Zwischen Singularität und Universalität
Paradoxe Aspekte jüdischen Exils in Heinrich Heines Jehuda ben Halevy
Rachel Rau
I. Einleitung
Die folgenden Ausführungen zum jüdischen Exil bei Heinrich Heine entstehen in dem Bewusstsein, dass es nicht unproblematisch ist, sich diesem Thema zu nähern. Man muss zugeben, dass man sich dabei bereits in einer Paradoxie befindet: Der ‚Blick von außen‘ auf eine ‚jüdische Identität‘, die mit herkömmlichen Identitätskategorien bricht, läuft immer Gefahr, entweder diese Identität als problematische Fremdzuschreibung zu festigen oder ihr aber ihre Partikularität zu versagen.
Ausgerechnet Heinrich Heine und seine Dichtung mit jüdischem Exil in Verbindung zu bringen – auch dies mag paradox erscheinen. Heine hat sich selbst niemals als orthodoxer Jude verstanden. Dennoch spielte die Auseinandersetzung mit dem Judentum zeitlebens eine wichtige Rolle für ihn, was sich insbesondere auch in seiner späten Dichtung niederschlägt. So äußerte er 1850: „Es wäre abgeschmackt und klein, wenn ich, wie man mir nachsagte, mich je geschämt hätte, ein Jude zu sein, aber es wäre ebenso lächerlich, wenn ich behauptete, ich wäre einer.“1 In gewisser Hinsicht kann auch Heines Dichtung gerade durch ihr komplexes und ambivalentes Verhältnis zum Judentum – sowie zu Kategorien nationaler Identität überhaupt – als exemplarisch und aufschlussreich für die hier diskutierten Verhandlungen des Jüdischen gesehen werden, wie sich im Folgenden noch zeigen wird.
Das lyrische Fragment Jehuda ben Halevy ist in den Hebräischen Melodien des 1851 erschienenen Gedichtbands Romanzero enthalten. Heine schrieb es vermutlich Mitte 1850 schwer erkrankt im Pariser Exil. Er hatte zu diesem Zeitpunkt zu einer neuen Identifikation mit dem Judentum gefunden. Diese Hinwendung zum Judentum war weniger orthodox-religiöser Natur, sondern begründete sich einerseits in der Identifikation mit der Leidensgeschichte des jüdischen Volkes und andererseits durch eine Rückbesinnung auf den jüdischen Gott, die gleichwohl keine institutionell vermittelte war.2
Das Gedicht ist eine Hymne auf den sephardischen Dichter und Philosophen Jehuda Halevy, der im 11. und 12. Jahrhundert in Spanien lebte und sich 1141 entschloss, nach Erez Israel auszuwandern. Seine Todesursache ist ungeklärt, vermutlich kam er auf der Reise nach Israel in Ägypten ums Leben. Einer Legende folgend stirbt Heines Jehuda ben Halevy, nachdem er Jerusalem erreicht hat, das Zionslied singend auf den Trümmern der heiligen Stadt durch den Speer eines Sarazenen. Das Gedicht ist durch zahlreiche Verknüpfungen und Überlagerungen von jüdischen, orientalischen und christlichen Motiven, Stoffen und Intertexten strukturiert.3
In Heines Jehuda ben Halevy werden offensichtlich vielfältige und paradoxe Aspekte jüdischen Exils verhandelt. Hierbei handelt es sich weniger um einen strikt religiös verstandenen Begriff des Jüdischen, sondern um einen, der im Kontext der (säkularen) jüdischen Moderne steht. Die Paradoxie liegt in Heines Gedicht zunächst in einer Dichtung des Exils, die trotz der Katastrophe der Vertreibung und trotz des Leidens am Exil entsteht. Damit steht auch die Frage im Raum, inwiefern die jüdische Leiderfahrung des Exils im positiven Sinne identitätsstiftend werden kann. Darüber hinaus wird hier eine partikulare jüdische Identität verhandelt, die einer spezifisch jüdischen Geschichte entspringt, die jedoch durch die Exilerfahrung Universalitätscharakter gewinnt, indem sie sich dem Anderen und Allgemeinen öffnet.
Für viele Denker der Moderne, bzw. auch der Postmoderne, nimmt die Figur der jüdischen Wurzellosigkeit exemplarischen Charakter an. So wird z.B. das jüdische Exil als Symbol der existenziellen Unbehaustheit des Menschen oder der jüdische Kosmopolitismus als Alternative zum nationalstaatlichen Denken gedacht.4 In Heines Jehuda ben Halevy wird die Figur des jüdischen Exils universell, indem es u. a. als Chiffre für das Künstlertum überhaupt verstanden werden kann.5 Darüber hinaus wird Jehuda ben Halevy zum Exempel eines kosmopolitischen Dichters, der die Beschränkungen des Partikularen überwindet. Und doch bleiben die Singularität des Jüdischen und die Leiderfahrung jüdischen Exils der Dichtung eingeschrieben. So entwirft Heine einen Begriff des Jüdischen, der zwischen Partikularität und Universalität oszilliert, zwischen Möglichkeit und Unmöglichkeit einer Überwindung der Schmerzerfahrung in und mit der Poesie.
II. Die Exilverse des 137. Psalms
Das Gedicht beginnt mit einer Bezugnahme auf den fünften und sechsten Vers des 137. Psalms:6
„Lechzend klebe mir die Zunge
An dem Gaumen, und es welke
Meine rechte Hand, vergäß’ ich
Jemals dein, Jerusalem –“7
Diese vor der Katastrophe des Vergessens warnenden Verse haben hier die Form eines Zitats. Wirkmacht und Bedeutung, die diese Worte durch ihre Platzierung am Anfang des Gedichts haben, werden relativiert durch die Distanz, die durch die Zitatform ausgedrückt ist. Offenbar ist nicht der Sprecher hier der Fromme.8 Auch im Verlauf der nächsten Verse zeigen sich eine Traumhaftigkeit und Diffusität in Zusammenhang mit den jüdischen Traditionen, die gleichsam im Widerspruch zu der anfänglichen Mahnung stehen.
Wort und Weise, unaufhörlich
Schwirren sie mir heut’ im Kopfe,
Und mir ist als hört’ ich Stimmen,
Psalmodierend, Männerstimmen –
Manchmal kommen auch zum Vorschein
Bärte, schattig lange Bärte –
Traumgestalten, wer von euch
Ist Jehuda ben Halevy?
Doch sie huschen rasch vorüber;
Die Gespenster scheuen furchtsam
Der Lebend’gen plumpen Zuspruch –
Aber ihn hab’ ich erkannt –
Ich erkannt’ ihn an der bleichen
Und gedankenstolzen Stirne,
An der Augen süßer Starrheit –
Sahn mich an so schmerzlich forschend –
Doch zumeist erkannt ich ihn
An dem räthselhaften Lächeln
Jener schön gereimten Lippen,
Die man nur bey Dichtern findet. (DHA III, S. 130)
Von den psalmodierenden Traumgestalten gewinnt einzig Jehuda ben Halevy für das lyrische Ich Kontur. Er ist es, der sich aus dem Nebel der religiös vermittelten Erinnerung erhebt. Das Erkennen vollzieht sich hier ganz unorthodox über die gemeinsame Identifikation als Dichter. Und doch – so wird später noch deutlich – spielt gerade die Dichtkunst für die Erinnerung an Jerusalem eine zentrale Rolle, ebenso wie die Erinnerung für die Dichtkunst.
Bereits in diesen Anfangsversen ist die Paradoxie einer jüdischen Identität angelegt, die sich einerseits auf die spezifisch jüdische Geschichte und auf das Heilige Land bezieht, die aber andererseits mit nationalen und religiösen Identitätskategorien bricht. Schon hier wird ein Begriff des Jüdischen konzipiert, der sich öffnet hin zu einem Nicht-mit-sich-selbst-identisch-Sein. Nicht ohne Grund beginnt das Gedicht mit den berühmten Exil-Versen des 137. Psalms, deren Thema die Vertreibung aus dem Heiligen Land ist. Jehuda ben Halevy ist ein jüdischer Dichter und er wird in diesen Versen zunächst ganz offensichtlich den psalmodierenden jüdischen Traumgestalten zugeordnet. Die jüdische Geschichte ist ein zentrales Thema des Gedichts, sie scheint auch für das lyrische Ich eine zentrale Bedeutung zu haben, die Verse des 137. Psalms „schwirren“ ihm beständig im Kopfe herum. Und doch wird eine Distanz deutlich, Jehuda ben Halevy wird erst in der Figur des Dichters und Denkers erkennbar. Ausgangspunkt der Begegnung ist ein gemeinsamer Bezug zur jüdischen Geschichte, doch in der Begegnung selbst schwindet die Relevanz der jüdischen Wurzeln. Das lyrische Ich selbst setzt sich in die Tradition einer jüdischen Identität, die sich durch eine gewisse Nichtspezifik auszeichnet bzw. in diesem Paradox sich begründet und verharrt. Zwar werden Bezüge zu den religiösen Wurzeln hergestellt, diese werden jedoch in ihrer Bedeutung für die Gegenwart relativiert, die „Gespenster scheuen furchtsam / Der Lebend’gen plumpen Zuspruch“ (DHA III, S. 130), sie entziehen sich dem Zugriff und der Auseinandersetzung im Hier und Jetzt. Auch markiert die Berufung auf eine gemei...
