Nur wir haben überlebt
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Nur wir haben überlebt

Holocaust in der Ukraine - Zeugnisse und Dokumente

  1. 480 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfügbar
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Nur wir haben überlebt

Holocaust in der Ukraine - Zeugnisse und Dokumente

Über dieses Buch

Boris Zabarko, selbst Uberlebender des Ghettos von Schargorod hat 86 ergreifende und erschütternde Berichte von Uberlebenden der Ghettos in der Ukraine gesammelt. In jedem der Berichte schwingt die Trauer und Klage mit: "Nur wir haben überlebt". Als Kinder oder Jugendliche wurden sie Zeugen, wie ihre Eltern, Geschwister und alle Familienangehörigen ermordet wurden. In ihren Berichten sagen sie: "Vielleicht erscheint dem einen oder anderen mein Bericht wie eine Aufzählung trockener Tatsachen, aber für mich sind das die Meilensteine meiner hungrigen, zertretenen Kindheit." "Als ich ein Kind war, habe ich von einem Stück Brot und von der Freiheit geträumt. Ich träumte davon, eine echte Puppe im Arm zu halten. Aber mein Traum wurde nicht wahr." Die Berichte enthalten Schilderungen der grausamen Morde. Sie zeugen aber auch vom übermächtigen Uberlebenswillen der Kinder. "Mutter hielt mich ganz fest, drückte mich an sich und sagte: Wenn wir sterben, dann zusammen, damit du nicht leiden musst. Aber ich riss mich los, sprang durchs Fenster in den Garten und entkam." Der Leser erhält Informationen über die Schwierigkeiten der Flucht, des Untertauchens und der Rettung durch Menschen, die ihr Leben und das Leben ihrer Familien riskierten, um diese gejagten, gequälten und verzweifelten Juden zu retten, und sei es nur für eine Nacht. Die mahnende Erinnerung ist die Triebfeder für diese Zeitzeugenberichte. "Möge meine Erzählung dem ewigen und leuchtenden Andenken an die unschuldigen Opfer dienen, die in den Gräbern ruhen. Natürlich lässt sich damit die tiefe Traurigkeit nicht heilen, die für immer in unserem Gedächtnis, in unseren Herzen wohnen wird."

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Information

VERSPÄTETE ZEUGNISSE VON
ÜBERLEBENDEN DES HOLOCAUST

Anapolski Njuma (geb. 1926)

»WIR ÜBERLEBTEN DANK DER HILFE GUTER MENSCHEN – UKRAINER, POLEN ...«

Nachdem wir die Prüfungen hinter uns hatten, kamen wir, eine Gruppe von zwanzigjungen im Altervon 13-15 Jahren, am 22. Juni 1941 bei Sonnenaufgang auf dem Schulhof zusammen, um von dort gemeinsam an den Strand zu gehen. Wir badeten und genossen das kühle saubere Wasser. Wir aßen mit Appetit unser Frühstück, das wie üblich aus Butterbroten, Eiern, grünen Zwiebeln und jungen Radieschen bestand. Anschließend zogen wir zum Fußballstadion. Kaum hatten wir den Ball ein paar Mal getreten, als wir Motorenlärm hörten. Mit lautem »Hurra« rannten wir auf die Straße und sahen zu unserer Begeisterung richtige Panzer und Lastwagen, in denen Rotarmisten saßen. Sie fuhren aus Richtung Nowograd-Wolynski nach Rowno.
Es vergingen ein paar Tage und auf unser Städtchen gingen die ersten Bomben nieder, woraufhin die ersten Opfer des faschistischen Überfalls begraben wurden. Die Beisetzung fand auf dem alten jüdischen Friedhof mit den Totengebeten El male rachamim und Kaddisch statt. Zur gleichen Zeit fuhren die Panzer mit dem roten Stern zurück nach Osten in Richtung Nowograd-Wolynski.
Wieder ein paar Tage später wurde Korez von den Nazis besetzt. Die Juden begriffen nicht sofort, was die Deutschen vorhatten, und verhielten sich am ersten Tag der Besetzung ihrer Stadt abwartend. Jedoch bereits am zweiten Tag begann das Neue: wir waren keine gleichberechtigten Menschen mehr. Alle Juden vom dreizehnten Lebensjahr an wurden gezwungen, auf Rücken und Brust gelbe sechszackige Sterne zu tragen. In die jüdischen Häuser drangen zusammen mit den Deutschen auch ukrainische Polizisten ein, sie brüllten: »Juden! Schweine! Shid!« und jagten die Bewohner ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht nach draußen, die einen auf den Marktplatz, die anderen zu einem Gebäude, wo sich Polizei und Stadtverwaltung befanden, wieder andere zur deutschen Kommandantur. Sie zwangen ihre Opfer mit Stockschlägen dazu, mit den Händen und ohne Besen oder Schaufel, Müll und Glasscherben aufzuheben. Es wurde ein Judenrat gebildet, der der ukrainischen Polizei und Stadtverwaltung unterstand und Befehl hatte, die Juden zur Arbeit zu schicken.
Die Besatzer begannen, eine Fernmeldeleitung nach Berlin zu verlegen. Zum Ausheben der Gräben wurden Tausende Juden zusammengetrieben. Dutzende starben täglich an Hunger, Erschöpfung und den Folgen der erlittenen Misshandlungen. Am schwierigsten wurde es, als das Kabel durch den engen und tiefen Graben gezogen werden musste und jeder wusste, dass ihm ein Weg von vielen Kilometern bevorstand. Als die Bauern begannen, ihre Zuckerrüben zur Fabrik zu fahren, warfen sie uns unbemerkt einige zu. Die Menschen stürzten sich wie wild auf die verdreckten Früchte und aßen sie roh auf. Wenn die Wachen das sahen, verprügelten sie die Unglücklichen grausam und nicht selten zu Tode. Begraben oder genauer gesagt verscharrt wurden die Toten an Ort und Stelle, das heißt auf dem Feld.
Erich Koch, der die Stadt Rowno zur Hauptstadt des Reichskommissariat Ukraine ernannt hatte, forderte von den örtlichen Kommandanturen eine beschleunigte Verlegung der Fernmeldeleitung. Da die kranken und entkräfteten Menschen nicht in der Lage waren, die ihnen auferlegte körperliche Schwerstarbeit rasch genug auszuführen, begannen die Nazis auch Frauen und Kinder, unter denen auch ich mich befand, zum Ausheben der Gräben abzukommandieren. Mein Vater und ich wurden von der Polizei mit Stockschlägen zur Arbeit angetrieben.
Am vierten Tag der Besatzung der Stadt Korez erhielten 120 namentlich in einer speziellen Liste erfasste Juden den Befehl, sich bei der Stadtverwaltung zu melden. Was mit diesen Menschen geschah, weiß niemand. Keiner von ihnen kam jemals zurück, und lange Jahre hindurch galten sie als »vermisst«.
Ich erinnere mich noch an einen schrecklichen Tag im Sommer des Jahres 1941. Es war ein ukrainischer religiöser Feiertag. An jenem Tag kamen SS-Männer und ukrainische Polizisten in unsere jüdische Straße gestürzt und ergriffen 350 Juden, ausschließlich Männer. Über das Schicksal dieser Männer war uns über lange Jahre hinweg ebenfalls nichts bekannt. In dem Zeitraum von Juni 1941 bis September 1942 starben rund 5 000 Juden der Stadt Korez an den Folgen grausamer Folterungen.
Was ich hier beschreibe ist nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was ich erlebt und mit meinen eigenen Augen gesehen habe. Dreizehn- bis fünfzehnjährige Mädchen wurden vor den Augen ihrer Mütter vergewaltigt und vor den Augen von Kindern und Männern wurden Frauen und Mütter vergewaltigt. Babys wurden ihren Müttern weggerissen, in die Luft geworfen und als Zielscheiben benutzt. Das Gleiche tat man mit Kindern, die man an Pfählen festgebunden hatte. Betrunkene Faschisten stürzten ins Ghetto und erschossen jeden, der ihnen vor die Augen kam, wobei sie gewöhnlich auf den »Davidstern« zielten.
Eines Tages wurden vor der großen schönen Synagoge alle Rabbiner zusammengetrieben. Sie wurden in Gruppen zu jeweils zwei bis drei Mann eingeteilt und dann zu den übrigen Synagogen getrieben. Dort wurden sie gezwungen, die Thorarollen und die heiligen Bücher auf die Straße zu tragen, mit Benzin zu übergießen und anzuzünden. Einige der Rabbiner weigerten sich diesen Befehl auszuführen. Sie wurden zu Tode geprügelt oder erschossen. Manche von ihnen starben an gebrochenem Herzen, da sie die Verhöhnungen und Quälereien nicht ertragen konnten. Diejenigen, die am Leben blieben, wurden vor dem Hintergrund der brennenden Thorarollen fotografiert. Die Peiniger zwangen diese unglücklichen Menschen, sich gegenseitig die Bärte zu scheren und in das Haupthaar ein Kreuz zu schneiden. Die große Synagoge brannte restlos aus, nachdem man ein Fass mit Benzin hineingerollt und angezündet hatte. Der reich verzierte Metallzaun, der die Synagoge umgab, wurde abgebrochen und die einzelnen Teile wurden dann um die Birkenkreuze auf den Gräbern gefallener Faschisten aufgestellt. Die Rabbiner, die alten Märtyrer des Ghettos, wurden vor Wasserfässer gespannt und dann tagelang gezwungen, die ukrainische Polizei, die Stadtverwaltung, die Kommandantur und das Krankenhaus, in dem verwundete deutsche Soldaten behandelt wurden, mit Wasser zu beliefern.
Die für uns schlimmste Zeit war der Winter 1941/1942. Die Wände in den Wohnungen waren mit Eis bedeckt, die Menschen konnten sich monatelang nicht waschen und wurden von den Läusen aufgefressen. In einer einzigen Wohnung mussten mehrere Familien zusammen hausen, denn wir durften nur in solchen Häusern wohnen, die sich an einer zum Ghetto gehörenden Straße befanden. Wir verbrannten in unseren kleinen Öfen alles, was sich nur verbrennen ließ: Möbel, Kleidung und Dielenbretter. Aber sobald die Polizisten und die SS-Männer bemerkten, dass aus irgendeinem Kamin Rauch herauskam, drangen sie sofort in das Haus ein, jagten die vor Frost erstarrten Bewohner auf die Straße und zwangen sie, dort Schnee zu holen und damit das Feuer im Ofen zu löschen.
Jede Nacht starben Dutzende von Menschen an der unerträglichen Kälte und vor Hunger. Die Toten blieben tagelang in Scheunen und vor der Haustür liegen und wurden nur allmählich auf den Friedhof gebracht, wo man sie immer zu mehreren in einem Grab bestattete. So schrecklich es auch war zu sterben, die noch Lebenden beneideten die Toten, da für sie alles Leid ein Ende gefunden hatte.
Hübsche junge Mädchen von 18 bis 20 Jahren schmierten sich alles mögliche Zeug in ihre Gesichter und schoren sich die Köpfe kahl, um möglichst wenig attraktiv auszusehen und nicht vergewaltigt zu werden. Tag für Tag machten verschiedene Banden das Ghetto unsicher und forderten die Juden zur Herausgabe ihrer Wertgegenstände auf. Manchmal rissen sie sogar die Türklinken heraus.
Die Zeit verging und über das Schicksal der ersten 120 von der Polizei deportierten Menschen sowie der 350 Internierten wurde nichts bekannt. Ich erinnere mich noch sehr gut an eine Gruppe, zu der Welwe Gilman, der dort ein Konfektionsgeschäft hatte, als das Gebiet noch polnisch war, dessen Sohn Sema, Iosl Kleiner, Pirkes, Sise Segal, seine Frau Pirl sowie mein Vater Birl Anapolski und ich gehörten. Wir trafen uns in der Scheune von Welwe Gilman und berieten, was wir tun sollten. Segal erzählte, dass ein Schuster, ein Sektenmitglied und Ukrainer, mit dem er vor dem Krieg geschäftlich zu tun hatte, einen Polizisten kenne. Dieser sei bereit, für Geld die notwendigen Informationen zu beschaffen. Es wurde beschlossen, diese Informationsquelle vor dem Judenrat geheim zu halten. Wir begannen, unsere Wertgegenstände zusammenzutragen. Ich wurde angewiesen, mich im Zentrum der Stadt in der Nähe zweier Märkte aufzuhalten, wo die deutschen Soldaten ihre Freizeit zu verbringen pflegten. Besonders sollte ich auf diejenigen achten, die an ihren Mützen einen Totenkopf trugen und auf ihren Uniformkragen die der Zahl 44 ähnlichen Buchstaben SS. Sobald ein Fahrzeug mit solchen Soldaten auftauchte, sollte ich durch die Schilgasse laufen und auf Jiddisch rufen: »In der Stadt sind fir und firzik«, damit sich die Bewohner rechtzeitig verstecken konnten.
Unsere Gruppe traf sich erneut, als alle Wertgegenstände zusammengetragen worden waren. Es handelte sich um Goldmünzen, die noch unter dem Zaren geprägt worden waren, Ringe, Löffel und Kerzenleuchter. Den Nachnamen des Mannes, für den all das bestimmt war, kannte niemand. Nachdem der Polizist das Geschenk entgegengenommen hatte, teilte er uns mit, dass alle 120 Juden, deren Namen auf der ersten Liste gestanden hatten, noch am Tag ihrer Deportation zwei Kilometer von Korez entfernt, in der Nähe des Dorfes Schitnja, erschossen worden waren. Ihr Grab hatten sie selbst ausheben müssen. Auf der Liste hatten die Intellektuellen und Gebildeten der Stadt gestanden, zu denen sowohl Zionisten als auch Kommunisten gehörten. Die Deutschen und die ukrainische Polizei hatten befürchtet, diese Personen könnten die Gemeinde der 5 000 im Ghetto der Stadt Korez lebenden Juden zum Kampf gegen die Besatzung aufstacheln und sich zu Führern einer Widerstandsbewegung machen.
Wir erfuhren, dass das gleiche tragische Schicksal auch jene 350 Juden ereilt hatte. Man hatte sie bei Straßenbauarbeiten eingesetzt, wo sie im Verlauf von zwei Monaten in Gruppen zu 20 bis 30 Mann erschossen worden waren. Ihre Leichen ruhen in fünf von ihnen selbst ausgehobenen Gräbern, die sich etwa 10 km von Korez entfernt auf der Straße nach Nowograd-Wolynski befinden.
Es begann das zweite Jahr der so genannten »neuen Ordnung«. Im Sommer 1942, am Tag vor Schawuot waren früh am Morgen Schreie, Weinen und Schüsse zu hören. Alle Juden wurden mit Peitschen, Knüppeln und Gewehrkolben aus ihren Häusern auf die Straße und zur ukrainischen Stadtverwaltung getrieben, die sich in der Staromonastyrskaja (zu deutsch Altklosterstraße) befand. Unter den Betroffenen waren auch meine Eltern, zusammen mit ihren Schwiegertöchtern und Enkeln, dem sechs Monate alten Scheisel und der drei Jahre alten Goldel. Die Väter der Kinder waren an der Front. Neben ihnen stand auch ich, der ich damals gerade mal 15 Jahre alt war. Die meisten Männer trugen wie mein Vater ihren Tales und beteten mit zum Himmel erhobenen Händen das »Schema Israel«.
Wir wurden in Kolonnen zu 150, 200 und 300 Menschen aufgestellt und von SS-Männern mit Hunden und von Polizisten, die aus Shitomir gekommen waren, bewacht. Besonders schrecklich wurde es, wenn Eltern und Kinder getrennt und auf verschiedene Kolonnen verteilt wurden. Die Menschen schrien und weinten ... Frauen verloren das Bewusstsein und viele von ihnen fielen von Schmerz gelähmt zu Boden und starben an Herzattacken. Diejenigen, die liegen blieben, starben unter den Füßen derer, die von den SS-Männern angetrieben, über sie hinwegmarschierten.
Am Straßenrand standen vier Pferdefuhrwerke, auf die wurden die Leichen wie Brennholz geworfen. Dieser Zug folgte den Kolonnen. Der Weg der Unglücklichen führte in Richtung eines Waldes, der acht Kilometer von Korez entfernt in der Nähe des Dorfes Kosak gelegen war. Dort hatte man bereits Gräber vorbereitet. All dies geschah vor meinen Augen und noch heute schrecke ich nachts hoch, wenn mir im Traum jene grauenvollen Bilder erscheinen.
Als man uns zur Stadtverwaltung getrieben hatte und in Kolonnen aufstellte, bemerkte ich etwa 200 mir bekannte junge jüdische Mädchen und Jungen. Sie saßen etwas abseits von der Stelle, an der unsere Kolonne stand. Mir kam der Gedanke, dass man sie für irgendwelche Arbeiten zurückbehalten hatte. Es gelang mir, mich unbemerkt aus der Kolonne zu entfernen, die wohl jeden Augenblick ihren Weg in den Tod würde antreten müssen, und zu der Gruppe junger Leute hinüberzukriechen. Ein paar Mädchen setzten sich sofort auf mich und deckten mich mit ihren Röcken zu. So blieb ich vier Stunden lang liegen. Während dieser Zeit wurden alle Kolonnen abgeführt, die, wie später bekannt wurde, 2 500 Juden umfasst hatten. Erst danach wurden die jungen Leute nach Hause gelassen. Unterwegs begegneten wir Pferdefuhrwerken, mit denen die Kleider der Ermordeten in den Hof der Stadtverwaltung gebracht wurden.
Während der Nacht sammelten sich im Ghetto rund 2 000 Leute, denen es auf irgendeine Weise gelungen war, dem Tod noch einmal zu entkommen. Später erfuhren wir, dass die Exekution unserer Angehörigen und Nachbarn gegen vier Uhr beendet war.
Am nächsten Tag musste eine Gruppe von dreißig Leuten, zu denen auch ich gehörte, in Begleitung von Mitgliedern des Judenrates und einigen ukrainischen Polizisten, mit Schaufeln in der Hand zu der Stelle marschieren, an der unsere Lieben den Tod gefunden hatten. Bereits am Waldrand, etwa 20 Meter von der Straße entfernt, erblickten wir Körper von Toten. Es waren 22 Leichen. Darunter befanden sich auch Kinder, denen die Köpfe durchschossen worden waren. Offensichtlich hatten die Unglücklichen versucht, aus der Kolonne zu fliehen. Neben dem Ort ihres Todes auf einer Waldlichtung lagen Kinderwagen, Spielsachen, Schühchen, Strümpfchen, Patronenhülsen, Zigarettenkippen und Schnapsflaschen herum. Überall waren Blutspuren und in den nicht zugeschütteten Gräbern lagen die Erschossenen in ihrem eigenen Blut, das unter der brennenden Sonne rasch verdunstete. Dorthin trugen wir die 22 Leichen. Wir schritten die Gräber ab, um sie zu messen und stellten fest, dass sie zwanzig Meter breit und zwanzig Meter lang waren. Dann wurde das Kaddisch gebetet und wir zogen erschöpft wieder nach Hause. Gegen Sonnenuntergang kamen wir im Ghetto an, ohne so recht glauben zu können, dass wir dem Schicksal derer, die in den schrecklichen Gräben lagen, entkommen waren.
Nachdem die ersten zweieinhalbtausend Ghettohäftlinge erschossen worden waren, waren noch 2 000 übrig. Die Schikanen, der Hunger und die Entbehrungen gingen weiter, aber all das war nichts verglichen mit dem Leid, das unsere Familien und Freunde ereilt hatte. Wir wurden wie zuvor zu Sklavenarbeiten gezwungen. Nach den Erschießungen gab es keine einzige Familie, die nicht eines ihrer Mitglieder verloren hatte. Die alten Menschen, die das Massaker am Schawuot überlebt hatten, wurden fast alle getötet. Nach der ersten Aktion konnten wir noch die Festtage Rosch Haschana und Jom Kippur begehen. Zum Gebet an diesen Tagen versammelten wir uns in der Wohnung von Jukel Sawodnik, der zusammen mit den ersten 120 Deportierten erschossen worden war. Am ersten Tag des Jom Kippur starben während des Gebetes acht Frauen an Entkräftung und vor Gram. Wir trugen sie ins Nachbarzimmer hinüber und setzten unsere Gebete fort.
So vergingen noch einige Monate, bis wir am Vortag von Sukkes erfuhren, dass in demselben Wald unweit des Dorfes Kosak erneut Gräber ausgehoben wurden. Auf welche Weise diese Nachricht zu uns gelangte, weiß ich nicht, denn die Gruppe, die von dem namentlich nicht bekannten Polizisten informiert worden war und zu der auch mein Vater gehört hatte, war erschossen worden. Wir beschlossen, aus dem Ghetto zu fliehen. Wir waren fünf Freunde, die das Leben im Ghetto fest zusammengeschweißt hatte. Awrum Golender, Awrum Lerner, Muma Esterman, Jankel Milrud und ich, Njuma Anapolski. Wir schlichen heimlich in der Nacht durch die ganze Stadt und gingen dann in Richtung Nowograd-Wolynski weiter. Wir gingen durch den Wald, den wir als Stadtkinder ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Geleitwort des Deutschen Botschafters in der Ukraine
  5. Einführung der Herausgeber der deutschen Ausgabe
  6. Wolfram Wette
  7. Boris Zabarko
  8. VERSPÄTETE ZEUGNISSE VON ÜBERLEBENDEN DES HOLOCAUST
  9. Grausame Bilanz
  10. Glossar
  11. Ortsverzeichnis
  12. Bibliographie
  13. Autoren
  14. Inhalt