Kapitel 1
Berlin – Hauptstadt der DDR
1. Oktober 1989
Der Sprung auf das Fis kommt sauber und klar, und er hält den Ton, zwei ganze Noten lang, bis Schmiedel kurz nickt. Leo stützt sich auf sein rechtes Bein, er steht bestimmt schon eine Stunde, na ja, vielleicht noch keine ganze. Jetzt hat er achtzig Takte Pause. Diese Schenker-Oper hat es in sich, und sie sind mit der Generalprobe nicht einmal zur Hälfte durch.
Ob Fabi wirklich kommt? Er hat es versprochen, aber das ist schon lange her, und jetzt ist so viel los mit den Menschen in Prag und in Ungarn und wo sonst noch. Kai sitzt bestimmt im Zug, der hat es gut, im Zug Richtung BRD. Mama wollte gestern, dass sie alle für ihn beten, sie war immerzu aufgeregt, nicht zu ertragen, und Papa hat den ganzen Morgen versucht, Fabi am Telefon zu erreichen, wollte wissen, ob er Kai in der Tagesschau erkannt hat und ob es auch wirklich okay ist, wenn Kai jetzt nach Bonn kommt, zu Fabi und Marie. Doch Papa ist nicht durchgekommen, immer war besetzt. Kai in der Tagesschau, das ist doch mal was! Aber in Dresden kann ja keiner die Tagesschau sehen, und woanders kennt niemand Kai, also war das eigentlich gar nicht so wichtig.
»Du singst wirklich den jungen Robespierre? Ist ja stark«, hatte Fabi gesagt. Das war beim letzten Treffen im Mai. »Und du singst das in Berlin? Das hör ich mir an, Leo, da komm ich! Versprochen!«
Papa meinte ja heute Morgen, er solle bloß nicht traurig sein, wenn Fabi am Ende doch nicht kommt. Dass Papa da sein wird, ist schon lange klar. Er hat sich für den Tag extra freigenommen. Aber Mama wird’s wohl nicht schaffen, die ist schon ganz früh zum Bahnhof, zusammen mit Oma, beide wollten Kai sehen, im Zug nach’m Westen, aber Papa meinte, dass sie gar nicht bis zum Bahnhof durchkommen würden, da sei überall Polizei. Trotzdem sind sie losgefahren. Mama hatte Tränen in den Augen, na ja, Onkel Kai ist ihr Bruder und der hatte schon immer so verrückte Ideen, sagt Oma. Nach’m Westen machen wollte der schon lange, hat Papa gesagt, als er ihn in der Früh zur Schule brachte, zum Bus nach Berlin.
Jetzt fiepen die Geigen. Leo stellt sich schnell wieder gerade hin, schaut auf Schmiedel. Sechs Takte noch, Füße ein wenig gespreizt, fester Stand, atmen, da kommt sein zweifaches »Oh weh«, auf dem schlichten A, dann langes G, keine Schwierigkeit, das ist noch nie schiefgegangen.
»Ich hab’s ihm versprochen, Marie, dann muss ich es auch halten. Leo darf ich nicht enttäuschen.« Marie nickt langsam, nickt irgendwie bedeutungsvoll, denkt Fabian, sie sagt aber nichts, überholt zwei Lastwagen. Es ist normaler Verkehr auf der A59, sie werden es rechtzeitig schaffen. Vielleicht hat das Flugzeug ja Verspätung. Er hasst es, spät dran zu sein, und diesmal ist es allein seine Schuld. Die Ausarbeitung für das neue Programm hätte er heute Morgen besser nicht anrühren sollen, warum hat er nicht in aller Ruhe mit Marie gefrühstückt, mit ihr noch einmal über Prag gesprochen wie gestern Nacht, noch einmal über Kai, der wahrscheinlich genau in diesen Stunden in Richtung Westdeutschland unterwegs ist, der wohl schon bald vor der Tür stehen wird. Stattdessen hat er im Bad lange getrödelt, hat Radio gehört, das Neueste aus Prag, der erste Zug durch Dresden, hat sich dann an den Schreibtisch gesetzt, sich einen starken Kaffee gemacht und erste Eckpunkte zu dem neuen Förderprogramm zu Papier gebracht, bis Marie plötzlich im Zimmer stand und sagte »Hattest du nicht die Ein-Uhr-Maschine gebucht?«
Jetzt biegen sie in die Abfahrt zum Flughafen ein. Marie hat geschwiegen, seit sie losgefahren sind. Wahrscheinlich ist sie sauer, dass er schon wieder unterwegs ist. Er sieht auf die Uhr: 12 Uhr 20, das müsste reichen, er hat ja kein Gepäck zum Aufgeben, lediglich die Tasche mit dem Zeug für eine Nacht, da muss er sich am Schalter nur die Bordkarte geben lassen.
»Wenn Kai anruft, Marie, sag ihm bitte, wir schicken ihm alles Geld, was er braucht für den Zug zu uns nach Bonn, und mach ihm ein bisschen Mut.«
Marie nickt und murmelt etwas wie »haben wir doch alles besprochen«.
»Die werden ihn wahrscheinlich erst mal in irgendein Auffanglager schicken, bestimmt nach Gießen wie früher, und sag ihm, dass er so schnell wie möglich von dort zu uns kommen kann.«
»Es sei denn, er hat woanders schon ne bessere Bleibe. Was wissen wir über Kais Westkontakte.«
Fabian entscheidet, besser nicht zu antworten. Er weiß, die Aussicht auf einen DDR-Flüchtling in ihrer Wohnung erfüllt Marie nicht gerade mit unbändiger Freude. Und Kai ist wahrlich kein einfacher Typ. Aber er weiß auch, dass Kai keine aufnahmebereiten Freunde im Westen hat außer ihm und Marie, und er kennt Maries Stimmungen. Wahrscheinlich hat sie heute Morgen ihre Periode bekommen. Dabei waren sie die letzten Tage schon voller Hoffnung gewesen.
Pünktlich um 14 Uhr 15 landet die Maschine der British Airways auf dem Flughafen Tegel. Er nimmt Bus und Bahn zur Uhlandstraße. An der Station steht ein Junge mit der Sonderausgabe der B. Z., »5000 auf dem Weg in die Freiheit«, ruft er. Fabian holt eine Mark aus der Hosentasche und überfliegt den Artikel. Während er weitergeht zu der Pension, in der er in Berlin immer absteigt, überfluten ihn plötzlich alte Bilder: Er mit Till auf der allerersten Reise nach Dresden im alten Käfer von Tante Laura, die Herzlichkeit von Gabi und Ekkehard, Anne, ihre Augen, ihr Mund, sie war zwanzig wie er, die Moritzburger Teiche … Er versucht, den Film anzuhalten, vergeblich. Die Tour mit Anne und TK auf den Pfaffenstein, TK mit der Gitarre, der junge Kai, fast noch ein Kind. Leos Taufe, Ekkehard im See, die Wanderung mit Till durch den Ostharz, die Sauna in Quedlinburg … Er sieht sich, wie er in Amerika Ansichtskarten an Anne und Kai schreibt, hört Gabis Stimme am Telefon mit der Nachricht von Kais Scheitern, Anne fährt Wasserski am Plattensee, Kais Geweih in der WG, er zusammen mit Marie in Pillnitz, wieder die Teiche von Moritzburg, die Umweltgruppe, der Superintendent in der kleinen Kirche, Gabis Tränen …
Er stoppt, atmet tief durch. Er steht vor dem Geschäft eines Juweliers auf dem Ku’damm und blickt geradewegs in einen Spiegel im Schaufenster, der sein Bild wiedergibt. Irgendwo hat er gelesen, dass Menschen in der Stunde ihres Todes einen Lebensfilm in ihrem Innern ablaufen sehen. Aber es ist nicht die Stunde seines Todes. Er ist an einem besonderen Tag unterwegs, einem Tag, an dem 5000 Menschen aus der DDR ganz legal in den Westen ausreisen und damit das tun, was sich so viele in Ostdeutschland wünschen.
Er hält kurz inne. Sind diese Züge der Höhepunkt oder nur der Anfang einer Entwicklung? Was wird als Nächstes passieren? Werden Honecker und seine Truppe das »Staatsgefängnis DDR« öffnen? »Staatsgefängnis«, das ist Kais Wort, und Kai ist anders als sein Vater Ekkehard, der will gar nicht in den Westen »rübermachen«, der will, dass sich die DDR ändert, dass sie seine DDR wird. Auch Gabi will eigentlich nicht weg aus Dresden, wie oft hat sie im Mai »das ist doch mein Dresden« gesagt. Er streicht sich mit der Hand über die Stirn, er hatte gedacht, Schweiß hätte sich da angesammelt, aber die Stirn ist trocken. Jetzt lächelt er wie zur Entschuldigung in sein Spiegelbild, fährt sich mit der Hand einmal durchs Haar und geht weiter. Allzu viel Zeit hat er nicht mehr. In der Pension erklärt er der Zimmerwirtin, dass er erst gegen Mitternacht zurück sein werde. Vielleicht sogar später.
Es ist schon vier, als er in die S-Bahn Richtung Friedrichstraße steigt. Annes Einladung zum Besuch der neuen Oper des Komponisten Friedrich Schenker hat er in der Tasche. »Sei nicht enttäuscht«, hat sie geschrieben, »Die Gebeine Dantons am 1. Oktober ist eine konzertante Produktion, die eigentliche Oper soll später als Radio-Oper aufgeführt werden, ist gerade erst fertig geworden, und Leo ist wahnsinnig stolz, dass er den Robespierre singen darf.« Eine Radio-Oper hat er noch nie gehört, der Begriff selbst war ihm bisher unbekannt.
Ob es ein Problem geben wird mit dem Eintagesvisum am Bahnhof Friedrichstraße? Die Situation seit gestern Abend ist irgendwie anders, schwebend, unklar. Wenn jetzt alle DDR-Bürger aus der Botschaft in Prag nach Westdeutschland einreisen dürfen, und das ganz legal in Sonderzügen durch die DDR, durch Dresden, dann werden doch sicher schon heute die Nächsten starten, werden in die Tschechoslowakei fahren und morgen in Prag die westdeutsche Botschaft stürmen. Dann wollen die auch alle legal in den Westen. Das ist doch vorherzusehen. Es sei denn, Honecker macht die Grenzen zur Tschechoslowakei dicht. Er schaut aus der Bahn auf den Grenzstreifen, auf dem zwei Soldaten in einem russischen Jeep Patrouille fahren. Wo soll das enden? Und wird das den Übergang in der Friedrichstraße jetzt irgendwie gefährden? Plötzlich geschlossen?
Er sieht sich in der S-Bahn um. Von unklarer Lage ist nichts zu spüren. Die allermeisten sind Rentner, schweigende alte Leute auf dem Rückweg nach Ostberlin, daneben ein paar Touristen, nichts Revolutionäres. Einer der Rentner hat einen Anstecker oben am Mantel: eine geschwungene 40 auf der Flagge der DDR. In wenigen Tagen wird Gorbatschow in Ostberlin sein. Gabi hatte im letzten Brief geschrieben, sie freue sich, dass Gorbatschow die DDR zum 40. Jahrestag besuche, »und wir hoffen alle, dass die Feier eine schöne Feier wird ohne Aufregung.« Gabi ist seit Langem überzeugt davon, dass ihre Briefe in den Westen geöffnet werden. Fabian weiß, wie er die Anspielung verstehen muss.
Gestern Abend ging es auch in den Tagesthemen darum, wie die DDR-Führung sich verhalten werde, sollte es bei Gorbatschows Besuch zu lauten Glasnost- und Perestroika-Rufen oder gar zu handgreiflichen Protestaktionen kommen. Der Kommentator war sich sicher, dass die Furcht vor möglichen Aufständen bei Gorbatschows Besuch Honecker überhaupt erst zur Ausreisegenehmigung für die Menschen in der Botschaft verleitet habe. Gabi hatte ihren Brief mit einer Sorge beendet: »Kai leidet im Moment wieder unter großer Nervosität, du kennst ihn ja, ich bete, dass er nicht zu unruhig wird und nicht sein Heil abseits von uns sucht.« Er wusste gleich, was das bedeutet. Kai ist nun einmal im wahrsten Sinne des Wortes verwundet, seit zehn Jahren schon. Vor acht Tagen kam dann das Telegramm: »K in Botschaft.«
Heute Abend, vor dem Konzert, wird er von Thorsten oder Anne mehr erfahren. Sie zu treffen erscheint ihm jetzt wichtiger, als eine gerade zu Ende komponierte Radio-Oper zu hören, die wahrscheinlich von schräger Zwölftonmusik nur so strotzt. Gut, Leo singt, singt den Robespierre, da wird er, sein Westonkel, tapfer alle Dissonanzen ertragen. Er hätte aber zu Hause noch nachlesen müssen, was es denn mit Robespierre auf sich hat, blöd, dass er das vergessen hat. Wie war das noch mal bei Büchner?
Danton war am Ende tot, ermordet in der Badewanne, nein, das war Marat. Und was geschah mit Robespierre? Den haben sie doch auch hingerichtet. Er sollte das eigentlich wissen, Französische Revolution, die Mutter aller Revolutionen! Nur gut, es wird heute Abend bestimmt ein Programmheft geben mit dem geschichtlichen Hintergrund. Sicher ganz interessant, das aus DDR-Sicht zu erfahren. Die S-Bahn hält im Bahnhof Friedrichstraße. Wie üblich laufen DDR-Grenzsoldaten mit Maschinengewehren die Bahnsteige entlang.
»Herr Dr. Schlüter, was genau machen Sie beruflich?« Der Grenzbeamte ist jünger als er, die graue Uniformjacke mindestens eine Nummer, die Militärkappe auf dem Kopf zwei Nummern zu groß. Das ist fast immer so bei diesen DDR-Grenzern, denkt Fabian, der Schlips ist korrekt gebunden, Anrede wie üblich mit Titel. »Ich meine, Herr Doktor, was arbeitet ein Stiftungsreferent in Bonn bei der Karl-von-Mellinghaus-Stiftung?«
Oh je, denkt Fabian, da hat er schon eine Dreiviertelstunde in der Schlange warten müssen, weil die wieder zu wenige Schalter geöffnet haben, gerade mal zwei, obwohl es in diesem Durchgang sechs Schalter gibt, alle aus herrlichem Resopal gezimmert oder besser: zusammengeklebt, aber bei vieren ist der Vorhang vorgezogen. Die alte Frau vor ihm war nach einer halben Stunde Stehen kurz davor, zusammenzubrechen. Und jetzt noch diese unnötige Frage. Dennoch setzt er an, dem Grenzer freundlich zu erklären, was seine Berufsbezeichnung bedeutet. Während er spricht, sieht er immer mal wieder hoch in den Spiegel, der über der Glasscheibe hängt, bemerkt dicke Schuppen auf dem schwarzen Haar des Grenzers, das drei Zentimeter lang und sorgfältig geschnitten unter dem Käppi hervorsieht. Er betrachtet am oberen Rand des Spiegels sein eigenes Haar, die kahle runde Stelle in der Mitte, fast schon eine Tonsur, dabei ist er doch gerade erst vierunddreißig, da kann er doch nicht schon eine Glatze bekommen! Marie hat auch schon gefrotzelt.
Doch jetzt fordert der Grenzer wieder seine Aufmerksamkeit. »Nein, nein, das Geld kommt nicht von der Bundesregierung, sondern vom Stifter selbst, der hat das vor seinem Tod gewidmet und angelegt, und von den Zinsen bezahlen wir die Förderung.« So ganz blond ist sein Haar auch nicht mehr, spielt schon seit Jahren immer mehr ins Hellbraune. Die runde Nickelbrille, die sich in der Glasscheibe zwischen ihm und dem Grenzer spiegelt, gefällt ihm, sie passt zu seinem Gesicht, gibt ihm diesen gewissen Anstrich eines Intellektuellen. »Wir fördern Sozial- und Geisteswissenschaftler für besonders aufwendige Forschungsarbeiten, vor allem junge, die gerade ihre Promotion fertig haben, sogenannte Postdoktoranden, und Habilitanden, die Professor werden wollen.« Es war richtig, heute Morgen den dunkelblau gestreiften Binder zu nehmen, der ist wirklich schick, ein Geschenk von Marie zu seinem Geburtstag, so ein Binder gibt eine gewisse Seriosität, das spürt er, und gemeinsam mit dem Doktortitel wird diese Seriosität hoffentlich reichen, dass er bald, ganz bald hier fertig ist. Vor vier Wochen hat er Margot in Marzahn besucht, da haben die nicht so viel gefragt und nicht so lange gebraucht.
»Nein, vor allem Sozialwissenschaftler und Politikwissenschaftler, aber mitunter fördert die Karl-von- Mellinghaus-Stiftung auch Philosophen.«
Der junge Grenzer schaut ihn länger an, wiederholt »Philosophen« und blättert wieder in seinem Pass.
»Ich seh hier, Sie waren schon häufiger in der DDR, Herr Doktor?«
»Ja, ich habe gute Freunde in Dresden und hatte bis zu seinem Tod auch noch einen alten Onkel im Harz, dessen Tochter Margot hier in Marzahn wohnt, ich war vor vier Wochen bei ihr. Ich fahre gern in die DDR.«
Der letzte Satz ist vielleicht etwas dick, denkt Fabi, war ihm einfach so rausgerutscht. Aber irgendwie stimmt es auch.
»Besuchen Sie diese Tochter Ihres Onkels auch heute?«
»Nein, ich habe eine Einladung zur Uraufführung einer Oper im Französischen Kulturzentrum.«
»Sie wissen von Ihren früheren Besuchen, dass Sie 25 DM in Mark der DDR umtauschen müssen. Falls Sie darüber hinaus Mark der DDR benötigen, muss ich Sie daraufhinweisen, dass Sie dies nur jetzt hier oder bei den offiziellen Filialen der Staatsbank umtauschen dürfen.«
Fabian...