Das rechte Eskalationskontinuum
Wilhelm Heitmeyer, Manuela Freiheit, Peter Sitzer
Der notwendige Fokus: Rechte Bedrohungsallianzen1
Es ist unübersehbar, dass die politische Rechte in all ihren Schattierungen in den westlichen Gesellschaften und vor allem auch in Deutschland einen Bedeutungszuwachs zu verzeichnen hat. Die zentrale These ist, dass sich in den letzten Jahrzehnten eine weitreichende Ausdifferenzierung und Dynamisierung entwickelt hat, die zu einer Bedrohung der offenen Gesellschaft und der liberalen Demokratie geworden ist. Dies lässt sich u. a. an der Entwicklung rechtsextremistischer Straftaten ebenso erkennen wie an der Vorverlagerung und Ausweitung »verdunkelter« Bedrohungszonen. Insbesondere das verdeckte Eindringen in Sicherheitsinstitutionen wie in die Polizei und die Bundeswehr, aber auch in den Verfassungsschutz, ist hier aufzulisten. Inzwischen muss auch überprüft werden, welche »rechtslastigen Juristen« (Wagner 2020, S. 16) am Werk sind.
Ob die Corona-Krise mit den Auswirkungen der Beschränkungen des öffentlichen Auftretens auf Demonstrationen oder Rechtsrock-Konzerten auch mit Verlusten dieses Bedeutungszuwachses einhergehen wird, kann noch nicht empirisch belastungsfähig ausgesagt werden. Dies gilt zumal dann, wenn Aktivitätsverlagerungen in soziale Netzwerke berücksichtigt werden, deren Ausmaße und Dauerhaftigkeit nicht sicher festgestellt werden können. Insbesondere wenn berücksichtigt wird, dass sich Verlagerungen in nicht einsehbare Plattformen abzuzeichnen scheinen.
Umso notwendiger ist es u. E., dass neue Forschungsansätze zum rechten politischen Spektrum vorangetrieben werden. Wir haben dazu das Konzept »Rechte Bedrohungsallianzen« gewählt. Diese Allianzen sind unübersehbar; sie müssen allerdings genauer in ihrem Zusammenwirken analysiert werden.
Die Weiterentwicklung sollte nach unserer Konzeption dabei über zwei wesentliche Stränge vorangetrieben werden.
Das konzeptionelle Kernelement: Konzentrisches Eskalationskontinuum
So wertvoll die vielfältigen Forschungen, Essays und Berichte zu einzelnen Vorgängen, Gewalttaten, Propagandaaktivitäten, Diskriminierungen etc. sind, so besteht gleichzeitig die Aufgabe darin, diese Untergliederung sukzessive zu überwinden. Dies würde dazu beitragen, die Wucht der rechten Bedrohungsallianzen in ihren ganz unterschiedlichen Ausprägungen deutlicher zu erkennen. Dazu verwenden wir das Konzept des konzentrischen Eskalationskontinuums (► Abb. 3).
Dieses Konzept ist wie eine »Zwiebel« aufgebaut und enthält fünf »Zwiebel«-Schalen. Die Logik dieses Musters besteht darin, dass die äußere, größte Schale aus Einstellungen zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (vgl. Heitmeyer 2002) in der Bevölkerung besteht. Die nächste, schon kleinere Schale, besteht aus Gruppierungen und Bewegungen, die wir als Milieu des Autoritären Nationalradikalismus bezeichnen, deren Kern die Partei »Alternative für Deutschland« (AfD) und deren intellektuelles Umfeld wie die Akteure der »Neuen Rechten« und soziale Bewegungen wie PEGIDA bilden. Die dritte, wiederum kleinere Schale bildet das systemfeindliche Milieu, in dem rechtsextreme Parteien, vor allem aber der bewegungsförmige Rechtextremismus einschließlich neonazistischer Kameradschaften oder die Identitäre Bewegung agieren. Ein wichtiger Unterschied zu den anderen Schalen tritt hier schon hervor. Es ist die Frage der Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt, um Ziele durchzusetzen. Die vierte, zahlenmäßig wiederum kleinere Schale bildet das klandestine Milieu rechtsterroristischer Planungsgruppen, in der Gewalt und Vernichtung zentraler Bestandteil sind. Schließlich bilden den Kern des konzentrischen Eskalationskontinuums gruppenorientierte oder individuell agierende Terroristen.
Während die größte »Schale« mit den Einstellungsmustern individuelle Einstellungen abbildet, ohne dass diese Personen ein explizites
Abb. 3: Das konzentrische Eskalationskontinuum. Das Konzept ist 2012 von Borstel/Heitmeyer vorgestellt und 2018 von Heitmeyer ergänzt worden. Die neue, wiederum angepasste Variante entstammt Heitmeyer u. a. 2020, S. 59.
Gruppenbewusstsein aufweisen, ändert sich dies bei den nachfolgenden »Schalen«, die – gewissermaßen schrittweise – immer kleiner werden und immer mehr mit Gewalt verbunden sind.
Die naheliegende Frage nach den Verbindungen zwischen den Schalen wird im Konzept mit der Kategorie der Legitimationsbrücken beantwortet. Damit ist gemeint, dass wiederum schrittweise von »außen« nach »innen« Legitimationen geliefert werden. Die Teile in der Bevölkerung, die Einstellungen der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit vertreten, liefern dem Milieu des Autoritären Nationalradikalismus jene Legitimationen, um sie als politische Forderungen auf der parlamentarischen Ebene im Sinne von Abwehr und Ausgrenzung in Stellung zu bringen. Führende Köpfe der AfD liefern mit ihren öffentlichen Äußerungen wiederum Legitimationen für Akteursgruppen des systemfeindlichen Milieus. Sie arbeiten mit einer Gewaltmembran, d. h., sie verwenden Narrative wie der »Untergang des deutschen Volkes« oder die große »Umvolkung«, die zum massiven, auch gewalttätigen Widerstand gegen Flüchtlinge als »Invasoren« stimulieren. Das klandestine Milieu geht dann mit dieser ideologischen Aufrüstung in den Planungsprozess für Vernichtungstaten gegenüber jenen, die auch durch die Einstellungsmuster in der Bevölkerung schon markiert sind. Dies sind aktuell vor allem Juden und Muslime, da mit ihnen vor allem Machtübernahmen gegen das deutsche Volk verbunden werden, z. T. noch bestärkt und legitimiert durch Verschwörungsideologien.
Gesellschaftsanalytischer Zugang und soziologische Interaktionsforschung
Die Brisanz der rechten Bedrohungsallianzen lässt sich nach der hier vertretenen Auffassung nicht vorrangig und nicht allein mit politologischer Forschung zum Parteiensystem aufzeigen. Es bedarf eines weiteren Zugangs bzw. Strangs.
Dazu ist u. E. vor allem ein soziologisches Modell der Interaktionsanalyse (► Abb. 4) hilfreich, um Wechselwirkungen der Akteure in verschiedenen Kontexten sichtbar zu machen, Mechanismen zu erkennen und Interventionen zu ermöglichen.
Prozess 1: Politische Entscheidungen, die zu sozialer Desintegration führen, verstärken vorhandene gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in der Bevölkerung (Mansel u. a. 2012).
Abb. 4: Interaktive Prozesszusammenhänge (Quelle: Heitmeyer 2011, S. 24).
Prozess 2: Menschenfeindliche Mentalitäten vergiften das soziale Klima und die politische Kultur in Städten und Gemeinden (Petzke u. a. 2007; Marth u. a. 2010; Grau et al. 2012).
Prozess 3: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Teilen der Bevölkerung schafft Legitimationen für autoritär-nationalradikale Bewegungen und Parteien sowie für den bewegungsförmigen Rechtsextremismus.
Prozess 4: Die autoritär-nationalradikale AfD sowie rechtsextreme Parteien unterbreiten ein Wahlangebot und knüpfen an den Zusammenhang von sozialer Desintegration und Demokratieentleerung an.
Prozess 5: Diese Parteien skandalisieren gesellschaftliche Entwicklungen wie Desintegration und die Effekte des autoritären Kapitalismus (vgl. Wagner 2008; Borstel 2011). Lokale wie regionale Wahlerfolge führen zu einer »Normalisierung« solcher Parteien in Teilen der Bevölkerung (Zick u. a. 2009).
Prozess 6: Gegenreaktionen: Staatliche Repression und zivilgesellschaftliche Intervention werden zunehmend aktiviert im Zuge rechtsextremistischer Mobilisierungserfolge und politischer Zustimmungen in Teilen der Bevölkerung (Heitmeyer 2007).
Will man sich diesen Entwicklungen im Sinne einer Ursachenanalyse und nicht im Sinne staatlicher Kontrollmaßnahmen – die immer am Ende eines Prozesses ansetzen – nähern, dann liegt es nahe, strukturelle Probleme im ökonomischen Bereich der Entwicklung des autoritären Kapitalismus, im sozialen Bereich von Integrations- bzw. Desintegrationsprozessen und im politischen Bereich der Demokratieentwicklung zum Ausgangspunkt zu nehmen. Dann ist danach zu fragen, wie Menschen die jeweiligen Entwicklungen subjektiv verarbeiten, wenn es zu ökonomischen, sozialen und politischen Krisen wie in den letzten beiden »entsicherten Jahrzehnten« kommt. Eine der problematischen Verarbeitungsformen ergibt sich dann, wenn es zur Wahrnehmung oder Erfahrung von Kontrollverlusten infolge von sozialen Desintegrationsängsten oder -erfahrungen kommt. Hier sind dann »autoritäre Versuchungen« (Heitmeyer 2018) das Einfallstor für die Angebote des Autoritären Nationalradikalismus der AfD, die eine Wiederherstellung von Kontrolle und Ordnung versprechen.
Das Durchdeklinieren des konzentrischen Eskalationskontinuums
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit
Die schon genannte »äußere Schale« bilden die Einstellungsmuster der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in Teilen der Bevölkerung zu den verschiedenen markierten Gruppen.
Die Bielefelder Langzeitstudie »Deutsche Zustände« sowie deren Fortführung in den »Mitte«-Studien (z. B. Zick u. a. 2019) haben ein breites Spektrum dieser Einstellungen in ihrem Zeitverlauf aufgezeichnet. Auch die »Mitte«- bzw. »Autoritarismus«-Studien der Leipziger Kollegen belegen diese Trends (z. B. Decker/Brähler 2018). Zwei Ergebnisse sollen hier knapp herausgehoben werden. Erstens zeigen sich vielfältige Verbindungen zu Veränderungen in gesellschaftlichen und politischen Krisenzeiten und öffentlichen Themensetzungen zum Islam, der Flüchtlingsbewegung, zu Juden etc. Das bedeutet auch, dass diese Entwicklungen weder vorrangig als Persönlichkeitsprobleme zu sehen sind, noch allein auf Probleme im Parteiensystem reduziert werden können. Deshalb liegt es nahe, die Interpretation immer wieder mit dem aufgezeigten soziologischen Interaktionsmodell zu betrachten, um gewissermaßen einen »ganzheitlichen« Analyseblick zu betonen.
Ein wesentliches zweites Ergebnis muss – auch mit Blick auf die Zeitverläufe – herausgestellt werden. Durchgängig sind die Einstellungen zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zu den meisten Facetten in Ostdeutschland höher ausgeprägt als in Westdeutschland (vgl. Babka von Gostomski u. a. 2007, S. 120). Das hat Auswirkungen für weitere Elemente des Eskalationskontinuums, wie für Wahlergebnisse der AfD oder Gewaltaktivitäten bis zu rechtsterroristischen Planungsaktivitäten.
Im Sinne der Logik des konzentrischen Eskalationskontinuums und der betonten Legitimationsbrücken stellen diese Einstellungsmuster in der Bevölkerung ganz zentrale Bezugspunkte für die politischen Formationen wie soziale Bewegungen (u. a. Pegida) oder Parteien dar, die daraus ihre Legitimationen »saugen« nach dem Motto: So denkt das Volk und wir müssen handeln gegen den Untergang des deutschen Volkes und gegen die Umvolkung.
Das Milieu des Autoritären Nationalradikalismus
Die politischen Komprimierungen der bezeichneten Einstellungsmuster finden sich im Milieu des Autoritären Nationalradikalismus (Heitmeyer 2018, S. 231–276), dessen Kern die AfD bildet. Die AfD ist nicht rechtspopulistisch und auch nicht in Gänze rechtsextremistisch im klassischen Sinne – trotz des inzwischen vom Verfassungsschutz beobachteten und offiziell aufgelösten rechtsnationalen, völkischen »Flügels«.
Das Politikkonzept der AfD betont gleichwohl ein autoritäres Gesellschaftsmodell mit hierarchischen Ordnungsstrukturen und der Eingrenzung von Lebensstilen; es stellt das Nationale im Überlegenheitsduktus heraus (»Deutschland den Deutschen«) – einschließlich einer Neudeutung deutscher Geschichte – und betont das Radikale insbesondere im Umgang mit Fremden und Andersdenkenden.
Das zentrale Ziel ist das Eindringen in gesellschaftliche Institutionen (Polizei, Bundeswehr, Gewerkschaften, Verbände etc.), um den »Marsch durch die Organisationen« (Heitmeyer 2018, S. 36f.) im Sinne einer kulturellen Hegemonie (Vorherrschaft) anzutreten. Dazu bedient sich die AfD vor allem auch Intellektuellen als »Transmissionsakteuren«, um u. a. die Erosion von Grenzziehungen sowohl in Richtung ...