Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher
ÜBER DIE RELIGION (1799)
ZWEITE REDE
Über das Wesen der Religion
[...]
Stellet Euch auf den höchsten Standpunkt der Metaphysik und der Moral, so werdet Ihr finden, dass beide mit der Religion denselben Gegenstand haben, nämlich das Universum und das Verhältnis des Menschen zu ihm. Diese Gleichheit ist von lange her ein Grund zu mancherlei Verirrungen gewesen; daher ist Metaphysik und Moral in Menge in die Religion eingedrungen, und manches, was der Religion angehört, hat sich unter einer unschicklichen Form in die Metaphysik oder die Moral versteckt. Werdet Ihr aber deswegen glauben, dass sie mit einer von beiden einerlei sei? Ich weiß, dass Euer Instinkt Euch das Gegenteil sagt, und es geht auch aus Eueren Meinungen hervor; denn Ihr gebt nie zu, dass sie mit dem festen Tritte einhergeht, dessen die Metaphysik fähig ist, und Ihr vergesset nicht, fleißig zu bemerken, dass es in ihrer Geschichte eine Menge garstiger unmoralischer Flecken gibt. Soll sie sich also unterscheiden, so muss sie ihnen, ungeachtet des gleichen Stoffs, auf irgendeine Art entgegengesetzt sein; sie muss diesen Stoff ganz anders behandeln, ein anderes Verhältnis der Menschen zu demselben ausdrücken oder bearbeiten, eine andere Verfahrungsart oder ein anderes Ziel haben: denn nur dadurch kann dasjenige, was dem Stoff nach einem andern gleich ist, eine besondere Natur und ein eigentümliches Dasein bekommen. […]
Darum ist es Zeit, die Sache einmal beim anderen Ende zu ergreifen und mit dem schneidenden Gegensatz anzuheben, in welchem sich die Religion gegen Moral und Metaphysik befindet. […]
Sie begehrt nicht, das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären wie die Metaphysik, sie begehrt nicht, aus Kraft der Freiheit und der göttlichen Willkür des Menschen es fortzubilden und fertig zu machen wie die Moral. Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen. So ist sie beiden in allem entgegengesetzt, was ihr Wesen ausmacht, und in allem, was ihre Wirkungen charakterisiert. Jene sehen im ganzen Universum nur den Menschen als Mittelpunkt aller Beziehungen, als Bedingung alles Seins und Ursache alles Werdens; sie will im Menschen nicht weniger als in allen andern Einzelnen und Endlichen das Unendliche sehen, dessen Abdruck, dessen Darstellung. Die Metaphysik geht aus von der endlichen Natur des Menschen, und will aus ihrem einfachsten Begriff und aus dem Umfang ihrer Kräfte und ihrer Empfänglichkeit mit Bewusstsein bestimmen, was das Universum für ihn sein kann und wie er es notwendig erblicken muss. Die Religion lebt ihr ganzes Leben auch in der Natur, aber in der unendlichen Natur des Ganzen, des Einen und Allen; was in dieser alles Einzelne und so auch der Mensch gilt und wo alles und auch er treiben und bleiben mag in dieser ewigen Gärung einzelner Formen und Wesen, das will sie in stiller Ergebenheit im Einzelnen anschauen und ahnden. Die Moral geht vom Bewusstsein der Freiheit aus, deren Reich will sie ins Unendliche erweitern und ihr alles unterwürfig machen; die Religion atmet da, wo die Freiheit selbst schon wieder Natur geworden ist, jenseits des Spiels seiner besonderen Kräfte und seiner Personalität fasst sie den Menschen und sieht ihn aus dem Gesichtspunkte, wo er das sein muss, was er ist, er wolle oder wolle nicht. So behauptet sie ihr eigenes Gebiet und ihren eigenen Charakter nur dadurch, dass sie aus dem der Spekulation sowohl als aus dem der Praxis gänzlich herausgeht, und indem sie sich neben beide hinstellt, wird erst das gemeinschaftliche Feld vollkommen ausgefüllt und die menschliche Natur von dieser Seite vollendet. Sie zeigt sich Euch als das notwendige und unentbehrliche Dritte zu jenen beiden, als ihr natürliches Gegenstück, nicht geringer an Würde und Herrlichkeit, als welches von ihnen Ihr wollt. Spekulation und Praxis haben zu wollen ohne Religion ist verwegener Übermut, es ist freche Feindschaft gegen die Götter, es ist der unheilige Sinn des Prometheus, der feigherzig stahl, was er in ruhiger Sicherheit hätte fordern und erwarten können. Geraubt nur hat der Mensch das Gefühl seiner Unendlichkeit und Gottähnlichkeit, und es kann ihm als unrechtes Gut nicht gedeihen, wenn er nicht auch seiner Beschränktheit sich bewusst wird, der Zufälligkeit seiner ganzen Form, des geräuschlosen Verschwindens seines ganzen Daseins im Unermesslichen. Auch haben die Götter von je an diesen Frevel gestraft. Praxis ist Kunst, Spekulation ist Wissenschaft, Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche. Ohne diese, wie kann sich die erste über den gemeinen Kreis abenteuerlicher und hergebrachter Formen erheben, wie kann die andere etwas Besseres werden als ein steifes und mageres Skelett? Oder warum vergisst über alles Wirken nach außen und aufs Universum hin Eure Praxis am Ende eigentlich immer den Menschen selbst zu bilden? Weil Ihr ihn dem Universum entgegengesetzt und ihn nicht als einen Teil desselben und als etwas Heiliges aus der Hand der Religion empfangt. Wie kommt sie zu der armseligen Einförmigkeit, die nur ein einziges Ideal kennt und dieses überall unterlegt? Weil es Euch an dem Grundgefühl der unendlichen und lebendigen Natur fehlt, deren Symbol Mannigfaltigkeit und Individualität ist. Alles Endliche besteht nur durch die Bestimmung seiner Grenzen, die aus dem Unendlichen gleichsam herausgeschnitten werden müssen. Nur so kann es innerhalb dieser Grenzen selbst unendlich sein und eigen gebildet werden, und sonst verliert Ihr alles in der Gleichförmigkeit eines allgemeinen Begriffs. Warum hat Euch die Spekulation so lange statt eines Systems Blendwerke und statt der Gedanken Worte gegeben, warum war sie nichts als ein leeres Spiel mit Formeln, die immer anders wiederkamen und denen nie etwas entsprechen wollte? Weil es an Religion gebrach, weil das Gefühl des Unendlichen sie nicht beseelte und die Sehnsucht nach ihm und die Ehrfurcht vor ihm ihre feinen, luftigen Gedanken nicht nötigte, eine festere Konsistenz anzunehmen, um sich gegen diesen gewaltigen Druck zu erhalten. Vom Anschauen muss alles ausgehen, und wem die Begierde fehlt, das Unendliche anzuschauen, der hat keinen Prüfstein und braucht freilich auch keinen, um zu wissen, ob er etwas Ordentliches darüber gedacht hat.
Und wie wird es dem Triumph der Spekulation ergehen, dem vollendeten und gerundeten Idealismus, wenn Religion ihm nicht das Gegengewicht hält und ihn einen höheren Realismus ahnden lässt als den, welchen er so kühn und mit so vollem Recht sich unterordnet? Er wird das Universum vernichten, indem er es zu bilden scheint, er wird es herabwürdigen zu einer bloßen Allegorie, zu einem nichtigen Schattenbilde unserer eigenen Beschränktheit. Opfert mit mir ehrerbietig eine Locke den Manen des heiligen, verstoßenen Spinoza! Ihn durchdrang der hohe Weltgeist, das Unendliche war sein Anfang und Ende, das Universum seine einzige und ewige Liebe, in heiliger Unschuld und tiefer Demut spiegelte er sich in der ewigen Welt, und sah zu, wie auch er ihr liebenswürdigster Spiegel war; voller Religion war er und voll heiligen Geistes; und darum steht er auch da, allein und unerreicht, Meister in seiner Kunst, aber erhaben über die profane Zunft, ohne Jünger und ohne Bürgerrecht.
Anschauen des Universums, ich bitte, befreundet Euch mit diesem Begriff, er ist der Angel meiner ganzen Rede, er ist die allgemeinste und höchste Formel der Religion, woraus Ihr jeden Ort in derselben finden könnt, woraus sich ihr Wesen und ihre Grenzen aufs genaueste bestimmen lassen. Alles Anschauen gehet aus von einem Einfluss des Angeschauten auf den Anschauenden, von einem ursprünglichen und unabhängigen Handeln des ersteren, welches dann von dem letzteren seiner Natur gemäß aufgenommen, zusammengefasst und begriffen wird. Wenn die Ausflüsse des Lichtes nicht –was ganz ohne Eure Veranstaltung geschieht – Euer Organ berührten, wenn die kleinsten Teile der Körper die Spitzen Eurer Finger nicht mechanisch oder chemisch affizierten, wenn der Druck der Schwere Euch nicht einen Widerstand und eine Grenze Eurer Kraft offenbarte, so würdet Ihr nichts anschauen und nichts wahrnehmen, und was Ihr also anschaut und wahrnehmt, ist nicht die Natur der Dinge, sondern ihr Handeln auf Euch. Was Ihr über jene wisst oder glaubt, liegt weit jenseits des Gebiets der Anschauung. So die Religion; das Universum ist in einer ununterbrochenen Tätigkeit und offenbart sich uns jeden Augenblick. Jede Form, die es hervorbringt, jedes Wesen, dem es nach der Fülle des Lebens ein abgesondertes Dasein gibt, jede Begebenheit, die es aus seinem reichen, immer fruchtbaren Schoße herausschüttet, ist ein Handeln desselben auf uns; und so alles Einzelne als einen Teil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion; was aber darüber hinauswill und tiefer hineindringen in die Natur und Substanz des Ganzen, ist nicht mehr Religion und wird, wenn es doch noch dafür angesehen sein will, unvermeidlich zurücksinken in leere Mythologie. So war es Religion, wenn die Alten, die Beschränkungen der Zeit und des Raumes vernichtend, jede eigentümliche Art des Lebens durch die ganze Welt hin als das Werk und Reich eines allgegenwärtigen Wesens ansahen; sie hatten eine eigentümliche Handelsweise des Universums in ihrer Einheit angeschaut und bezeichneten so diese Anschauung; es war Religion, wenn sie für jede hilfreiche Begebenheit, wobei die ewigen Gesetze der Welt sich im Zufälligen auf eine einleuchtende Art offenbarten, den Gott, dem sie angehörte, mit einem eigenen Beinamen begabten und einen eignen Tempel ihm bauten; sie hatten eine Tat des Universums aufgefasst und bezeichneten so ihre Individualität und ihren Charakter. Es war Religion, wenn sie sich über das spröde eiserne Zeitalter der Welt voller Risse und Unebenen erhoben und das goldene wiedersuchten im Olymp unter dem lustigen Leben der Götter; so schauten sie an die immer rege, immer lebendige und heitere Tätigkeit der Welt und ihres Geistes, jenseits alles Wechsels und alles scheinbaren Übels, das nur aus dem Streit endlicher Formen hervorgeht. Aber wenn sie von den Abstammungen dieser Götter eine wunderbare Chronik halten oder wenn ein späterer Glaube uns eine lange Reihe von Emanationen und Erzeugungen vorführt, das ist leere Mythologie. Alle Begebenheiten in der Welt als Handlungen eines Gottes vorstellen, das ist Religion, es drückt ihre Beziehung auf ein unendliches Ganzes aus, aber über dem Sein dieses Gottes vor der Welt und außer der Welt grübeln mag in der Metaphysik gut und nötig sein, in der Religion wird auch das nur leere Mythologie, eine weitere Ausbildung desjenigen, was nur Hilfsmittel der Darstellung ist, als ob es selbst das Wesentliche wäre, ein völliges Herausgehen aus dem eigentümlichen Boden. Anschauung ist und bleibt immer etwas Einzelnes, Abgesondertes, die unmittelbare Wahrnehmung, weiter nichts; sie zu verbinden und in ein Ganzes zusammenzustellen ist schon wieder nicht das Geschäft des Sinnes, sondern des abstrakten Denkens. So die Religion; bei den unmittelbaren Erfahrungen vom Dasein und Handeln des Universums, bei den einzelnen Anschauungen und Gefühlen bleibt sie stehen; jede derselben ist ein für sich bestehendes Werk ohne Zusammenhang mit anderen oder Abhängigkeit von ihnen; von Ableitung und Anknüpfung weiß sie nichts, es ist unter allem, was ihr begegnen kann, das, dem ihre Natur am meisten widerstrebt. Nicht nur eine einzelne Tatsache oder Handlung, die man ihre ursprüngliche und erste nennen könnte, sondern alles ist in ihr unmittelbar und für sich wahr. – Ein System von Anschauungen, könnt Ihr Euch selbst etwas Wunderlicheres denken? Lassen sich Ansichten, und gar Ansichten des Unendlichen, in ein System bringen? Könnt Ihr sagen, man muss dieses so sehen, weil man jenes so sehen musste? Dicht hinter Euch, dicht neben Euch mag einer stehen, und alles kann ihm anders erscheinen. Oder rücken etwa die möglichen Standpunkte, auf denen ein Geist stehen kann, um das Universum zu betrachten, in abgemessenen Entfernungen fort, dass ihr erschöpfen und aufzählen und das Charakteristische eines jeden genau bestimmen könnt? Sind ihrer nicht unendlich viele, und ist nicht jeder nur ein stetiger Übergang zwischen zwei anderen? Ich rede Euere Sprache bei dieser Frage; es wäre ein unendliches Geschäft, und den Begriff von etwas Unendlichem seid Ihr nicht gewohnt, mit dem Ausdruck System zu verbinden, sondern den von etwas Beschränktem und in seiner Beschränkung Vollendetem. Erhebt Euch einmal – es ist doch für die meisten unter Euch ein Erheben – zu jenem Unendlichen der sinnlichen Anschauung, dem bewunderten und gefeierten Sternenhimmel. Die astronomischen Theorien, die tausend Sonnen mit ihren Weltsystemen um eine gemeinschaftliche führen und für diese wiederum ein höheres Weltsystem suchen, welches ihr Mittelpunkt sein könnte, und so fort ins Unendliche nach innen und nach außen, diese werdet Ihr doch nicht ein System von Anschauungen als solchen nennen wollen? Das Einzige, dem Ihr diesen Namen beilegen könnt, wäre die uralte Arbeit jener kindlichen Gemüter, die die unendliche Menge dieser Erscheinungen in bestimmte, aber dürftige und unschickliche Bilder gefasst haben. Ihr wisst aber, dass darin kein Schein von System ist, dass noch immer Gestirne zwischen diesen Bildern entdeckt werden, dass auch innerhalb ihrer Grenzen alles unbestimmt und unendlich ist und dass sie selbst etwas rein Willkürliches und höchst Bewegliches bleiben. Wenn Ihr einen überredet habt, mit Euch das Bild des Wagens in die blaue Folie der Welten hineinzuzeichnen, bleibt es ihm nicht dem ungeachtet frei, die nächstgelegenen Welten in ganz andere Umrisse zusammenzufassen als die Eurigen sind? Dieses unendliche Chaos, wo freilich jeder Punkt eine Welt vorstellt, ist eben als solches in der Tat das schicklichste und höchste Sinnbild der Religion; in ihr wie in ihm ist nur das Einzelne wahr und notwendig, nichts kann oder darf aus dem anderen bewiesen werden, und alles Allgemeine, worunter das Einzelne befasst werden soll, alle Zusammenstellung und Verbindung liegt entweder in einem fremden Gebiet, wenn sie auf das Innere und Wesentliche bezogen werden soll, oder ist nur ein Werk der spielenden Phantasie und der freiesten Willkür. Wenn Tausende von Euch dieselben religiösen Anschauungen haben könnten, so würde gewiss jeder andere Umrisse ziehen, um festzuhalten, wie er sie neben oder nacheinander erblickt hat; es würde dabei nicht etwa auf sein Gemüt, nur auf einen zufälligen Zustand, auf eine Kleinigkeit ankommen. Jeder mag seine eigene Anordnung haben und seine eigene Rubriken, das Einzelne kann dadurch weder gewinnen noch verlieren, und wer wahrhaft um seine Religion und ihr Wesen weiß, wird jeden scheinbaren Zusammenhang dem Einzelnen tief unterordnen und ihm nicht das kleinste von diesem aufopfern. Eben wegen dieser selbständigen Einzelheit ist das Gebiet der Anschauung so unendlich.
Stellt Euch an den entferntesten Punkt der Körperwelt, ihr werdet von dort aus nicht nur dieselben Gegenstände in einer anderen Ordnung sehen und, wenn Ihr Euch an Eure vorigen willkürlichen Bilder halten wollt, die Ihr dort nicht wiederfindet, ganz verirrt sein, sondern Ihr werdet in neuen Regionen noch ganz neue Gegenstände entdecken. Ihr könnt nicht sagen, dass Euer Horizont, auch der weiteste, alles umfasst und dass jenseits desselben nichts mehr anzuschauen sei oder dass Eurem Auge, auch dem bewaffnetsten, innerhalb desselben nichts entgehe: Ihr findet nirgends Grenzen und könnt Euch auch keine denken. Von der Religion gilt dies in einem noch weit höheren Sinne; von einem entgegengesetzten Punkte aus würdet Ihr nicht nur in neuen Gegenden neue Anschauungen erhalten, auch in dem alten wohlbekannten Raume würden sich die ersten Elemente in andere Gestalten vereinigen, und alles würde anders sein. Sie ist nicht nur deswegen unendlich, weil Handeln und Leiden auch zwischen demselben beschränkten Stoff und dem Gemüt ohne Ende wechselt – Ihr wisst, dass dies die einzige Unendlichkeit der Spekulation ist –, nicht nur deswegen, weil sie nach innen zu unvollendbar ist wie die Moral, sie ist unendlich nach allen Seiten, ein Unendliches des Stoffs und der Form, des Seins, des Sehens und des Wissens darum. Dieses Gefühl muss jeden begleiten, der wirklich Religion hat. Jeder muss sich bewusst sein, dass die seinige nur ein Teil des Ganzen ist, dass es über dieselben Gegenstände, die ihn religiös affizieren, Ansichten gibt, die ebenso fromm sind und doch von den seinigen gänzlich verschieden, und dass aus anderen Elementen der Religion Anschauungen und Gefühle ausfließen, für die ihm vielleicht gänzlich der Sinn fehlt. Ihr seht, wie unmittelbar diese schöne Bescheidenheit, diese freundliche, einladende Duldsamkeit, aus dem Begriff der Religion entspringt und wie innig sie sich an ihn anschmiegt. Wie unrecht wendet Ihr Euch also an die Religion mit Euren Vorwürfen, dass sie verfolgungssüchtig sei und gehässig, dass sie die Gesellschaft zerrütte und Blut fließen lasse wie Wasser. Klaget dessen diejenigen an, welche die Religion verderben, welche sie mit Philosophie überschwemmen und sie in die Fesseln eines Systems schlagen wollen. Worüber denn in der Religion hat man gestritten, Partei gemacht und Kriege entzündet? Über die Moral bisweilen und über die Metaphysik immer, und beide gehören nicht hinein. Die Philosophie wohl strebt diejenigen, welche wissen wollen, unter ein gemeinschaftliches Wissen zu bringen, wie Ihr das täglich sehet, die Religion aber nicht diejenigen, welche glauben und fühlen, unter einen Glauben und ein Gefühl. Sie strebt wohl denen, welche noch nicht fähig sind, das Universum anzuschauen, die Augen zu öffnen, denn jeder Sehende ist ein neuer Priester, ein neuer Mittler, ein neues Organ; aber eben deswegen flieht sie mit Widerwillen die kahle Einförmigkeit, welche diesen göttlichen Überfluss wieder zerstören würde. Die Systemsucht stößt freilich das Fremde ab, sei es auch noch so denkbar und wahr, weil es die wohlgeschlossenen Reihen des Eigenen verderben und den schönen Zusammenhang stören könnte, indem es seinen Platz forderte; in ihr ist der Sitz der Widersprüche, sie muss streiten und verfolgen; denn insofern das Einzelne wieder auf etwas Einzelnes und Endliches bezogen wird, kann freilich Eins das Andere zerstören durch sein Dasein; im Unendlichen aber steht alles Endliche ungestört nebeneinander, alles ist Eins und alles ist wahr. Auch haben nur die Systematiker dies alles angerichtet. Das neue Rom, das gottlose, aber konsequente, schleudert Bannstrahlen und stößt Ketzer aus; das alte, wahrhaft fromm und religiös im hohen Stil, war gastfrei gegen jeden Gott, und so wurde es der Götter voll. Die Anhänger des toten Buchstabens, den die Religion auswirft, haben die Welt mit Geschrei und Getümmel erfüllt, die wahren Beschauer des Ewigen waren immer ruhige Seelen, entweder allein mit sich und dem Unendlichen oder, wenn sie sich umsahen, jedem, der das große Wort nur verstand, seine eigene Art gern vergönnend. Mit diesem weiten Blick und diesem Gefühl des Unendlichen sieht sie aber auch das an, was außer ihrem eigenen Gebiete liegt, und enthält in sich die Anlage zur unbeschränktesten Vielseitigkeit im Urteil und in der Betrachtung, welche in der Tat anderswoher nicht zu nehmen ist. Lasset irgend etwas anders den Menschen beseelen – ich schließe die Sittlichkeit nicht aus noch die Philosophie und berufe mich vielmehr ihretwegen auf Eure eigene Erfahrung – sein Denken und sein Streben, worauf es auch gerichtet sei, zieht einen engen Kreis um ihn, in welchem sein Höchstes eingeschlossen liegt und außer welchem ihm alles gemein und unwürdig erscheint. Wer nur systematisch denken und nach Grundsatz und Absicht handeln und dies und jenes ausrichten will in der Welt, der umgrenzt unvermeidlich sich selbst und setzt immerfort dasjenige sich entgegen zum Gegenstande des Widerwillens, was sein Tun und Treiben nicht fördert. Nur der Trieb, anzuschauen, wenn er aufs Unendliche gerichtet ist, setzt das Gemüt in unbeschränkte Freiheit, nur die Religion rettet es von den schimpflichsten Fesseln der Meinung und der Begierde. Alles, was ist, ist für sie notwendig, und alles, was sein kann, ist ihr ein wahres, unentbehrliches Bild des Unendlichen; wer nur den Punkt findet, woraus seine Beziehung auf dasselbe sich entdecken lässt. Wie verwerflich auch etwas in anderen Beziehungen oder an sich selbst sei, in dieser Rücksicht ist es immer wert zu sein und aufbewahrt und betrachtet zu werden. Einem frommen Gemüte macht die Religion alles heilig und wert, sogar die Unheiligkeit und die Gemeinheit selbst, alles, was es fasst und nicht fasst, was in dem System seiner eigenen Gedanken liegt und mit seiner eigentümlichen Handelsweise übereinstimmt oder nicht; sie ist die einzige und geschworene Feindin aller Pedanterie und aller Einseitigkeit. – Endlich, um das allgemeine Bild der Religion zu vollenden, erinnert Euch, dass jede Anschauung ihrer Natur nach mit einem Gefühl verbunden ist. Euere Organe vermitteln den Zusammenhang zwischen dem Gegenstande und Euch, derselbe Einfluss des letzteren, der Euch sein Dasein offenbart, muss sie auf mancherlei Weise erregen und in Eurem inneren Bewusstsein eine Veränderung hervorbringen. Dieses Gefühl, das Ihr freilich oft kaum gewahr werdet, kann in anderen Fällen zu einer solchen Heftigkeit heranwachsen, dass Ihr des Gegenstandes und Eurer selbst darüber vergesst, Euer ganzes Nervensystem kann so davon durchdrungen werden, dass die Sensation lange allein herrscht und lange noch nachklingt und der Wirkung anderer Eindrücke widersteht; aber dass ein Handeln in Euch hervorgebracht, die Selbsttätigkeit Eures Geistes in Bewegung gesetzt wird, das werdet Ihr doch nicht den Einflüssen äußerer Gegenstände zuschreiben? Ihr werdet doch gestehen, dass das weit außer der Macht auch der stärksten Gefühle liege und eine ganz andere Quelle haben müsse in Euch. So die Religion; dieselben Handlungen des Universums, durch welche es sich Euch im Endlichen offenbart, bringen es auch in ein neues Verhältnis zu Eurem Gemüt und Eurem Zustand; indem Ihr es anschauet, müsst Ihr notwendig von mancherlei Gefühlen ergriffen werden. Nur dass in der Religion ein anderes und festeres Verhältnis zwischen der Anschauung und dem Gefühl stattfindet und nie jene so sehr überwiegt, dass dieses beinahe verlöscht wird. Im Gegenteil ist es wohl ein Wunder, wenn die ewige Welt auf die Organe unseres Geistes so wirkt wie die Sonne auf unser Auge, wenn sie uns so blendet, dass nicht nur in dem Augenblick alles übrige verschwindet, sondern auch noch lange nachher alle Gegenstände, die wir betrachten, mit dem Bilde derselben bezeichnet und von ihrem Glanz übergossen sind? Sowie die besondere Art, wie das Universum sich Euch in Euren Anschauungen darstellt, das Eigentümliche Eurer individuellen Religion ausmacht, so bestimmt die Stärke dieser Gefühle den Grad der Religiosität. Je gesunder der Sinn, desto schärfer und bestimmter wird er jeden Eindruck auffassen, je sehnlicher der Durst, je unaufhaltsamer der Trieb, das Unendliche zu ergreifen, desto mannigfaltiger wird das Gemüt selbst überall und ununterbrochen von ihm ergriffen werden, desto vollkommener werden diese Eindrücke es durchdringen, desto leichter werden sie immer wieder erwachen und über alle andere die Oberhand behalten. So weit geht an dieser Seite das Gebiet der Religion, ihre Gefühle sollen uns besitzen, wir sollen sie aussprechen, festhalten, darstellen; wollt Ihr aber darüber hinaus mit ihnen, sollen sie eigentliche Handlungen veranlassen und zu Taten antreiben, so befindet Ihr Euch auf einem fremden Gebiet; und haltet Ihr dies dennoch für Religion, so seid Ihr, wie vernünftig und löblich Euer Tun auch aussehe, versunken in unheilige Superstition. Alles eigentliche Handeln soll moralisch sein und kann es auch, aber die religiösen Gefühle sollen wie eine heilige Musik alles Tun des Menschen begleiten; er soll alles mit Religion tun, nichts aus Religion. Wenn Ihr es nicht versteht, dass alles Handeln moralisch sein soll, so setze ich hinzu, dass dies auch von allem anderen gilt. Mit Ruhe soll der Mensch handeln, und was er unternehme, das geschehe mit Besonnenheit. Fraget den sittlichen Menschen, fraget den politischen, fraget den künstlerischen, alle werden sagen, dass dies ihre erste Vorschrift sei; aber Ruhe und Bes...