Die ‚Zirkustier‘-Mensch-Verhältnisse
Zwischen Anthropomorphisierung und Othering
Aiyana Rosen
Kulturelle und künstlerische Praxis war seit dem Beginn das Experimentierfeld, auf dem die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Mensch und Tier durchgespielt wurden. Sie schuf symbolische Räume, in denen die Grenze mal befestigt und ausgebaut, dann aber durchbrochen oder ganz eingerissen wurde.
Entgegen der Annahme einer langen Zirkuskultur ist die Geschichte des Zirkus, wie wir ihn heute kennen, nicht einmal 300 Jahre alt. Dressierte Tiere, Clownerie und Seiltanz wurden zwar bereits im Alten Rom und im Hellenismus der Menge vorgeführt, der Zirkus, für den die „Einheit der Vielfalt“ verschiedenster Darbietungen in einer Manege charakteristisch ist, bildete sich jedoch erst im 18. Jahrhundert. Seine Geburtsstätte hatte er in Großbritannien, wo er sich aus den zu dieser Zeit in Mode kommenden Kunstreitergesellschaften entwickelte, die wiederum aus der militärischen Pferdedressur entstanden waren. In den deutschen Staaten kamen die ersten modernen Zirkusse zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf. Im modernen Zirkus steht die Präsentation von Menschen und Tieren mit jeweils außergewöhnlichen Fähigkeiten im Mittelpunkt. Diese Fähigkeiten haben sich die Menschen mittels (Selbst-)Disziplin angeeignet; die Tiere wurden mithilfe von Strategien der Dressur zu einer Aneignung dieser Fähigkeiten gezwungen.
Bis circa 1900 waren Zirkus und Menagerie in den deutschen Staaten bzw. im Deutschen Reich zwei voneinander getrennte Unternehmen. Die Menagerien stellten ihre ‚Tiersammlungen‘ oftmals nicht nur aus, sondern führten auch Wildtierdressuren durch, die sich zu dieser Zeit nur wenige Zirkusse finanziell leisten konnten. So begann die Dressur nicht-domestizierter Tiere erst im späten 19. Jahrhundert auch für den Zirkus im Deutschen Reich zu einem kennzeichnenden Merkmal zu werden. Zwar gibt es auch heute diverse Zirkusse, die sich auf die Vorführung menschlicher Fähigkeiten in Artistik, Jonglage oder Clownerie spezialisiert haben und auf die Vorführung dressierter Tiere verzichten, dennoch ist die Wildtierdressur heutzutage in Deutschland für die meisten Zirkusse charakteristisch. Aber was sagt die Nutzung von Tieren in Zirkussen über die hegemonialen Mensch-Tier-Verhältnisse aus? Welche Strukturen liegen den ‚Zirkustier‘-Mensch-Verhältnissen zu Grunde, und in welchen Prozessen finden diese ihren Ausdruck? Diesen Fragen werde ich auf den folgenden Seiten nachgehen.
Da in diesem Aufsatz nicht nur verschiedene Tierspezies und -individuen von Bedeutung sind, sondern auch die Begrifflichkeit ‚Tier‘ eine zentrale Rolle spielt, möchte ich kurz die Nutzung dieses Begriffs problematisieren. Unter anderem aufgrund seiner Verwobenheit mit einer starr gedachten Mensch-Tier-Grenze sowie aufgrund der in ihm vorgenommenen Subsumierung zahlreicher unterschiedlicher Spezies von Krabbe bis Krähe, von Schmetterling bis Schimpansin unter einen Begriff (bei gleichzeitiger Ausklammerung der Spezies Mensch) ist der Begriff ‚Tier‘ eine Wortschöpfung, die weder neutral noch lediglich beschreibend ist. Vielmehr liegen dem Begriff eine Reihe von Vorannahmen zu Grunde und er ist nicht frei von menschlichen Herrschaftsansprüchen zu denken. Darauf wollte auch der französische Philosoph Jacques Derrida aufmerksam machen, als er „im Singular den Plural an Tieren zu verstehen“ gab:
Es gibt nicht das Tier (l’Animal) im allgemeinen Singular, das vom Menschen durch eine einzige unteilbare Grenze getrennt wäre. Wir müssen in Betracht ziehen, daß es ‚Lebende‘ gibt, deren Pluralität sich nicht in einer einzigen Figur der Tierheit (animalité) versammeln läßt, die der Menschheit (humanité) schlicht entgegengesetzt wäre.
Zur Vermeidung umständlicher Formulierungen und in Anbetracht mangelnder Alternativen (eine Ausnahme bildet Derridas Wortschöpfung „animot“) werde ich den Tier-Begriff in diesem Text nicht umgehen, ihn aber zum Teil durch den Begriff ‚nichtmenschliche Tiere‘ ersetzen oder ihn, wie z. B. bei der Kategorie ‚Zirkustier‘-Mensch-Verhältnisse, in Anführungszeichen setzen.
Für die Analyse dieser Verhältnisse möchte ich mich nun zunächst einigen Faktoren zuwenden, die für die ‚Zirkustier‘-Mensch-Verhältnisse bestimmend sind: dem Moment der Sensation, der Dressur und Zähmung sowie der Reisetätigkeit.
Sensationsmoment
Tiger, Löwen, Elefanten, Giraffen, Schlangen, Seelöwen und Pferde sind nur einige der Tierarten, die in Zirkussen vorzufinden sind. Die meisten Zirkusse in Deutschland legen den Fokus ihrer Tierdressuren auf ‚wilde‘, nicht-domestizierte Tiere, u. a. auf Raubtiere und sogenannte exotische Tiere, was sich mit dem Attraktionscharakter von Zirkusvorführungen erklären lässt. In Zirkussen sollen die Zuschauenden in eine ‚andere Welt‘ entführt werden. Das Sensationsmoment ist für Zirkusse somit von zentraler Bedeutung. Das Publikum ist schaulustig und will den Nervenkitzel ohne persönliche Gefahr. Es sehnt sich nach einer Erfüllung seiner Träume nach dem ‚Exotischen‘ und ‚Wilden‘ – und die Erfüllung dieser Sehnsüchte ist das, was der Zirkus ihm zu bieten verspricht. Bei Vorführungen von Wildtierdressuren geht es folglich um die Befriedigung von Sehnsüchten nach einer Begegnung mit dem ‚Anderen‘ und ‚Exotischen‘, mit dem ‚Fremden‘. Einige der Wildtiere in Zirkussen faszinieren durch die Gefahr, die diese Tiere potentiell für Menschen bedeuten und der sich die Dompteur_innen aussetzen. Die Erfüllung der Sehnsucht nach dem Erleben von Gefahr und ‚Wildheit‘ im Zirkus geschieht jedoch mithilfe von Dressur und Zähmung – Mitteln, die dem Wunschtraum diametral gegenübergestellt sind. Neben dem Stillen einer Sensationslust dienen die ‚Zirkustiere‘ somit als Projektionsfläche zur Befriedigung menschlicher Träume, die mit dem tatsächlichen Leben der präsentierten Tiere kaum in Zusammenhang stehen.
Dressur und Zähmung
Die Dressur ist eine wesentliche Grundlage der Tier-Mensch-Beziehungen im Zirkus. Sie wird eingesetzt, um das Moment der Sensation zu verstärken und dem Publikum eine Show darzubieten, die über eine reine Schaustellung der Tiere hinausgeht. Die Kunststücke, die die Tiere hierfür lernen müssen, sind nur über das Mittel der Dressur zu erreichen, die sich wiederum der Zähmung bedient, um eingehendere Mensch-Tier-Kommunikation überhaupt zu ermöglichen und die von den Tieren ausgehende Gefahr zu minimieren.
Doch was genau bedeutet Dressur im Konkreten? Bei manchen Tieren reicht Futter als Lockmittel aus, um sie z. B. zu waghalsigen Sprüngen zu motivieren. Soll aber einem Elefanten beigebracht werden, auf den Hinterbeinen oder dem Kopf zu stehen, oder wird mit Spezies gearbeitet, die nur selten Nahrung aufnehmen, wie etwa Löwen und Tiger, reicht Futter als Anreiz nicht aus, weshalb hier mit der sogenannten Putting-through-Methode gearbeitet wird. Bei Tigern bedeutet dies beispielsweise das Ausnutzen von Fluchtreaktion und ‚kritischer Reaktion‘ (Übergang des Tigers zu Notwehr/Angriff) des noch nicht gezähmten Tieres sowie der Herbeiführung eines Abbruchs des Angriffs, um auf diese Weise über den Aufenthaltsort des Tieres in der Manege zu bestimmen. Im späteren Stadium der Dressur werden dann die „sogenannten Hilfen (= die zwangsmäßigen Eingriffe)“ mehr und mehr abgebaut, bis nur noch Symbole übrigbleiben. „Der Klaps wird schließlich zur winzigen Geste, die Peitschenbewegung zu einem auffordernden Blick. Mit anderen Worten:...