Dolmetschen im Medizintourismus
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Dolmetschen im Medizintourismus

Anforderungen und Erwartungen an DolmetscherInnen in Deutschland und Österreich

  1. 358 Seiten
  2. German
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Dolmetschen im Medizintourismus

Anforderungen und Erwartungen an DolmetscherInnen in Deutschland und Österreich

Über dieses Buch

Deutschland und Österreich sind aufgrund ihrer medizinischen Standards beliebte Zielländer für internationale PatientInnen, die nach einer Zweitmeinung zu einer Diagnose bzw. zu einem Therapievorschlag oder einer speziellen medizinischen Behandlung suchen. Der finanzielle und organisatorische Aufwand medizinischer Reisen führt zu hohen Erwartungen der PatientInnen an die Behandlung und an alle beteiligten AkteurInnen. In diesem Kontext werden DolmetscherInnen häufig zu Hauptansprechpersonen der PatientInnen, die sich an sie mit zusätzlichen organisatorischen Wünschen wenden. Dieser Band untersucht die Erwartungen und das erweiterte Anforderungsprofil, mit denen DolmetscherInnen im Medizintourismus in Deutschland und Österreich konfrontiert sind. Er richtet sich an DolmetscherInnen sowie an ÄrztInnen und VertreterInnen medizinischer Institutionen, die mit DolmetscherInnen zur Überwindung von Sprachbarrieren zusammenarbeiten.

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1 Medizintourismus als Marktsegment für DolmetscherInnen

Der Begriff Medizintourismus beschreibt ein Phänomen, das zwar in seiner derzeitigen Ausprägung jung und wenig erforscht ist, dennoch reicht die Idee bzw. das Konzept, eine medizinische Reise zu unternehmen, weit in die Vergangenheit zurück. So zog bereits im alten Griechenland die Stadt Epidaurus Leidende aus dem Mittelmeerraum an, die im Thermalwasser der heiligen Stätte des Gottes Asklepius Linderung suchten (vgl. Quast 2009: 14). Generell waren die PilgerInnenfahrten zu den Asklepieia, ehemaligen wichtigen griechischen Heilstätten, die sowohl über ein Sanatorium als auch über einen Tempel verfügten, sehr beliebt. Im heiligen Tempel verbrachten die Reisenden mehrere Nächte in der Hoffnung, dass Asklepios ihnen im Traum die richtige Diagnose stellen oder eine erfolgreiche Behandlungsmethode verraten würde. Ebenso beliebt waren die Reisen zu Thermal- und Badeorten (vgl. Quast 2009: 14), mit denen eine Linderung verschiedener Krankheiten beabsichtigt wurde. Medizinische Reisen bildeten fortan eine Konstante der Geschichte und wurden aus unterschiedlichen Beweggründen unternommen.

1.1 Begriffsdefinition und -abgrenzung

Der Medizintourismus wurde in der Translationswissenschaft bis jetzt nur am Rande erwähnt (vgl. Tipton/Furmanek 2016: 114, Angelelli 2019: 32). Die in den vergangenen Jahren an den österreichischen Universitäten in Wien und Graz verfassten Masterarbeiten (vgl. Ivașcu 2014, Muršič 2015, Chistyakova 2016, Slavu 2017, Weissenhofer 2017, Horová 2018) zeigen jedoch erstes Interesse junger ForscherInnen am Dolmetschen in diesem Marktsegment. ForscherInnen aus den Bereichen Tourismus, Medizin, Wirtschaft und Marketing haben sich hingegen bereits der Erforschung des Medizintourismus gewidmet. Die verschiedenen Ansätze vorhandener Forschungsarbeiten finden sich nicht nur in den verwendeten Bezeichnungen Medizintourismus und Gesundheitstourismus, sondern auch in deren Definitionen wieder, die je nach Verständnis der zugrundeliegenden Begriffe Medizin, Gesundheit und Tourismus sehr stark variieren. Teilweise wird Medizintourismus mit Gesundheitstourismus (vgl. Berg 2008, Illing 2009) gleichgesetzt, teilweise wird er als Unterbegriff des Gesundheitstourismus gesehen (vgl. Quast 2009, Reisewitz 2015). Eine genaue Definition des Terminus Medizintourismus bedarf allerdings einer Abgrenzung vom Begriff des Gesundheitstourismus, wofür zuerst die in den Benennungen Medizintourismus und Gesundheitstourismus enthaltenen Begriffe erklärt werden sollen. Für den Begriff Tourismus wird in der Regel auf die Definition der Welttourismusorganisation zurückgegriffen: „Tourism is a social, cultural and economic phenomenon which entails the movement of people to countries or places outside their usual environment for personal or business/professional purposes“ (IRTS 2010: 1). Zu den Motiven für diesen temporären Ortswechsel zählen laut Berg (2008: 3), Experte für Tourismusmanagement, unter anderem Erholung, Regeneration, Heilung sowie Kultur. In der Entscheidung 1999/34/EG der Kommission vom 09.12.1998 zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 95/57/EG des Rates über die Erhebung statistischer Daten im Bereich des Tourismus, Anhang 2.1, definiert die Europäische Union Tourismus als „[…] die Tätigkeit von Personen, die zu Orten außerhalb ihrer gewohnten Umgebung reisen und sich dort höchstens ein Jahr lang zu Urlaubs-, geschäftlichen oder anderen Zwecken aufhalten“ (1999/34/EG, Artikel 2, Absatz 2.1). Unfreiwillige Reisezwecke sind allerdings nicht Teil der Definition: „Ärztlich verordnete unfreiwillige Aufenthalte in Krankenhäusern und sonstigen medizinischen Einrichtungen, die klinische/medizinische Behandlungen bieten, sind ausgeschlossen“ (1999/34/EG, Artikel 2, Absatz 2.1). Je nach Auslegung dieser Definition könnte sie anerkannte Tourismusformen wie den Kurtourismus oder auch Teile des Medizintourismus ausschließen, da nicht eindeutig erläutert wird, wie sich Freiwilligkeit von Unfreiwilligkeit unterscheiden lässt. In vielen Fällen fassen nämlich PatientInnen, die sich trotz unterschiedlicher Beweggründe auf eine medizinische Reise begeben, selbstständig und ohne ärztliche Zuweisung oder Verordnung den Entschluss, eine Reise anzutreten. Außerdem nehmen viele von ihnen im Zielland übliche touristische Angebote in Anspruch.
Der Duden bietet für den Terminus Medizin die folgende Definition: „Heilkunde, Lehre vom gesunden und kranken Organismus […], Wissenschaft von den Ursachen, der Heilung und Vorbeugung von Krankheiten“ (Dudenredaktion 2012). Illing, Experte für Gesundheitstourismus, Wirtschaft und Qualitätsmanagement, definiert Gesundheit wie folgt: „als der Zustand der optimalen Leistungsfähigkeit eines Individuums für die Erfüllung der Aufgaben und Rollen, für die es sozialisiert wurde“ (Illing 2009: 8).1 Er führt an, dass modernere Definitionen des Begriffes allerdings sowohl das medizinisch-wissenschaftliche als auch das biopsychosoziale Modell berücksichtigen. So versteht die medizinisch-wissenschaftliche Schule Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit und sieht einen Menschen als gesund an, wenn dessen gesamter Körper richtig funktioniert. Aufgrund von messbaren und empirischen Kriterien kann das Ausmaß der Krankheit beurteilt werden, die eine „messbare Fehlfunktion bestimmter Körperteile“ (Illing 2009: 8) darstellt. Das biopsychosoziale Modell betont hingegen nicht nur die dichotomische Dimension von Gesundheit oder Krankheit, sondern hebt neben der biologischen Erkrankung auch die psychischen und sozialen Faktoren hervor. In diesem Modell gilt die Gesundheit als „positiver und funktioneller Gesamtzustand im Sinne eines dynamischen biopsychosozialen Gleichgewichtszustandes, der erhalten bzw. immer wieder hergestellt werden muss“ (Illing 2009: 8). Die holistische Dimension der Gesundheit ist auch in den Prinzipien der Weltgesundheitsorganisation festgehalten: „A state of complete physical, social and mental well-being, and not merely the absence of disease or infirmity“ (WHO 1946: 1). Dieses ganzheitliche Verständnis der Gesundheit wird in den meisten Definitionen von Gesundheitstourismus (vgl. Berg 2008, Illing 2009) berücksichtigt, in denen ein temporärer Ortswechsel aus gesundheitlichen Gründen oder zu Heilungszwecken angeführt wird. Für Illing ist das Ziel die Erreichung eines „Gleichgewichtszustandes zwischen körperlichem und seelischem Leistungsvermögen“ (Illing 2009: 49). Berg betont hingegen die „Erhaltung, Stabilisierung oder die Wiederherstellung der Gesundheit“ (Berg 2008: 39), während Tourismusexperte Claude Kaspar (1996: 55) „das körperliche, geistige und soziale Wohlbefinden“ hervorhebt. Verfolgt wird das Ziel der Genesung an einem fremden Ort durch die Inanspruchnahme medizinischer oder balneologischer Leistungen, therapeutischer Beratung und Betreuung, sportlicher Aktivitäten und gesunder Ernährung (vgl. Berg 2008: 39). Im Rahmen des Gesundheitstourismus erfolgen jedoch weder medizinische Notfallbehandlungen noch geplante Behandlungen, die in erster Linie die Gesundheit wiederherstellen sollen:
Gesundheitstourismus hat das Ziel, einen Gleichgewichtszustand zwischen körperlichem und seelischem Leistungsvermögen und den tagtäglichen Anforderungen von Umwelt, Mitwelt und Selbstwelt zu erreichen. Die zur Zielerreichung verwendeten Verfahren (Methoden) sind salutogenetische, medizinische sowie ergänzende und werden an Orten (Spa, Region) abseits vom gewöhnlichen Lebensumfeld angeboten, die durch die behandlerische Kompetenz der dort arbeitenden Fachkräfte wie auch des Gebäudes und der natürlichen Umwelt gekennzeichnet sind. (Illing 2009: 49)
Medizinische Behandlungen, die einen Aufenthalt in einem ausländischen Krankenhaus und eine ärztliche Untersuchung im Ausland voraussetzen, sind hingegen dem Medizintourismus zuzuschreiben (vgl. Illing 2009: 6, Quast 2009: 9). In ihrer betriebswirtschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Medizintourismus definiert ihn Quast wie folgt:
Medizintourismus ist ein Synonym für die Begriffe Patienten-, Klinik- und Operationstourismus und beschreibt die Bewegung von Patienten, die aus unterschiedlichen Gründen medizinische Dienstleistungen an Orten außerhalb ihres gewöhnlichen Umfeldes in Anspruch nehmen, wobei der Aufenthalt die Dauer eines Urlaubes nicht überschreitet und vielfach mit der Nachfrage touristischer Aktivitäten kombiniert wird. (Quast 2009: 6)
Medizintourismus kann für Quast einen nationalen oder einen internationalen Charakter aufweisen und in freiwilligen Patiententourismus und staatlichen Operationstourismus unterteilt werden.2 In der ersten Kategorie sind günstigere Behandlungen im Inland oder Ausland anzuführen, deren Kosten zum größten Teil von den PatientInnen getragen werden. Im staatlichen Operationstourismus sind PatientInnen hingegen aufgrund von Versorgungsengpässen gezwungen, medizinische Dienstleistungen im Ausland zu beziehen, deren Kosten von der Krankenversicherung übernommen werden. Der freiwillige Patiententourismus kann laut Quast wiederum in medizinische Patientenreise und touristische Patientenreise unterteilt werden, abhängig davon, ob die Reise hauptsächlich aus medizinischen Gründen unternommen oder ob die medizinische Behandlung mit einem Urlaub kombiniert wird (vgl. Quast 2009: 7f.). Differenziert wird des Weiteren zwischen krankheitsorientierten Reisen, die darauf abzielen, einen Krankheitszustand zu bekämpfen, und nicht krankheitsorientierten Reisen, deren Ziel die Durchführung von gründlichen Untersuchungen oder kosmetischen Eingriffen darstellt (vgl. Quast 2009: 7). Beide Behandlungsarten können sowohl ambulant als auch stationär erfolgen. Für Quast ist Gesundheitstourismus eine Unterform des Tourismus und erfolgt präventiv oder aus medizinischen Gründen. Unter den präventiven Gesundheitsreisen finden sich als Sonderformen der Erholungs-, Wellness-, Fitness- und Sport- sowie Beauty-Tourismus, während die medizinische Gesundheitsreise in Rehabilitations-, Kur- und Heilbäder- sowie Medizintourismus unterteilt werden kann (vgl. Quast 2009: 9ff.).
Berg beschreibt den Medizintourismus ebenfalls als spezielle Unterform des Gesundheitstourismus und bezeichnet ihn als Patiententourismus. Dabei geht es um „die selbstbestimmte und bewusste Entscheidung, medizinische Leistungen in einem anderen Land als dem Herkunftsland in Anspruch zu nehmen und diese überwiegend selbst zu bezahlen“ (Berg 2008: 169). Er weist darauf hin, dass in der Vergangenheit diese Art des Gesundheitstourismus vorwiegend in eine bestimmte Richtung ging – aus dem Ausland nach Deutschland, Österreich, in die Schweiz und USA –, während heutzutage auch BürgerInnen der oben erwähnten Staaten medizinische Reisen in andere Länder unternehmen. In all diesen Definitionen bildet also die Tourismus- bzw. Reisekomponente den gemeinsamen Nenner von Gesundheits- und Medizintourismus: In beiden Fällen wird eine gesundheitlich oder rein medizinisch bedingte Reise in ein anderes Land als das Herkunftsland geplant. Im Gesundheitstourismus zielen die in Anspruch genommenen Dienstleistungen auf die Erhaltung oder Förderung der Gesundheit ab. Im Medizintourismus werden hingegen Dienstleistungen angeboten, mit denen die Wiederherstellung der Gesundheit im Rahmen einer medizinischen Leistung beabsichtigt wird.
Reisewitz beschreibt ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zwischen Gesundheits- und Medizintourismus: Im Medizintourismus stellt die geplante Maßnahme eine medizinische Dienstleistung dar, die „Eingriffe in die körperliche Integrität von einer gewissen Schwere“ (Reisewitz 2015: 8) mit sich bringt, und für deren Ausübung ein hohes Maß an fachlicher Qualifikation seitens der Ausführenden erforderlich ist. Medizintourismus ist jene
Aktivität von Personen, die sich an einen im Ausland belegenen [sic!] Ort außerhalb ihres gewöhnlichen Umfeldes begeben, um sich dort ohne Verlagerung ihres Lebensmittelpunktes für einen gewissen Zeitraum aufzuhalten, und die dabei Dienstleistungen in Anspruch nehmen, die in Deutschland als Ausübung der Heilkunde gemäß §1 Abs. 2 HeilPraktG angesehen werden und deren Notwendigkeit sich nicht erst vor Ort akut ergeben hat. (Reisewitz 2015: 9)
Berufe, die diese Qualifikationen aufweisen und in deren Ausübung die oben erwähnten Eingriffe vorgenommen werden dürfen, sind laut Reisewitz in Anlehnung an §1 Abs. 2 HeilPraktG ÄrztInnen, ZahnärztInnen sowie HeilpraktikerInnen.3 Zu den von ihnen durchgeführten Eingriffen zählen auch plastische bzw. Schönheitsoperationen, da sie einen höheren Schwierigkeitsgrad aufweisen und die durchführenden ÄrztInnen bestimmte Fachkompetenzen benötigen, obwohl die chirurgischen Maßnahmen nicht immer als reine gesundheitswiederherstellende Maßnahmen zu betrachten sind. In seiner Auseinandersetzung mit den rechtlichen Fragen des Medizintourismus unterscheidet Reisewitz – je nachdem, wann und wo der Entschluss zur Behandlung gefasst wird – zwischen zwei Arten von Behandlungsreisen: Spontanbehandlungen und geplanten Behandlungsreisen (vgl. Reisewitz 2015: 10f.). Im ersten Fall wird der Entschluss erst am Behandlungsort gefasst, d.h., der Zweck der Reise ist nicht die Behandlung; im zweiten Fall wird die Behandlung im Vorfeld geplant. Reisewitz weist darauf hin, dass bei einer geplanten Behandlungsreise die ausgewiesenen Risiken wegen der guten Planungsmöglichkeiten geringer als bei Spontanbehandlungen sind.
Auch im englischen Sprachraum verweden die Termini medical tourism und health tourism verwendet. In der Encyclopædia Britannica wird medical tourism mit den Bezeichnungen health tourism, surgical tourism, medical travel und intern...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Einleitung
  6. 1 Medizintourismus als Marktsegment für DolmetscherInnen
  7. 2 Dolmetschen in medizinischen Settings unter Berücksichtigung des Medizintourismus
  8. 3 Erwartungen und Anforderungen an DolmetscherInnen
  9. 4 Forschungsdesign der Studie
  10. 5 Erkenntnisse aus der ethnografischen Feldforschung
  11. 6 Erkenntnisse aus den Expertinneninterviews
  12. 7 Erkenntnisse aus der Online-Erhebung
  13. 8 Zusammenfassende Erkenntnisse und Fazit
  14. Bibliografie
  15. Anhang 1: Bildung deduktiver Kategorien nach Mayring (2010)
  16. Anhang 2: Bildung induktiver Kategorien nach Mayring (2010)
  17. Abkürzungsverzeichnis
  18. Fußnoten