit, entwickelt jedoch eine dezidierte Vorstellung zum Zeitpfeil, die auf der Idee des wandernden Jetzt und der 1 – 1-Abbildung von Folgen von Zeit-Intervallen auf die Menge der natürlichen Zahlen beruht.
Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Zeit
Die aristotelische Unterscheidung zwischen der Zeit im Sinne von Grundsatz (A1)(a) und der Zeit im Sinne von Grundsatz (A1)(c) wird in modernen Zeit-Theorien als Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Zeit betrachtet. Zum Teil wird diese Unterscheidung, wie bereits bemerkt, auf die Art und Weise bezogen, wie wir im Alltag über die Zeit reden.125
Die objektive Zeit ist aus gegenwärtiger Perspektive die „physikalische Zeit, die eine Uhr misst bzw. anzeigt“ und demnach etwas, „das es in der metaphysischen und physikalischen Wirklichkeit gibt und das vermeintlicherweise unabhängig ist vom Menschen“.126 Insbesondere ist die objektive Zeit eine „dauerhafte Ordnung der Dinge“, also eine „lagezeitliche Ordnung, gemäß dessen, was allgemein früher oder später ist“, die keinen „spezifischen Gegenwartsbezug“, sondern allenfalls konventionelle Bezugspunkte involviert.127 Objektive Zeit setzt außerdem eine Maßeinheit voraus, die im Blick auf periodische Bewegungen ausgezeichnet wird, die mit möglichst vielen anderen periodischen Bewegungen kompatibel sind, sodass objektive Zeit letztlich auf ausgedehnten Bewegungsintervallen beruht.128
Der physikalische Ausdruck der objektiven Zeit ist im Begriff der Raumzeit der Relativitätstheorie enthalten. Das physikalische Jetzt ist punktartig, doch kann es kein objektives Jetzt geben. Die Metaphysik der objektiven Zeit ist eng mit der Theorie des Blockuniversums korreliert. Denn die metaphysische Konsequenz der objektiven Zeitvorstellung ist, dass Dinge und Ereignisse in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in derselben Weise existieren. Da sich das Blockuniversum nicht bewegt, kann sich auch die Zeit nicht bewegen. In diesem metaphysischen Rahmen wird die Rede vom Zeitfluss buchstäblich sinnlos. Zugleich hat die eternalistische Metaphysik des Blockuniversums mit der Relativität der Gleichzeitigkeit keine Probleme. Gleichzeitige Dinge und Ereignisse liegen dieser Theorie zufolge gleichsam auf bestimmten Schnitten durch das Blockuniversum, doch gibt es viele verschiedene Möglichkeiten solcher Schnitte.129
Objektive Zeit wird ähnlich beschrieben wie der Raum. So wie es keine genuinen Raum-Prädikate gibt, sondern nur räumliche Relationen („x ist nördlich von y“, „x ist unter y“), so gibt es auch keine genuinen Zeit-Prädikate, sondern nur zeitliche Relationen („x ist früher als y“, „x ist später als y“). Zudem können wir in einer temporalen und atemporalen Weise über die Welt sprechen.130 In der temporalen Sprache verwenden wir sowohl unbestimmte Indizes wie „jetzt“ oder „gestern“ als auch temporal flektierte Verben wie „hatte geschrieben“ oder „wird sich noch wünschen.“ Eine semantische Eigenschaft der temporalen Sprache ist, dass verschiedene Tokens desselben Satztyps (z. B. des Satztyps „Gestern war ich müde“) verschiedene Wahrheitswerte aufweisen können. In der atemporalen Sprache benutzen wir derartige Indizes und grammatischen Flektionen nicht. Zwar ist es üblich, zum Beispiel zu sagen, dass es in Hamburg am Heiligabend 1985 regnete, aber wir können auch in einer alternativen und gleichwertigen Form behaupten, dass der Satz „In Hamburg regnet es am Heiligabend 1985“ wahr ist. Und wenn dieser Satz wahr ist, dann auch jedes andere Token dieses Satztyps.131 Die objektive Zeit ist aus dieser Sicht der Gegenstand einer atemporalen Sprache und Semantik. Doch vor allem gilt die objektive Zeit als objektiv, insofern sie Teil der physikalischen Realität und nicht geist-abhängig ist.132
Die subjektive Zeit wird dagegen betrachtet als „Zeit, wie sie einem erscheint oder wie man sie wahrnimmt“ und demnach als etwas, „das insbesondere menschliche Wahrnehmungen, Erfahrungen und Handlungen strukturiert“ und „eine Art Dimension des Prozesshaften <involviert>, in der wir altern, in der Pflanzen wachsen und vertrocknen, usw.“133 Subjektive Zeit stellt eine modalzeitliche Ordnung134 mit der „Gegenwart als ausgezeichnetem Referenzpunkt“ dar.135 Sie ist verankert im gegenwärtigen Erleben, im Gefühl der Präsenz (des „Jetzt-Erlebens“),136 verknüpft die Zeit mit einer irreversiblen Zeitrichtung,137 akzeptiert die Rede von einem Verfließen der Zeit138 und ist daher nicht Teil der physikalischen Wirklichkeit.139
Die subjektive Zeit ist dieser Konzeption zufolge eng mit einer mentalen Aktivität korreliert und fällt in den Bereich des phänomenalen Bewusstseins. Allerdings ist nicht immer klar, worin genauer die Beziehung zwischen subjektiver Zeit und mentalen Zuständen oder Aktivitäten besteht. Beispielsweise heißt es in einer psychologischen Studie, subjektive Zeit sei
„das innere Zeitgefühl des Menschen … Hinsichtlich der subjektiven Zeit herrscht in der psychologischen Literatur eine begriffliche Vielfalt: man redet von Zeiterfahrung, Zeiterleben, Zeitgefühl, Zeitgedächtnis, Zeitwahrnehmung, Zeitbewusstsein etc.“140
Hiernach scheint die subjektive Zeit mit einem gewissen mentalen Gefühl identisch zu sein. Kants Rede von der Zeit als „innerem Sinn“ könnte in diesem Sinn verstanden werden. Doch ist diese Identifizierung mehr als problematisch, nicht zuletzt weil damit unklar bleibt, welchen Inhalt dieser mentale Zustand oder welches Ziel die entsprechende mentale Aktivität hat. Ausdrücke wie „Zeiterfahrung“ oder „Zeitgefühl“ können allerdings auch so interpretiert werden, dass es sich um mentale Zustände oder Aktivitäten ha...