B. In der Ordnung der Anderen
1. Beim Zeigen von Flaggen: Elizabeth II.
1.1. Beim Verbannen der Schwelle
Als der Autounfall sich in der Nacht des 31. August 1997 in Paris ereignet und Diana Stunden später im Krankenhaus ihren Verletzungen erliegt, befindet sich Elizabeth II. nicht im Buckingham Palace in London, sondern ist mit ihrer Familie auf ihrem Feriensitz in Balmoral. Sie braucht fünf Tage, um nach London zu einer Stellungnahme zurückzukehren, um – im doppelten Sinne – ‚Flagge zu zeigen‘. Was ist mit der Königin passiert? In diesen Tagen scheint die sonst doch so entschieden wirkende Monarchin für Momente sprach- und handlungsunfähig zu sein. Sie erweckt den Eindruck, als würde sie die Dinge nicht so recht begreifen, die um sie herum sich zu ereignen beginnen. Hängt dies damit zusammen, dass sie nun gezwungen ist, von einer Schwelle aus zu sprechen und zu handeln, an die sie sich nur ungern begibt? Es handelt sich dabei um den umkämpften Ort in Dianas Leben, um die Schwelle, auf der auch ihr Autounfall geschieht und das Sterben seinen Anfang nimmt: um den Übergang zwischen einer öffentlichen Rolle und einem privaten Leben. Genau hier ereignen sich in der Ordnung Elizabeths II. bereits vor Dianas Tod einige ‚Unfälle‘ und Störungen, die ihr Amtsverständnis als Königin nachhaltig prägen. Wir haben bereits erkennen können, dass genau diese Schwelle auch der Ort ist, an dem sich das Königshaus befindet, und wir haben gesehen, welche Schwierigkeiten für Diana sich mit ihrem Eintritt in das Königshaus dabei ergeben. So ist es im Gegensatz dazu doch bemerkenswert, dass Elizabeth II. nie den Eindruck entstehen lässt, als wäre für sie hier irgendetwas problematisch, als gäbe es in ihrer Wirklichkeit überhaupt irgendeine Schwelle zwischen verschiedenen Sphären, die sie in ihrem täglichen Leben zu überwinden gezwungen ist. Zumindest erfahren wir über eine der Sphären, die des Privaten, kaum etwas und haben zu keiner Zeit wirklich etwas von ihr gewusst. Aufnahmen zeigen die junge Königin, die, von einer Dienstreise heimkehrend, einem kleinen, vielleicht fünf Jahre alten Jungen, nämlich dem zukünftigen Thronfolger Charles, förmlich ihre Hand zur Begrüßung reicht. Solche Szenen führen auf Seiten derer, die sie betrachten, immer wieder zu Irritationen. Sie werfen die Frage auf, ob es sich dabei nun um eine Aufnahme aus dem Privaten handelt, um eine ‚Familiensituation‘, oder ob hier eine Königin einem Kind die Hand schüttelt, das zufällig ihr eigenes ist. Sie rücken die Schwelle ins Bild, gerade deshalb, weil die Königin selbst dort keine Schwelle zu bemerken und zu überqueren scheint. Doch was ist die Geschichte dieser ausschließlich professionellen Haltung Elizabeths II.? Woher rührt der unbedingte Vorrang des Amtes vor aller Privatheit, die völlige Ausblendung einer Schwelle, die Elizabeth II. zur Maxime ihrer Handlungen erhoben zu haben scheint? Ist es überhaupt sinnvoll, hier von einer Geschichte auszugehen?
Ohne Frage zählt Elizabeth II. zu den Führungspersönlichkeiten des 20./21. Jahrhunderts, die ein Bewusstsein von sich selbst als einer öffentlichen Person und auch als einer medialen Figuration besitzen und die es verstehen, die medialen Möglichkeiten für die eigenen Zwecke zu nutzen. Ihre Krönung im Jahre 1953 ist der erste Akt dieser Art, der zugleich ein nationales Medienereignis wird – für viele britische Haushalte ist sie der Anlass, sich einen Fernsehapparat anzuschaffen.
Ein Bewusstsein für die Bedeutung ihrer medialen Präsenz zeigt Elizabeth II. bereits auf eine ganz erstaunliche Weise, als sie noch Prinzessin ist. Am 21. April 1947, an ihrem 21. Geburtstag, wendet sie sich während einer Südafrikareise in einer Rundfunkansprache an das britische Volk. Ich denke, dass man diese Rede der Prinzessin beachten muss, wenn man verstehen will, wieso dann fünfzig Jahre später die Königin in Schwierigkeiten gerät. Folgt man dieser Rede, so ist es wichtig, sich dabei vor Augen zu halten, dass es nicht nur eine zukünftige Königin ist, die hier das Wort ergreift, sondern auch ein Mensch, der mit dem 21. Geburtstag, nach dem damaligen Recht des Staates, die Schwelle zum Erwachsensein gerade überschreitet. Ohne Frage markiert dieser Geburtstag in Elizabeths Leben nicht einen so gewaltigen Übergang, wie dies bei einer bürgerlichen Frau der Fall sein könnte, die mit diesem Tag möglicherweise völlig andere Dinge als noch am Tag zuvor zu tun beginnt. In Elizabeths konkreter Wirklichkeit bringt dieser Tag keine entscheidende Veränderung ihres Alltags mit sich. Dennoch scheint es ihr wichtig zu sein, dass hier eine junge Frau spricht, die als ‚mündig‘, ‚geschäftsfähig‘, eben als voll verantwortlich gilt für das, was sie tut. Sie sagt:
To accomplish that we must give nothing less than the whole of ourselves. There is a motto which has been borne by many of my ancestors – a noble motto, “I serve”. Those words were an inspiration to many bygone heirs to the Throne when they made their knightly dedication as they came to manhood. I cannot do quite as they did. But through the inventions of science I can do what was not possible for any of them. I can make my solemn act of dedication with a whole Empire listening.
Hören wir genau hin: Zunächst ruft Elizabeth die Tradition eines Sprechens auf, um sich selbst als Teil dieser hervorzubringen. Das Motto, das sie erwähnt, das Versprechen des Dienens, wurde von all ihren Vorgängern gegeben; es wurde mit diesen Sprechakten immer wieder aktualisiert („has been borne“) und hat auch diese verändert. Allerdings nennt sie auch eine entscheidende Differenz, die ihr Sprechen zwangsläufig in einen Gegensatz zum Sprechen ihrer Vorgänger setzt. Ihr Sprechen scheint mit einer anderen Performanz einherzugehen, als sie im Sprechen der Ahnen vonstattenzugehen vermochte. Haben diese mit ihrem Versprechen die Männlichkeit („came to manhood“) erlangt, so weiß Elizabeth, dass sie diese „manhood“ nicht erreichen kann. Sie markiert diese Differenz zunächst als eine Schwäche ihrer Rede, eine Einschränkung in den Möglichkeiten ihres Handelns („I cannot do quite as they did“), um dieses Defizit dann im Folgenden umso deutlicher auszugleichen. Denn sie hat eine Möglichkeit, die niemand ihrer Ahnen zuvor hat ergreifen können: Durch den Fortschritt der Technik werden ihre Worte im gesamten Empire zu hören sein („with the whole Empire listening“). Im Gegensatz zu den Möglichkeiten ihrer Vorfahren bietet der technische Fortschritt Elizabeth die Möglichkeit, bei ihrem Versprechen, mit ihrem gesamten Leben dem Empire zu dienen, dieses selbst im Augenblick des Sprechakts als Zeugen hervorzurufen. Und dieser Herstellung von Zeugenschaft misst sie eine entscheidende Bedeutung bei, als wisse sie sehr genau, dass auch die Monarchie primär durch die Beglaubigung derer besteht, die sie ganz selbstverständlich zu beherrschen beansprucht. Denn es ist dies, die Fähigkeit, durch die Macht ihrer Stimme eine Zeugenschaft herzustellen, die das Defizit der fehlenden Männlichkeit auszugleichen vermag, womit sich Elizabeth innerhalb der von ihr aufgerufenen Tradition exponiert, ohne sich damit aus ihr als ihr Anderes suspendiert zu haben. Zum Ende ihrer Rede vergewissert die Prinzessin sich der Hilfe Gottes, um ihr Gelübde halten zu können: „God help me to make good my vow“. In dieser Formulierung kommt mehr als nur eine floskelhafte Wendung zur Sprache. Die Gegenwart des Sprechens, die durch den Akt des Versprechens die Gegenwart einer Zukunft affiziert, wird so in die Tradition der Monarchie gestellt, die sich selbst als eine Monarchie ‚Dei gratia‘ versteht.
Doch wozu fallen hier überhaupt diese großen Worte, was verlangt nach einem solchen Beschwören der Präsenz, wieso gibt Elizabeth denn jetzt dieses Versprechen zu dienen – noch ist sie ja nicht Königin? Wozu also überhaupt diese Versicherung, dass alles in der Ordnung der Monarchie auf gewohnte Weise sich fortsetzen werde? Mit nahezu jedem Satz scheint Elizabeth besonders eines herausstellen zu wollen: ‚Ich stehe für eine Kontinuität, die durch nichts gefährdet sein wird.‘ Aber: Könnte es denn anders sein? Sicher ist Elizabeth bewusst, dass viele derer, die sie hier zu Zeugen ihres großen Versprechens macht, zu Zeugen davon, dass mit der Monarchie alles in der Ordnung derselben sich befindet, noch nicht die Berichterstattung der vergangenen Jahre vergessen haben, der zu entnehmen war, dass es nicht einer teleologischen Ordnung von Geschichte, nicht einmal einer vorhersehbaren Ordnung der Monarchie geschuldet ist, dass Elizabeth es ist, die in diesem Moment und in dieser Weise ihre Stimme erhebt. Ist ihre Rede denn nicht bloß eine ‚Unfall-Folge‘, eine historische Zufälligkeit, ist dieses Szenario nicht als etwas völliges Unerwartbares zu werten? Denn dass Elizabeth es ist, die dann sechs Jahre später tatsächlich den britischen Thorn besteigt, ergibt sich aus der Ordnung dieser Monarchie nicht zwingend und kann noch zehn Jahre, bevor sie diese Rede hält, nicht im Geringsten als vorhersehbar behauptet werden. Denn ein Zufall ist bereits, dass ihr Vater König wird. Niemand kann erahnen, dass 1928 die US-Amerikanerin Wallis Simpson das Empire und London erreicht und schließlich den Prinzen von Wales, Edward, so zu verzaubern vermag, dass dieser 1936 ihretwegen auf den Thron zu verzichten bereit ist. Eine Ehe mit einer (zweifach) geschiedenen US-Amerikanerin als König einzugehen, das ist undenkbar für eine Monarchie, deren ungeschriebenes Gesetz lange Zeit lautet, dass der Thronerbe von einer Jungfrau zur Welt gebracht werden muss, besonders deswegen, um ‚Störungen‘, etwa Kinder anderer Männer, auszuschließen.
Vor diesem historischen Hintergrund betrachtet, wirkt Elizabeths Rede wie ein Lehrstück in Performativität: Hier spricht jemand, der nur aufgrund einer Störung im System einmal die Königin von England werden wird. Hier gibt jemand ein Versprechen, weil dieses Versprechen als Versprechen zuvor gescheitert ist. „Ein Versprechen“, so formuliert es Jacques Derrida, „muss von der Möglichkeit bedroht sein, gebrochen zu werden“. Eine solche Bedrohung wird für Elizabeth die ganz konkrete Voraussetzung dafür, dass sie hier das Wort ergreifen kann: Elizabeth kann dieses Versprechen deswegen geben, weil Edward es nicht gehalten hat. Sie weiß also, dass ein solches Versprechen scheitern kann und sie weiß, dass das, was sie verspricht nicht allein ‚Dei gratia‘, sondern in erster Linie durch die Performanz von Akt und Anerkennung fortbesteht. Aus diesem Wissen rührt die Stärke, die Elizabeth durch die Herstellung der Zeugenschaft für sich proklamieren kann. Mit dem Einsatz ihrer Stimme und unter Einsatz technischer Mittel erschafft sie das Szenario der Beglaubigung, in dem ihre Rede überhaupt erst Sinn ergibt: Sie ruft das Empire nicht nur auf, sie spricht es nicht nur an, sondern sie setzt es als den Zeugen ein, der in Zukunft sie als Monarchin bezeugen soll. Sie konstituiert also in diesem Moment das Empire, als dessen Oberhaupt sie einmal gelten will. Und dieses Empire wird im Moment ihres Sprechens nicht nur zum Zeugen einer Rede, sondern auch zum Zeugen eines Zeugnisses, das Elizabeth selbst durch dieses Sprechen ablegen will. Ein Zeugnis von der Tradition, aus der es spricht, der Ordnung der Monarchie, der es angehört und die es sichert, für dessen Legitimation und Wahrhaftigkeit sich Elizabeth hier in diesem Sprechen zu verbürgen beginnt. Glaubwürdig wird sie auch dadurch, weil es mit genau diesem Tag eben die Worte einer – auch in der Ordnung des Staates – Erwachsenen sind, deren Zeuge man wird.
Doch mit ihrem Zeugnis bezeugt Elizabeth genau auch die potentielle Unsicherheit der Situation, in der dieses Versprechen steht. Das Zeugnis Elizabeths verspricht sich (im doppelten Sinne) zwangsläufig, es lässt aufscheinen, was gerade nicht mehr sichtbar werden soll. Nicht nur ruft das Versprechen sein Scheitern als Bedingung hervor, sondern auch das Zeugnis selbst beginnt in seiner aporetischen Struktur sichtbar zu werden. Diese zeigt sich hier zunächst in einer ganz besonderen Spezifik: Die Singularität ihres Sprechens, die Elizabeth betont, eben genau das Moment, das sie aus der Kette der Ahnen unterscheidbar werden lässt, kann als dieses Sprachereignis („the whole Empire listening“) nur medial hergestellt werden, es ist damit auf die Reproduktion der erhobenen Stimme, auf die Wiederholbarkeit des Situativen angelegt. Die spezifische Singularität des Zeugnisses konstituiert sich hier auf paradoxe Weise nur mit Mitteln („the inventions of science“), deren Eigenschaft es gerade ist, genau eine solche Singularität des Sprechens sofort zu destruieren, die sie als Zu-Bezeugendes herstellen sollen. Ist es (auch in der juridischen Ordnung des Zeugnisses) immer die Präsenz des Zeugens während seiner Aussage, die zur Akkreditierung des Zeugnisses gehört, so potenziert hier die mediale Vermittlung der Rundfunkübertragung dieser Präsenz jene grundlegende Aporie, die einem jeden Zeugnis eingeschrieben ist. Zu dieser hat Jacques Derrida formuliert:
Da, wo ich Zeugnis ablege, bin ich einmalig und unersetzbar. Und an der Spitze dies...