Garrett Wallace Brown mit Convoco im Gespräch
Wie COVID-19 die globale Gesundheitspolitik herausfordert
Convoco: Governance-Strukturen im globalen Gesundheitswesen sind in den vergangenen 20 Jahren stark gewachsen. Wie hat sich die Gesundheitslandschaft seit dem Jahr 2000 verändert?
Garrett Wallace Brown: Im Verlauf der vergangenen 20 Jahre hat sich die Zahl der globalen Gesundheitsorganisationen ebenso massiv vermehrt wie die Zahl einschlägiger Initiativen und das Volumen ihrer Haushalte. Nur ein Beispiel: auf dem G8-Gipfeltreffen in Japan des Jahres 2000 wurden gleich zwei wichtige Initiativen aus der Taufe gehoben, der Globale Fonds zur Bekämpfung von AIDS, Tuberkulose und Malaria (der GFATM) und die Impfallianz Gavi. Der GFATM wurde mit einem Startkapital von 10 Milliarden US-Dollar ausgestattet. Im Zeitraum zwischen 2000 und 2013 verdreifachte sich das Volumen der Entwicklungshilfe für Ausgaben der öffentlichen Gesundheit mit einer jährlichen Wachstumsrate von durchschnittlich mehr als 11 Prozent. Zahlreiche umfassende Programme wurden in dieser Zeit ins Leben gerufen. Eine der jüngeren Initiativen ist die Global Financing Facility, die weltweit die gesundheitliche Versorgung von Müttern, Kindern und Jugendlichen verbessern will.
Aus demselben Zeitraum stammen auch die Millenniums-Entwicklungsziele zur gesundheitlichen Versorgung und die daran anknüpfenden Ziele für nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030. Die Formulierung dieser Nachhaltigkeitsziele reflektierte einen einzigartigen Konsens zugunsten der Schaffung eines Systems der universalen Gesundheitsversorgung mit Absicherung gegen finanzielle Risiken, Zugang zu grundlegenden Gesundheitsdiensten und Verfügbarkeit bezahlbarer Arzneimittel und Impfstoffe (Ziel 3.8). Gemeinsam haben diese politischen Initiativen die Verbreitung weltweit tätiger Gesundheitsorganisationen begünstigt und dem Thema globale Gesundheit ein konstantes Maß an Aufmerksamkeit verschafft. Allerdings ließe sich wohl nur schwer argumentieren, dass sich die weltweite Gesundheitspolitik im Zuge dieser Entwicklung maßgeblich verbessert habe und dass wir im Begriff stünden, die Herausforderungen der globalen Gesundheit zu meistern. Wo Erfolge zu verzeichnen waren, haben sich diese oft als isolierte Fortschritte oder als Stückwerk entpuppt. Die COVID-19-Krise hat die Risse in der Fassade der globalen Gesundheitspolitik zum Vorschein gebracht.
C: Eine der Ursachen für das langsame Fortschrittstempo der weltweiten Gesundheitsvorsorge ist Ihrer Ansicht nach ein institutioneller »Gridlock«. Können Sie das näher ausführen?
GWB: Eine der Hauptursachen für diesen Gridlock in der globalen Gesundheitspolitik ist die große Anzahl von Akteuren, die eine wirksame Koordination erschwert. Jeder dieser Akteure hat seine eigenen Interessen und Prioritäten. Je mehr Akteure zu einem gemeinsamen Projekt beitragen, desto größer die Reibungsverluste, die bei dem Versuch zur Erzielung eines Konsenses entstehen. Zu den größten Problemen der aktuellen Gesundheitsdiplomatie zählen die Flickschusterei und die Verzögerungen, die sich infolge unilateralen Handelns ergeben. Dies ist das Dilemma, wenn zahlreiche globale Institutionen mit unterschiedlichen Finanzierungsquellen und Strategien gleichzeitig agieren.
Im Jahr 2018 gab es auf der Welt 3.401 global operierende Gesundheitsorganisationen. Diese Zahl schließt weder die nationalen noch die ausschließlich bilateral operierenden Organisationen ein (z. B. die Ministerien für Entwicklungshilfe wie DFID oder USAID), und ebenso wenig Unterorganisationen der Vereinten Nationen wie die Weltgesundheitsorganisation WHO oder UNICEF.
Insgesamt haben wir es im globalen Gesundheitswesen mit etwa 4.000 institutionellen Akteuren zu tun, die alle ihre eigenen Initiativen verfolgen. Manche dieser Organisationen bemühen sich um eine globale Koordination, manche nicht. Das führt zu einer Fragmentierung der Institutionenlandschaft. Nehmen wir als Beispiel die COVID-19-Krise, die das Problem der Fragmentierung anschaulich demonstriert. Wer übernimmt die Beobachtung von Entwicklungen, die rasche Formulierung von Reaktionen und die Festlegung verbindlicher Richtlinien? Wer ist für die Konzeption wirksamer Gegenmaßnahmen verantwortlich – was auch bedeutet: wer ist letztlich der Öffentlichkeit gegenüber verantwortlich? Intuitiv würde man hier an die WHO denken, allerdings kann diese ihrer Aufgabe zur Koordination der verschiedenen Institutionen kaum noch nachkommen. Das ist eine Folge der Kürzung ihrer Mittel, unzureichender Kooperation der Mitgliedstaaten und komplexer politischer Konstellationen in der Weltgesundheitsversammlung. Die Reaktion auf den Ebola-Ausbruch in Westafrika vor ein paar Jahren wurde nicht von der WHO, sondern weitgehend von Médecins Sans Frontières – Ärzte ohne Grenzen – koordiniert, einer Nichtregierungsorganisation mit begrenzten Ressourcen. Wenn man sich auf die nationale Ebene konzentriert, da die meisten gesundheitlichen Krisen ja auch in einem nationalen Rahmen bekämpft werden, dann verschärft das jedoch das Problem unkoordinierter Strategien und Programme. In der COVID-19-Krise haben Großbritannien, Schweden, Deutschland und die USA allesamt unterschiedliche Lockdown-Strategien, mit vielfältigen und potenziell gefährlichen Konsequenzen, verfolgt.
C: In welchem Ausmaß hat die COVID-19-Krise diese institutionellen Probleme bloßgelegt?
GWB: Das lässt sich gut am Beispiel der Internationalen Gesundheitsvorschriften veranschaulichen. Diese IGV sollen uns dabei helfen, die grenzübergreifende Ausbreitung von gesundheitlichen Krisen einzudämmen und zu bekämpfen. Die Wahrheit ist jedoch, dass das System an einem chronischen Finanzmangel leidet und dass sich weniger als die Hälfte der Unterzeichnerstaaten an ihre Vertragspflichten halten. Zu diesem Kreis zählen auch wohlhabende Länder wie z. B. Frankreich. Diese Staaten sollten ab dem Jahr 2016 ihre Pflichten erfüllen, aber dazu ist es einfach nicht gekommen.
In der COVID-19-Krise haben einige Staaten sogar gegen die Internationalen Gesundheitsvorschriften verstoßen. Die internationale Staatengemeinschaft wurde nicht rechtzeitig informiert und nötige Maßnahmen wurden nicht umgesetzt. Die WHO verfügt über keinerlei Instrumente zu Vollzug oder Sanktionierung der Richtlinien und kann lediglich durch öffentliche Identifizierung säumiger Mitgliedstaaten die betreffende Regierung »an den Pranger stellen«. Wenn es sich jedoch bei diesem um einen maßgeblichen Beitragszahler wie China und die USA handelt, offenbaren sich schnell die Grenzen. Präsident Trumps Entscheidung, aus der WHO auszutreten, illustriert das Dilemma der WHO bei Disputen mit großen und mächtigen Staaten.[1]
Hinzu kam, dass nicht alle Regierungen von Beginn an willens waren, den Ernst der Lage zu erkennen. Großbritannien und die USA sind passende Beispiele für Staaten, die eine Politik des Abwartens verfolgten. Damit wurde gegen das erste Gebot aller Quarantäne- und Lockdown-Maßnahmen verstoßen: Es gilt schnell und resolut handeln, auf der niedrigsten Ebene und in Zusammenarbeit mit der betroffenen Bevölkerung.
Dann gibt es den Pandemic Emergency Fund, der im Jahr 2015 auf dem G7-Gipfeltreffen in Deutschland beschlossen wurde als Reaktion auf den Ausbruch der Ebola-Epidemie in Westafrika. Es handelt sich dabei um einen Finanzierungsmechanismus mit einem Volumen von bis zu 500 Millionen US-Dollar zur schnellen Bereitstellung von Krediten für Staaten, in denen eine Epidemie droht zur Pandemie zu werden. Der Fonds erhielt jedoch nicht die ihm versprochene finanzielle Unterstützung und wurde auch nicht zur Bekämpfung der aktuellen Pandemie eingesetzt, in erster Linie, weil er bei der Weltbank angesiedelt ist. Antragsteller müssen zunächst Qualifikationshürden überwinden – die zum Beispiel für China und Indien zu hoch wären. Ein führender Vertreter der Weltbank bezeichnete die Initiative als »völlige Blamage«. Diejenigen Staaten, die theoretisch zum Erhalt der Mittel berechtigt wären, stehen bereits unter einer enormen Schuldenlast. Warum also sollten diese Länder sich zusätzliche Schulden aufbürden, wenn sie bereits ihre bestehenden Darlehen nicht zurückzahlen können? Und warum sollten sie das Darlehen beantragen, wenn sie davon ausgehen können, dass eine andere Form der Finanzhilfe kommen wird, sobald sich das Problem auf andere Staaten ausweitet? Im Endeffekt hat sich der G7-Plan von 2015 nicht als geeignetes Instrument einer wirksamen gesundheitspolitischen Strategie gezeigt.
Zum Zweck einer besseren Koordination der internationalen Bemühungen schufen die G7 Anfang 2014 die Global Health Security Agenda, die anschließend auch von den G20 unterstützt wurde. Aber auch diese Initiative ist unterfinanziert und die Koordination ist mangelhaft. Viele Staaten haben sich diesen Verantwortlichkeiten schlicht nicht gestellt. Geplant war die Vernetzung intellektueller wie technologischer Ressourcen zur Bekämpfung schwerwiegender gesundheitlicher Risiken wie zum Beispiel der Entwicklung antibiotika-resistenter Keime (AMR). Daraufhin ist aber leider nur wenig geschehen, und AMR ist nach wie vor eine schwere globale Bedrohung. Wir sprechen hier von ca. 300 Millionen Todesopfern gegen Mitte des 21. Jahrhunderts.
C: Sie haben bereits angedeutet, dass die globale Gesundheitspolitik zunehmend politisiert wird. Verschärft diese Entwicklung die Fragmentierung und Ineffektivität von Institutionen?
GWB: Die Vorstellung, dass das Thema Gesundheit unpolitisch ist, bzw. entpolitisiert werden muss, ist ein großer Trugschluss. Gesundheit hat immer auch eine politische Dimension. Der Patient, der eine zu seiner Gesundung erforderliche Therapie erhält, steht am Ende eines Prozesses, der mit einer mutmaßlich politischen Entscheidung über die Verfügbarmachung der betreffenden Therapie begann. Wenn wir morgen eine große Zahl von Menschenleben retten wollen, müssen wir den Menschen heute Zugang zu sauberem Wasser und Seife verschaffen. Erforderlich dafür sind politische Entschlossenheit und Kompetenz.
Wir müssen fragen, wie wir die einschlägigen politischen Prozesse demokratisch legitim und zweckgerecht gestalten und wie wir den bestehenden Richtlinien mehr Durchsetzungskraft geben können – wie wir, zum Beispiel, erreichen können, dass die Internationalen Gesundheitsvorschriften flächendeckend befolgt werden, die die Staatengemeinschaft warnen und mobilisieren sollen, wenn eine Epidemie droht zur Pandemie zu werden. Wir haben auch die Mechanismen eines für entsprechende Notfälle konzipierten Finanzierungssystems, aber die einzelnen Länder müssen sich verpflichten, dieses System auch finanziell zu tragen. Im Falle von COVID-19 hat es die Regierung Chinas aber im Lichte eigener Interessen versäumt, rechtzeitig den Alarm auszulösen – unter anderem aufgrund ausländischer Direktinvestitionen und des Unwillens, als Regierung Schwäche zu zeigen. Solche Denk- und Handlungsmuster sind gefährlich, weil das globale öffentliche Wohl auf der universalen Befolgung bestimmter Grundregeln basiert.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO hatte bereits im November 2019 Zugang zu Informationen über COVID-19, vielleicht sogar noch einen Monat früher, aber konnte die Welt nicht auf die drohende Gefahr aufmerksam machen, weil ihr – in gewisser Hinsicht – die Hände gebunden waren. Zum Teil hat das etwas mit der Geschichte der Organisation zu tun. In der Vergangenheit ist die WHO verschiedentlich dafür kritisiert worden, die Alarmglocken zu früh oder zu spät geläutet zu haben. Auch weiß die WHO oftmals nicht, wie sie mit ihrer politischen Situation umgehen soll. Ohne eine WHO, die ihre Aufgaben selbstbewusst in Angriff nimmt, sinken jedoch unsere Chancen auf den Aufbau eines effizienten Systems der globalen Gesundheitsvorsorge.
Meiner Ansicht nach müssen wir fragen: Wie können wir Staaten wie China dazu verleiten, ein solches System politisch zu unterstützen? Wie können wir Institutionen schaffen, die den Herausforderungen und Bedrohungen effektiv entgegentreten können? Wie erreichen wir, dass Staaten wie die USA solche Institutionen unterstützen, obwohl sie sich auf einem Rückzug aus der internationalen Politik befinden. Hier brauchen wir die Politik, denn all dies sind Fragen, die nur im Rahmen politischer Prozesse beantwortet werden können.
C: Unter den vielen Akteuren im Bereich Global Health gibt es auch Privatorganisationen, die im Lauf der Jahre stark an Einfluss gewonnen haben, allen voran die Bill & Melinda Gates Foundation. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
GWB: Man kann das aus zwei Richtungen betrachten. Einerseits schaffen diese Stiftungen, private und mutilaterale Initiativen, neue Innovationspotenziale. Sie kommen von außerhalb, sind weniger in eingefahrenen Prozessen gefangen und können frische Lösungsmodelle liefern. Diese Stiftungen konzentrieren sich zumeist auf ein oder zwei spezifische Probleme und gehen diese mit einem funktionalistischen Ansatz an. Bill und Melinda Gates zum Beispiel haben fraglos eine Reihe von Innovationen der globalen Gesundheitsfürsorge finanziert, zum Beispiel die Entwicklung billiger und einfach einzusetzender Moskitofallen in Afrika. Diese Fallen haben sich in einigen Regionen als kosteneffizientes Mittel zur Bekämpfung der Malaria bewährt. Darüber hinaus wurden neue elektronische Anwendungen entwickelt, Laborforschung betrieben und Informationssysteme im Gesundheitsbereich verbessert.
Andererseits ist aber auch zu bedenken, dass diese Initiativen die institutionelle Fragmentierung verschärfen und die Gestaltung eines globalen Gesundheitssystems noch schwieriger machen. Jede neue Initiative oder Organisation macht den Dschungel aus überlappenden Zuständigkeitsbereichen sowie parallel laufenden Programmen noch undurchdringbarer, gleichzeitig kann es passieren, dass Lieblingsprojekte von Stiftern verfolgt werden. Hinzu kommt, dass viele Privatinitiativen unternehmerischen Erfahrungen entspringen mit dem Glauben, dass bestimmte Produkte und Vertriebsformen auf das globale Gesundheitswesen übertragen werden können. Seit dem Jahr 2000 hat sich zum Beispiel die Zahl der IT-Lösungen (Software und Anwendungen) in der öffentlichen Gesundheitsfürsorge vervielfacht. Allzu oft handelt es sich hierbei um Projekte ohne irgendeinen Bezug zu dem konkreten Kontext, um technische Spielereien, die wenig zur Lösung des eigentlichen Problems beitragen. Dies wirft Fragen auf zu Finanzierungsquellen, epistemischer Autorität und Machtverhältnissen.
Veranschaulichen lässt sich dieses Problem am Beispiel Tansanias, eines Landes, das 47,5 Prozent seiner Ausgaben für das Gesundheitswesen aus externen Quellen bestreitet. Wenn eine große Stiftung einem Land wie Tansania eine Spende in Aussicht stellt, ihr finanzielles Engagement jedoch von der Einhaltung bestimmter Bedingungen abhängig macht, können Sie in der Regel davon ausgehen, dass das Nehmerland diesen Bedingungen zustimmt. Dies gilt auch dann, wenn sich die lokalen Behörden durchaus darüber im Klaren sind, dass durch die betreffende Vereinbarung örtliche Strukturen politischer Verantwortlichkeit untergraben werden und dass die Ideen der Spenderorganisation den vor Ort tatsächlich bestehenden Herausforderungen nicht gerecht werden.
Hier zeigen sich große Bedenken bezüglich der bestehenden Machtverhältnisse und epistemischer Autorität, aber auch über die Nachhaltigkeit einschlägiger Projekte. Was passiert, wenn die Finanzquelle versiegt? Wenn das Nehmerland seinen Wohlstand nicht zu mehren vermag, dann ist die Hoffnung, dass es die Verantw...