Im Schlaraffenland
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Im Schlaraffenland

Ein Roman unter feinen Leuten

  1. 543 Seiten
  2. German
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Im Schlaraffenland

Ein Roman unter feinen Leuten

Über dieses Buch

In seinem ersten Roman hat Heinrich Mann zugleich auch sein Lieblingsthema gefunden: die korrupte Gesellschaft zu Zeiten Kaiser Wilhelms II.

Der Roman zeichnet Aufstieg und Fall des aus einfachen Verhältnissen stammenden und leidlich talentierten Möchtegern-Literaten Andreas Zumsse. Bedingt durch Glück und Beziehungen steigt er in der wilhelminischen Gesellschaft von Reichtum und Macht auf. Aber die Etablierten verzeihen ihm seinen Erfolg nicht. Und durch eigene Hybris und einem Hang zu Ränkespielen hat Zumsse schon bald seinen Zenit überschritten und sieht sich schlussendlich wieder auf dem Weg zurück nach unten.

Jahre später schrieb Mann in einem Brief über seinen Roman: "Mit 20 konnte ich gar nichts. Gegen 30 lernte ich an meinem Schlaraffenland die Technik des Romans."

Null Papier Verlag

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Information

Auflage
3

X. Das Vergnügen, die Menschen zu durchschauen

Die nächs­ten vier­und­zwan­zig Stun­den ver­brach­te An­dre­as mit dump­fem Kopf, trü­be in die Zu­kunft bli­ckend und in ner­vö­ser Er­war­tung Adel­heids. Sie kam erst am Tage dar­auf, eine ver­le­ge­ne Freu­de auf dem Ge­sicht, die sich noch nicht zu äu­ßern wag­te.
»Den­ke dir«, ver­setz­te sie, ihre Wan­ge dicht an der sei­ni­gen, »wie ich mich ge­ängs­tigt habe.«
»Ge­ängs­tigt?«
»Ja, und we­gen dei­nes Gel­des.«
»Ah!«
Er hat­te die­se An­ge­le­gen­heit ganz ver­ges­sen, nun är­ger­te sie ihn aufs neue.
»Du woll­test mir doch einen Toi­let­ten­tisch be­stel­len?«
»Ei­nen Tisch? Ach ja –«
Sie muss­te sich erst be­sin­nen.
»Ja­wohl, der Tisch war schon ver­kauft, und einen an­de­ren pas­sen­den habe ich nicht ge­fun­den. Weißt, Herz­chen, für dich bin ich wäh­le­risch. Da habe ich denn ge­dacht, ob ich dei­ne hun­dert Mark nicht bes­ser an­le­gen könn­te.«
»Nun?« frag­te An­dre­as miss­trau­isch.
Aber sie war im Zuge und sag­te ihre Sät­ze her, als habe sie sie aus­wen­dig ge­lernt.
»Und schließ­lich habe ich auch was ge­fun­den, wenn ich es mir auch sehr über­le­gen muss­te. Denn es war ge­fähr­lich, und dein Geld konn­te da­bei ver­lo­ren­ge­hen. Ich habe es also Türk­hei­mer ge­ge­ben.«
»Türk­hei­mer?«
»Ja, Türk­hei­mer. Ich gebe ihm näm­lich mit­un­ter was von mei­nem Ei­ge­nen, wenn ich ge­ra­de für et­was kei­ne Ver­wen­dung weiß. Er spielt dann da­mit an der Bör­se. Manch­mal ge­win­ne ich, manch­mal ver­lie­re ich auch. Da habe ich denn dei­ne hun­dert Mark dazu ge­legt und mir von ihm eine Texas Bloo­dy Bank-Ak­tie be­sor­gen las­sen. Die kauft jetzt je­der.«
»Ken­ne ich schon. Es wird schau­der­haft viel dar­an ver­dient.«
»Na, siehst du! Da sind näm­lich wie­der Gold­mi­nen ent­deckt. Und heu­te stand das Pa­pier rich­tig schon so viel hö­her, dass ich lie­ber ver­kauft habe, aus Vor­sicht, und um gleich bar Geld in die Hand zu be­kom­men, weißt du.«
Sie drück­te, so oft sie zu spre­chen auf­hör­te, eine Men­ge klei­ner wei­cher Küs­se auf sein lin­kes Ohr­läpp­chen.
»Es eilt ja nicht«, sag­te er mit vor­neh­mer Hand­be­we­gung.
»Nun hat dei­ne Bank­no­te Jun­ge ge­kriegt. Na­tür­lich hat­test du nur ein Fünf­te­lan­teil von der Ak­tie, und du hät­test ja auch al­les ver­lie­ren kön­nen. Oh, ein Dich­ter kann von sol­chen Din­gen nichts ver­ste­hen, sie sind zu tief un­ter ihm. Aber mit Gold­mi­nen ist es im­mer man so, und Fried­rich Wil­helm Schme­er­bauch, der hier der Haupt­ma­cher ist, ver­kracht doch noch mal, sagt Türk­hei­mer, aber es darf noch kei­ner hö­ren. So lan­ge wie’s dau­ert, stei­gen Texas Bloo­dy Gold Mounts im­mer lus­tig wei­ter.«
»Ein schö­ner Name!« mein­te An­dre­as. »Ist der Berg ganz aus Gold?«
Adel­heid zuck­te die Ach­seln.
»Türk­hei­mer meint, über so was müs­se man sich den Kopf nicht zer­bre­chen. Texas ist so weit weg. Aber ge­fähr­lich war das Ge­schäft, das kannst du glau­ben. Du hast kei­ne Ah­nung, wie sie einen manch­mal hin­ein­le­gen. Ich gehe mit Türk­hei­mers In­for­ma­tio­nen ja ziem­lich si­cher, aber es hät­te dich trotz­dem dein Geld kos­ten kön­nen, weißt du.«
Sie sag­te im­mer wie­der das­sel­be und sah ihn zärt­lich bit­tend da­bei an. Als sie ihm die über­stan­de­ne Ge­fahr ge­nü­gend klar­ge­macht zu ha­ben glaub­te, wag­te sie es, aus ih­rem Pelz­muff eine klei­ne le­der­ne Brief­ta­sche her­vor­zu­zie­hen. Sie brach­te sie ihm mit schüch­ter­nen Zick­zack­be­we­gun­gen un­ter die Au­gen, und erst nach­dem er an den An­blick des Ge­gen­stan­des ge­wöhnt schi­en, leg­te sie die­sel­be am Ran­de des Schreib­ti­sches nie­der. An­dre­as sah leicht er­rö­tend zur Sei­te.
»Die Be­kannt­schaft mit dir kann ei­nem schlecht be­kom­men«, ver­setz­te er. »Wenn ich mein biss­chen Geld los­ge­wor­den wäre –«
Er ließ das Schreck­li­che un­aus­ge­spro­chen. Die Ein­tracht und Ver­trau­lich­keit, in der ihre Zu­sam­men­kunft ver­lief, ward meh­re­re Wo­chen lang durch nichts ge­stört. Die wich­tigs­te Fra­ge war er­le­digt, An­dre­as be­saß ein ge­si­cher­tes Ein­kom­men, des­sen er sich nicht zu schä­men brauch­te. Das Bör­sen­spiel warf ge­nug ab, dass man sor­gen­frei da­von le­ben konn­te. An­fäng­lich wun­der­te er sich wohl, wenn aus ei­nem Hun­dert­mark­schein, den er Adel­heid an­ver­traut hat­te, im Lau­fe ei­ner Wo­che vier oder fünf ge­wor­den wa­ren. Er ver­tief­te sich in die Lek­tü­re der Bör­sen­blät­ter, doch ver­wirr­te sie ihn, und er ver­zich­te­te bald auf das Ver­ständ­nis von Din­gen, die sei­ner un­wür­dig wa­ren, wie die Ge­lieb­te ihm wie­der­holt ver­si­cher­te. Fort­an be­gnüg­te er sich da­mit, die ge­won­ne­ne Sum­me, die sie ihm un­ter dis­kre­tem Ver­schluss über­reich­te, mit ge­schäfts­mä­ßi­ger Leich­tig­keit in die in­ne­re Ta­sche sei­nes Jacketts glei­ten zu las­sen. Wo­her das Geld kam, moch­ten die wis­sen, die im Schla­raf­fen­land das Re­gi­ment führ­ten. Hier, wo die Gold­stücke auf un­be­greif­li­che Wei­se un­ter den Mö­beln um­her­roll­ten, trug nie­mand eine per­sön­li­che Verant­wort­lich­keit; man leb­te un­ter der Hand ei­ner hö­he­ren Fü­gung.
Eine lei­se Ver­stim­mung war nur dann zu füh­len, wenn Adel­heid sich nach sei­nem Dra­ma er­kun­dig­te. Sie fand ihn in sei­nem hä­re­nen Klei­de an sei­nem fich­te­nen Tisch, un­ter dem blu­ti­gen Chris­tus, den Kopf in die Hän­de ge­stützt.
»Das Per­so­nen­ver­zeich­nis ist na­he­zu fer­tig«, ver­kün­de­te er.
»Ah!«
»Die Hel­din heißt Hil­de­gard Trent­mö­ni­chen, auch nach ih­rer Ver­hei­ra­tung ver­langt sie, so ge­nannt zu wer­den. Es ist ein aus­drucks­voll ro­man­ti­scher Name, fin­dest du nicht?«
»Wun­der­hübsch! Wie kommst du nur auf so was?«
»Es hängt so viel von stim­mungs­vol­len Na­men ab. Der Mann ist roh ma­te­ria­lis­tisch, ein Bier­hu­ber. Er heißt Alois Pfaunds­teiß­ler.«
»Und die große Sze­ne, von der du mir neu­lich er­zählt hast?«
An­dre­as griff sich mit ge­spreiz­ten Fin­gern in die Haa­re.
»Es ist ein Ver­häng­nis. Die­de­rich Klemp­ner hat sie schon ir­gend­wo ge­macht.«
»Die­ser Klemp­ner ist ja ein un­aus­steh­li­cher Mensch!«
»Was willst du? Die Leu­te aus Schle­si­en und Po­sen sind ei­nem über­all im Wege. Sie ma­chen heut­zu­ta­ge das Gan­ze.«
Er zuck­te die Ach­seln.
»Die neu­deut­sche Kul­tur hat nun mal was Öst­li­ches.«
Auf die­sen Ge­dan­ken kam er häu­fig zu­rück, in ein­sa­men Stun­den, wenn er an sei­nem Wer­ke zu zwei­feln be­gann. Liz­zi Laffé hat­te im Grun­de recht ge­habt, die ver­kann­te oder die be­frei­te Frau lag bei­na­he schon im Rinn­stein, so tief war sie in­fol­ge des Miss­brauchs ge­sun­ken, den die Leu­te aus Po­sen und Schle­si­en mit ihr ge­trie­ben hat­ten. Die­se be­sa­ßen eben die Schwer­fäl­lig­keit und den Fa­na­tis­mus nied­ri­ger Kul­tur­stu­fen; auf den hö­he­ren galt eine leich­te Skep­sis. Man nahm nichts ernst, und am we­nigs­ten grei­nen­de Wei­ber, bei de­nen es am Ende nur auf das eine, Be­wuss­te an­kam. Ein ge­wich­ti­ges Dra­ma wa­ren sie nicht wert, er be­schloss, sie von oben her­ab zu be­han­deln. Er wand­te sich um und be­ob­ach­te­te im Spie­gel ein Sie­ger­lä­cheln auf sei­nen Lip­pen.
Dann schrieb er in ei­nem Rau­sche jä­her Be­geis­te­rung das poe­ti­sche Selbst­ge­spräch ei­nes Gat­ten nie­der, der sich über die bei sei­ner Frau plötz­lich ein­ge­tre­te­ne see­li­sche Lee­re wun­dert und sie ver­ge­bens zu be­grei­fen sucht. Der Re­frain lau­te­te:

»Wer möch­te sie denn auch ent­wirr’n,
Die Rät­sel in dem klei­nen Hirn!«
Die letz­te Stro­phe war aus­ge­spro­chen un­an­stän­dig, was An­dre­as vor­über­ge­hend be­un­ru­hig­te. Doch er­in­ner­te er sich dar­an, dass er auf das Pub­li­kum von »Ra­che!« zu wir­ken habe. Wirk­lich nahm Adel­heid, der er sein Werk mit­teil­te, nicht den ge­rings­ten An­stoß dar­an. Sie zeig­te sich stür­misch be­wegt von den Schön­hei­ten des Ge­dich­tes, pro­phe­zei­te dem Dich­ter die höchs­ten Ehren und eine strah­len­de Zu­kunft und ent­fal­te­te, an­ge­facht durch die Be­wun­de­rung sei­nes Ge­ni­us, eine so hei­ße Lei­den­schaft, dass sie ihn mit sich riss wie in den ers­ten Ta­gen ih­rer Lie­be.
Dann fiel ihr ein, dass ein Dar­stel­ler be­schafft wer­den müs­se, um die von An­dre­as er­dach­te Ide­al­ge­stalt zu ver­kör­pern. Es wür­den ei­ni­ge Pro­ben nö­tig sein. Sie be­stimm­te den kom­men­den Frei­tag als Tag der Auf­füh­rung. Wäh­rend ih­res ei­li­gen Ab­schie­des er­mahn­te sie den jun­gen Mann, den die so nahe Aus­sicht auf ein ers­tes per­sön­li­ches Zu­sam­men­tref­fen mit dem Pub­li­kum in Er­re­gung ver­setz­te:
»Blei­be ganz ru­hig, mein Schätz­chen, küm­me­re dich rein um gar nichts, ein Dich­ter muss vor­nehm sein! Ich wer­de schon al­les be­sor­gen. Kom­me mor­gen um drei in die Hil­de­brandt­stra­ße!«
Er ge­wann es über sich, spät zu er­schei­nen. Es hat­ten sich be­reits sechs jun­ge Dich­ter ein­ge­fun­den, de­ren Na­men er über­hör­te, in ei­ner Fas­sungs­lo­sig­keit, die er hin­ter ei­ner un­zu­gäng­li­chen Mie­ne zu ver­ber­gen such­te. Au­ßer­dem fand er ei­ni­ge Freun­de des Hau­ses vor, Herrn und Frau Pim­busch, Frau Be­schee­rer und Frau Mohr. Adel­heid mach­te ihn so­gleich mit der Haupt­per­son des Krei­ses be­kannt, mit Herrn Di­rek­tor Ka­pel­ler. An­dre­as er­kann­te ihn wie­der: es war der run­de, be­weg­li­che Mensch, der sich da­mals auf der großen Soi­ree so ge­fäl­lig durch die tanz­lus­ti­ge Men­ge und bis ans Kla­vier vor­ge­drängt hat­te. Ge­fäl­lig­keit schi­en in Ka­pel­lers We­sen der Haupt­zug zu sein. Er war über­all zu­ge­gen, wo man ihn mög­li­chen­falls ge­brau­chen konn­te. Er horch­te auf­merk­sam und den­noch dis­kret um­her, lausch­te der öf­fent­li­chen Mei­nung ihre Lau­nen ab und ver­stand es, sich ihr un­ent­behr­lich zu ma­chen. Unauf­dring­lich, aber un­wi­der­steh­lich wuss­te er sich den Mäch­ti­gen stets aufs neue in Erin­ne­rung zu brin­gen, ein­fach durch sei­ne Ge­gen­wart. Falls ein­mal ir­gend­ein ein­träg­li­cher Pos­ten an den ers­ten, der sich ein­fand, ei­lig zu ver­ge­ben sein soll­te, so muss­te Ka­pel­ler ihn be­kom­men; denn er war im­mer bei der Hand.
Wie sein Ti­tel zu ver­ste­hen gab, hat­te er, ver­mut­lich in wei­ter Fer­ne, ein­mal ein Thea­ter ge­lei­tet. Was man hier von ihm ver­lang­te, schlug in sein Fach; er be­mäch­tig­te sich so­fort mit großer Si­cher­heit der Lage.
»Mei­ne sehr ge­ehr­ten Herr­schaf­ten«, sag­te er mit fet­ter, sanf­ter Stim­me. Er säch­sel­te leicht und schi­en sich selbst dar­über lus­tig zu ma­chen.
»Wenn es Ih­nen recht ist, über­neh­me ich die Re­gie, und die von Herrn Zum­see so schön ge­dich­te­te Rol­le kann ich auch be­fin­gern, ich mei­ne kre­ie­ren. Ich habe näm­lich von frü­her her, als ich in Leit­me­ritz ei­ner Spe­zia­li­tä­ten­büh­ne vor­stand, Übung in dem Gen­re. Das heißt, so­fern –«
Er un­ter­brach sich, da er Frau Pim­busch ki­chern sah.
»Wor­über lacht denn die sehr ge­ehr­te Dame? Über die Spe­zia­li­tä­ten­büh­ne? Dann darf ich wohl sa­gen: La­chen Sie nicht! Die Spe­zia­li­tä­ten­büh­ne ist näm­lich in halb­wil­den Ge­gen­den ein Kul­tur­fak­tor ers­ten Ran­ges, und wird die­sel­be mit Er­folg zur He­bung von Sitt­lich­keit und Kunst­ge­schmack be­nutzt. Ich habe also Übung in dem Gen­re, das heißt, so­fern hier über­haupt von Gen­re die Rede sein kann, denn das von dem Herrn An­dre­as Zum­see Ge­schaf­fe­ne scheint mir in der Tat et­was ganz Ein­zig­ar­ti­ges, und wenn ich so sa­gen darf, noch nie Da­ge­we­se­nes zu sein. Ein Meis­ter­werk, das von so neu­en und so un­ge­ahn­ten Schön­hei­ten wim­melt, dürf­te wohl nur schwer und auch dann noch un­voll­kom­men aus­zu­schöp­fen sein.«
Er bläh­te sich in brei­tem Be­ha­gen, voll­führ­te eine run­de, ge­win­nen­de Arm­be­we­gung und klapp­te mit sei­ner klei­nen, fet­ti­gen Hand ein paar­mal durch die Luft, als an­gel­te er nach noch greif­ba­re­ren Lo­bes­er­he­bun­gen. Plötz­lich schob er sei­ne wuls­ti­ge Un­ter­lip­pe hin­ter die Zäh­ne zu­rück, leg­te den Kopf auf die lin­ke Schul­ter und um­schlang Adel­heid und An­dre­as, die ne­ben­ein­an­der stan­den, mit ei­nem un­ver­schämt zärt­li­chen Blick. Nun­mehr war Ka­pel­ler sei­nes Er­fol­ges ge­wiss. Er hat­te die bei­fäl­li­ge Hei­ter­keit der Da­men er­regt, Frau Türk­hei­mers zar­tes­ten Ge­füh­len wohl­ge­tan, und An­dre­as’ Au­to­re­nei­tel­keit, so an­spruchs­voll sie sein moch­te, hat­te er den­noch be­frie­digt. Mehr konn­te man von ihm nicht ver­lan­gen. Die sechs Dich­ter, die sich scheu in einen Win­kel dräng­ten, ka­men nicht in Be­tracht, er be­han­del­te sie mit mil­der Ver­ach­tung und schob ihre Ma­nu­skrip­te acht­los in sei­ne wei­ten Ta­schen. Er wuss­te wohl, wozu man ihn ge­ru­fen hat­te, und in­des er sich hin­ter ein paar nied­ri­gen Stüh­len wie vor ei­ner Ram­pe auf­stell­te, be­gann er be­reits das Selbst­ge­spräch des ver­wun­der­ten Ehe­man­nes her­zu­sa­gen. Er skan­dier­te be­hä­big die Ver­se, un­ter­strich be­deut­sam die ver­we­ge­nen Ge­dan­ken des Dich­ters und stieß wie je­mand, der den Be­schwer­lich­kei­ten ei­nes ver­wi­ckel­ten Ide­en­gan­ges ent­flieht, mit Trom­pe­ten­stim­me den Re­frain aus:

»Wer möch­te sie denn auch ent­wirr’n,
Die Rät­sel in dem klei­nen Hirn!«
Zu­gleich rann­te er mit jä­her Be­hän­dig­keit zwei-, drei­mal um den als Büh­ne ge­dach­ten Raum. Der run­de Kör­per schi­en sich auf den kur­z­en Bein­chen zu über­ku­geln; es wirk­te ver­blüf­fend. Ka­pel­ler schmun­zel­te ins Pub­li­kum, er wie­der­hol­te jene ge­win­nen­de Ges­te, die die Da­men schon ein­mal ent­zückt hat­te, und er wink­te ih­nen im Lau­fen mit der Hand. Sie war un­wi­der­steh­lich, die­se Hand. Sie glich ei­nem röt­li­chen Weich­tier, das nach Luft schnappt. Plötz­lich stand Ka­pel­ler wie­der an sei­nem Plat­ze und fuhr fort, sanft und be­däch­tig, als sei nichts ge­sche­hen, sei­ne Ein­wän­de ge­gen eine zu weit ge­hen­de Eman­zi­pa­ti­on der Frau­en vor­zu­tra­gen.
An­dre­as hat­te sich an­fangs der ein­zi­gen Sor­ge hin­ge­ge­ben, man möch­te sei­ne kläg­li­che Ver­wir­rung be­mer­ken. Der Wert sei­nes Wer­kes, an den er bis­her so fest ge­glaubt hat­te, war ihm un­ver­mu­tet zwei­fel­haft ge­wor­den. Er er­kann­te sei­ne Ver­se in Ka­pel­lers Mun­de nicht wie­der, er lausch­te ih­nen wie frem­den Klän­gen; doch muss­te er sich ge­ste­hen, dass sie all­mäh­lich im­mer hüb­scher wur­den. Alle An­we­sen­den schie­nen der­sel­ben Mei­nung zu sein, und ihre Stim­mung teil­te sich, ohne dass sie noch Bei­falls­zei­chen von sich ga­ben, dem fein­füh­li­gen Au­tor mit. Als Ka­pel­ler, atem­los, sei­ne drit­te Schnell­läu­fer­übung be­en­det hat­te, emp­fand An­dre­as deut­lich, dass der Er­folg der Dich­tung ge­si­chert sei. Nur noch die aus­ge­spro­che­ne Un­an­stän­dig­keit der letz­ten Stro­phe konn­te ihm ver­häng­nis­voll wer­den, be­son­ders in der von dem Vor­tra­gen­den be­lieb­ten Auf­fas­sung. An­statt näm­lich über die ge­fähr­li­chen Stel­len leicht hin­weg­zuglei­ten, ruh­te Ka­pel­ler sich auf ih­nen mit sei­ner gan­zen Schwe­re aus. Er ver­grub die Hän­de in die Ho­sen­ta­schen, er schob den Bauch vor, er leg­te den Kopf zu­rück, dass die nied­ri­ge Stirn ver­schwand und das Dop­pel­kinn, in vol­ler Brei­te ent­fal­tet, die Stel­le des Ge­sichts ein­nahm. Zwi­schen den Sät­zen streck­te er die Zun­gen­spit­ze her­aus und ließ sie von ei­nem Mund­win­kel in den an­de­ren wan­dern. Nach An­dre­as’ An­sicht ver­kör­per­te Ka­pel­ler den schmut­zigs­ten, ab­sto­ßends­ten Zy­nis­mus. Den­noch er­füll­ten ge­ra­de die Ver­se, die ihm dazu Ge­le­gen­heit ga­ben, ih­ren Schöp­fer mit be­son­de­rem Stol­ze.
Er sah ge­spannt im Krei­se um­her; nur zwei un­ter den sechs Dich­tern wa­ren er­rö­tet. Frau Pim­busch schlug sich mit den Hand­schu­hen auf die Knie, dass es schall­te. Sie hat­te die Au­gen ge­schlos­sen und wand ih­ren lan­gen, dün­nen Hals be­ängs­ti­gend hin und her in dem en­gen Kra­gen, über dem der Kopf gleich ei­ner zu far­ben­präch­ti­gen, ge­dun­se­nen Gift­blu­me schwank­te. Die klei­ne Frau Gold­herz hüpf­te lei­se zwit­schernd durch das Zim­mer, Frau Be­schee­rer, reg­los, ver­such­te die Mie­ne zu ver­zie­hen. Wie ge­wöhn­lich be­weg­ten sich nur die Fal­ten ih­rer Stirn, zwi­schen de­nen der grün­li­che Moos­fleck wie le­bend her­vor­kroch. Frau Mohr lä­chel­te gü­tig, und Pim­busch über­ließ sich, in ab­war­ten­der Hal­tung, der Be­trach­tung sei­ner Fin­ger­nä­gel. Der Ge­samtan­blick des Pub­li­kums war be­ru­hi­gend.
Ka­pel­ler war zu Ende. Er wie­der­hol­te noch­mals den Re­frain, dies­mal nicht im Trom­pe­ten­ton, son­dern mit ver­sa­gen­der Stim­me und mit ei­ner Mie­ne, durch­geis­tigt von mü­der Welt­weis­heit, die ihm nie­mand zu­ge­traut hät­te. Dann nahm er, be­schei­den auf den Dich­ter deu­tend, die Glück­wün­sche ent­ge­gen. Un­ter den An­we­sen­den ver­brei­te­te sich blitz­schnell die Mei­nung, dass man so­eben zwei große Künst­ler ent­deckt habe. Pim­busch, in den erst jetzt Le­ben kam, lief er­regt von ei­nem zum an­de­ren, um über­all nach­zu­for­schen, ob man die Leis­tung des Re­zi­ta­tors ul­tras­mart und die Poe­sie des Herrn Zum­see co­purchic1 und voll­kom­men auf der Höhe fin­de. Nach­dem er sämt­li­che Stim­men ein­ge­sam­melt und sei­ne ei­ge­ne Über­zeu­gung ge­bil­det hat­te, trat er fei­er­lich auf die Künst­ler zu, schüt­tel­te ih­nen in sei­ner sa­kra­men­ta­len Wei­se die Hand und ver­s...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Impressum
  3. Inhaltsverzeichnis
  4. Danke
  5. Anmerkungen zur Bearbeitung
  6. I. Der Gumplacher Schulmeister
  7. II. Das »Café Hurra«
  8. III. Die deutsche Geisteskultur
  9. IV. Türkheimers
  10. V. Ein demokratischer Adel
  11. VI. Die Mittel, mit denen man was wird
  12. VII. Eine Marotte
  13. VIII. »Rache!«
  14. IX. Politik und Volkswirtschaft im Schlaraffenland
  15. X. Das Vergnügen, die Menschen zu durchschauen
  16. XI. Die kleine Matzke
  17. XII. Die leben, die genießen!
  18. XIII. Die hohe Korruption
  19. XIV. Familienrat
  20. XV. Liebling
  21. XVI. Das Bedürfnis nach Reinheit
  22. Das weitere Verlagsprogramm