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X. Das Vergnügen, die Menschen zu durchschauen
Die nächsten vierundzwanzig Stunden verbrachte Andreas mit dumpfem Kopf, trübe in die Zukunft blickend und in nervöser Erwartung Adelheids. Sie kam erst am Tage darauf, eine verlegene Freude auf dem Gesicht, die sich noch nicht zu äußern wagte.
»Denke dir«, versetzte sie, ihre Wange dicht an der seinigen, »wie ich mich geängstigt habe.«
»Geängstigt?«
»Ja, und wegen deines Geldes.«
»Ah!«
Er hatte diese Angelegenheit ganz vergessen, nun ärgerte sie ihn aufs neue.
»Du wolltest mir doch einen Toilettentisch bestellen?«
»Einen Tisch? Ach ja –«
Sie musste sich erst besinnen.
»Jawohl, der Tisch war schon verkauft, und einen anderen passenden habe ich nicht gefunden. Weißt, Herzchen, für dich bin ich wählerisch. Da habe ich denn gedacht, ob ich deine hundert Mark nicht besser anlegen könnte.«
»Nun?« fragte Andreas misstrauisch.
Aber sie war im Zuge und sagte ihre Sätze her, als habe sie sie auswendig gelernt.
»Und schließlich habe ich auch was gefunden, wenn ich es mir auch sehr überlegen musste. Denn es war gefährlich, und dein Geld konnte dabei verlorengehen. Ich habe es also Türkheimer gegeben.«
»Türkheimer?«
»Ja, Türkheimer. Ich gebe ihm nämlich mitunter was von meinem Eigenen, wenn ich gerade für etwas keine Verwendung weiß. Er spielt dann damit an der Börse. Manchmal gewinne ich, manchmal verliere ich auch. Da habe ich denn deine hundert Mark dazu gelegt und mir von ihm eine Texas Bloody Bank-Aktie besorgen lassen. Die kauft jetzt jeder.«
»Kenne ich schon. Es wird schauderhaft viel daran verdient.«
»Na, siehst du! Da sind nämlich wieder Goldminen entdeckt. Und heute stand das Papier richtig schon so viel höher, dass ich lieber verkauft habe, aus Vorsicht, und um gleich bar Geld in die Hand zu bekommen, weißt du.«
Sie drückte, so oft sie zu sprechen aufhörte, eine Menge kleiner weicher Küsse auf sein linkes Ohrläppchen.
»Es eilt ja nicht«, sagte er mit vornehmer Handbewegung.
»Nun hat deine Banknote Junge gekriegt. Natürlich hattest du nur ein Fünftelanteil von der Aktie, und du hättest ja auch alles verlieren können. Oh, ein Dichter kann von solchen Dingen nichts verstehen, sie sind zu tief unter ihm. Aber mit Goldminen ist es immer man so, und Friedrich Wilhelm Schmeerbauch, der hier der Hauptmacher ist, verkracht doch noch mal, sagt Türkheimer, aber es darf noch keiner hören. So lange wie’s dauert, steigen Texas Bloody Gold Mounts immer lustig weiter.«
»Ein schöner Name!« meinte Andreas. »Ist der Berg ganz aus Gold?«
Adelheid zuckte die Achseln.
»Türkheimer meint, über so was müsse man sich den Kopf nicht zerbrechen. Texas ist so weit weg. Aber gefährlich war das Geschäft, das kannst du glauben. Du hast keine Ahnung, wie sie einen manchmal hineinlegen. Ich gehe mit Türkheimers Informationen ja ziemlich sicher, aber es hätte dich trotzdem dein Geld kosten können, weißt du.«
Sie sagte immer wieder dasselbe und sah ihn zärtlich bittend dabei an. Als sie ihm die überstandene Gefahr genügend klargemacht zu haben glaubte, wagte sie es, aus ihrem Pelzmuff eine kleine lederne Brieftasche hervorzuziehen. Sie brachte sie ihm mit schüchternen Zickzackbewegungen unter die Augen, und erst nachdem er an den Anblick des Gegenstandes gewöhnt schien, legte sie dieselbe am Rande des Schreibtisches nieder. Andreas sah leicht errötend zur Seite.
»Die Bekanntschaft mit dir kann einem schlecht bekommen«, versetzte er. »Wenn ich mein bisschen Geld losgeworden wäre –«
Er ließ das Schreckliche unausgesprochen. Die Eintracht und Vertraulichkeit, in der ihre Zusammenkunft verlief, ward mehrere Wochen lang durch nichts gestört. Die wichtigste Frage war erledigt, Andreas besaß ein gesichertes Einkommen, dessen er sich nicht zu schämen brauchte. Das Börsenspiel warf genug ab, dass man sorgenfrei davon leben konnte. Anfänglich wunderte er sich wohl, wenn aus einem Hundertmarkschein, den er Adelheid anvertraut hatte, im Laufe einer Woche vier oder fünf geworden waren. Er vertiefte sich in die Lektüre der Börsenblätter, doch verwirrte sie ihn, und er verzichtete bald auf das Verständnis von Dingen, die seiner unwürdig waren, wie die Geliebte ihm wiederholt versicherte. Fortan begnügte er sich damit, die gewonnene Summe, die sie ihm unter diskretem Verschluss überreichte, mit geschäftsmäßiger Leichtigkeit in die innere Tasche seines Jacketts gleiten zu lassen. Woher das Geld kam, mochten die wissen, die im Schlaraffenland das Regiment führten. Hier, wo die Goldstücke auf unbegreifliche Weise unter den Möbeln umherrollten, trug niemand eine persönliche Verantwortlichkeit; man lebte unter der Hand einer höheren Fügung.
Eine leise Verstimmung war nur dann zu fühlen, wenn Adelheid sich nach seinem Drama erkundigte. Sie fand ihn in seinem härenen Kleide an seinem fichtenen Tisch, unter dem blutigen Christus, den Kopf in die Hände gestützt.
»Das Personenverzeichnis ist nahezu fertig«, verkündete er.
»Ah!«
»Die Heldin heißt Hildegard Trentmönichen, auch nach ihrer Verheiratung verlangt sie, so genannt zu werden. Es ist ein ausdrucksvoll romantischer Name, findest du nicht?«
»Wunderhübsch! Wie kommst du nur auf so was?«
»Es hängt so viel von stimmungsvollen Namen ab. Der Mann ist roh materialistisch, ein Bierhuber. Er heißt Alois Pfaundsteißler.«
»Und die große Szene, von der du mir neulich erzählt hast?«
Andreas griff sich mit gespreizten Fingern in die Haare.
»Es ist ein Verhängnis. Diederich Klempner hat sie schon irgendwo gemacht.«
»Dieser Klempner ist ja ein unausstehlicher Mensch!«
»Was willst du? Die Leute aus Schlesien und Posen sind einem überall im Wege. Sie machen heutzutage das Ganze.«
Er zuckte die Achseln.
»Die neudeutsche Kultur hat nun mal was Östliches.«
Auf diesen Gedanken kam er häufig zurück, in einsamen Stunden, wenn er an seinem Werke zu zweifeln begann. Lizzi Laffé hatte im Grunde recht gehabt, die verkannte oder die befreite Frau lag beinahe schon im Rinnstein, so tief war sie infolge des Missbrauchs gesunken, den die Leute aus Posen und Schlesien mit ihr getrieben hatten. Diese besaßen eben die Schwerfälligkeit und den Fanatismus niedriger Kulturstufen; auf den höheren galt eine leichte Skepsis. Man nahm nichts ernst, und am wenigsten greinende Weiber, bei denen es am Ende nur auf das eine, Bewusste ankam. Ein gewichtiges Drama waren sie nicht wert, er beschloss, sie von oben herab zu behandeln. Er wandte sich um und beobachtete im Spiegel ein Siegerlächeln auf seinen Lippen.
Dann schrieb er in einem Rausche jäher Begeisterung das poetische Selbstgespräch eines Gatten nieder, der sich über die bei seiner Frau plötzlich eingetretene seelische Leere wundert und sie vergebens zu begreifen sucht. Der Refrain lautete:
»Wer möchte sie denn auch entwirr’n,
Die Rätsel in dem kleinen Hirn!«
Die letzte Strophe war ausgesprochen unanständig, was Andreas vorübergehend beunruhigte. Doch erinnerte er sich daran, dass er auf das Publikum von »Rache!« zu wirken habe. Wirklich nahm Adelheid, der er sein Werk mitteilte, nicht den geringsten Anstoß daran. Sie zeigte sich stürmisch bewegt von den Schönheiten des Gedichtes, prophezeite dem Dichter die höchsten Ehren und eine strahlende Zukunft und entfaltete, angefacht durch die Bewunderung seines Genius, eine so heiße Leidenschaft, dass sie ihn mit sich riss wie in den ersten Tagen ihrer Liebe.
Dann fiel ihr ein, dass ein Darsteller beschafft werden müsse, um die von Andreas erdachte Idealgestalt zu verkörpern. Es würden einige Proben nötig sein. Sie bestimmte den kommenden Freitag als Tag der Aufführung. Während ihres eiligen Abschiedes ermahnte sie den jungen Mann, den die so nahe Aussicht auf ein erstes persönliches Zusammentreffen mit dem Publikum in Erregung versetzte:
»Bleibe ganz ruhig, mein Schätzchen, kümmere dich rein um gar nichts, ein Dichter muss vornehm sein! Ich werde schon alles besorgen. Komme morgen um drei in die Hildebrandtstraße!«
Er gewann es über sich, spät zu erscheinen. Es hatten sich bereits sechs junge Dichter eingefunden, deren Namen er überhörte, in einer Fassungslosigkeit, die er hinter einer unzugänglichen Miene zu verbergen suchte. Außerdem fand er einige Freunde des Hauses vor, Herrn und Frau Pimbusch, Frau Bescheerer und Frau Mohr. Adelheid machte ihn sogleich mit der Hauptperson des Kreises bekannt, mit Herrn Direktor Kapeller. Andreas erkannte ihn wieder: es war der runde, bewegliche Mensch, der sich damals auf der großen Soiree so gefällig durch die tanzlustige Menge und bis ans Klavier vorgedrängt hatte. Gefälligkeit schien in Kapellers Wesen der Hauptzug zu sein. Er war überall zugegen, wo man ihn möglichenfalls gebrauchen konnte. Er horchte aufmerksam und dennoch diskret umher, lauschte der öffentlichen Meinung ihre Launen ab und verstand es, sich ihr unentbehrlich zu machen. Unaufdringlich, aber unwiderstehlich wusste er sich den Mächtigen stets aufs neue in Erinnerung zu bringen, einfach durch seine Gegenwart. Falls einmal irgendein einträglicher Posten an den ersten, der sich einfand, eilig zu vergeben sein sollte, so musste Kapeller ihn bekommen; denn er war immer bei der Hand.
Wie sein Titel zu verstehen gab, hatte er, vermutlich in weiter Ferne, einmal ein Theater geleitet. Was man hier von ihm verlangte, schlug in sein Fach; er bemächtigte sich sofort mit großer Sicherheit der Lage.
»Meine sehr geehrten Herrschaften«, sagte er mit fetter, sanfter Stimme. Er sächselte leicht und schien sich selbst darüber lustig zu machen.
»Wenn es Ihnen recht ist, übernehme ich die Regie, und die von Herrn Zumsee so schön gedichtete Rolle kann ich auch befingern, ich meine kreieren. Ich habe nämlich von früher her, als ich in Leitmeritz einer Spezialitätenbühne vorstand, Übung in dem Genre. Das heißt, sofern –«
Er unterbrach sich, da er Frau Pimbusch kichern sah.
»Worüber lacht denn die sehr geehrte Dame? Über die Spezialitätenbühne? Dann darf ich wohl sagen: Lachen Sie nicht! Die Spezialitätenbühne ist nämlich in halbwilden Gegenden ein Kulturfaktor ersten Ranges, und wird dieselbe mit Erfolg zur Hebung von Sittlichkeit und Kunstgeschmack benutzt. Ich habe also Übung in dem Genre, das heißt, sofern hier überhaupt von Genre die Rede sein kann, denn das von dem Herrn Andreas Zumsee Geschaffene scheint mir in der Tat etwas ganz Einzigartiges, und wenn ich so sagen darf, noch nie Dagewesenes zu sein. Ein Meisterwerk, das von so neuen und so ungeahnten Schönheiten wimmelt, dürfte wohl nur schwer und auch dann noch unvollkommen auszuschöpfen sein.«
Er blähte sich in breitem Behagen, vollführte eine runde, gewinnende Armbewegung und klappte mit seiner kleinen, fettigen Hand ein paarmal durch die Luft, als angelte er nach noch greifbareren Lobeserhebungen. Plötzlich schob er seine wulstige Unterlippe hinter die Zähne zurück, legte den Kopf auf die linke Schulter und umschlang Adelheid und Andreas, die nebeneinander standen, mit einem unverschämt zärtlichen Blick. Nunmehr war Kapeller seines Erfolges gewiss. Er hatte die beifällige Heiterkeit der Damen erregt, Frau Türkheimers zartesten Gefühlen wohlgetan, und Andreas’ Autoreneitelkeit, so anspruchsvoll sie sein mochte, hatte er dennoch befriedigt. Mehr konnte man von ihm nicht verlangen. Die sechs Dichter, die sich scheu in einen Winkel drängten, kamen nicht in Betracht, er behandelte sie mit milder Verachtung und schob ihre Manuskripte achtlos in seine weiten Taschen. Er wusste wohl, wozu man ihn gerufen hatte, und indes er sich hinter ein paar niedrigen Stühlen wie vor einer Rampe aufstellte, begann er bereits das Selbstgespräch des verwunderten Ehemannes herzusagen. Er skandierte behäbig die Verse, unterstrich bedeutsam die verwegenen Gedanken des Dichters und stieß wie jemand, der den Beschwerlichkeiten eines verwickelten Ideenganges entflieht, mit Trompetenstimme den Refrain aus:
»Wer möchte sie denn auch entwirr’n,
Die Rätsel in dem kleinen Hirn!«
Zugleich rannte er mit jäher Behändigkeit zwei-, dreimal um den als Bühne gedachten Raum. Der runde Körper schien sich auf den kurzen Beinchen zu überkugeln; es wirkte verblüffend. Kapeller schmunzelte ins Publikum, er wiederholte jene gewinnende Geste, die die Damen schon einmal entzückt hatte, und er winkte ihnen im Laufen mit der Hand. Sie war unwiderstehlich, diese Hand. Sie glich einem rötlichen Weichtier, das nach Luft schnappt. Plötzlich stand Kapeller wieder an seinem Platze und fuhr fort, sanft und bedächtig, als sei nichts geschehen, seine Einwände gegen eine zu weit gehende Emanzipation der Frauen vorzutragen.
Andreas hatte sich anfangs der einzigen Sorge hingegeben, man möchte seine klägliche Verwirrung bemerken. Der Wert seines Werkes, an den er bisher so fest geglaubt hatte, war ihm unvermutet zweifelhaft geworden. Er erkannte seine Verse in Kapellers Munde nicht wieder, er lauschte ihnen wie fremden Klängen; doch musste er sich gestehen, dass sie allmählich immer hübscher wurden. Alle Anwesenden schienen derselben Meinung zu sein, und ihre Stimmung teilte sich, ohne dass sie noch Beifallszeichen von sich gaben, dem feinfühligen Autor mit. Als Kapeller, atemlos, seine dritte Schnellläuferübung beendet hatte, empfand Andreas deutlich, dass der Erfolg der Dichtung gesichert sei. Nur noch die ausgesprochene Unanständigkeit der letzten Strophe konnte ihm verhängnisvoll werden, besonders in der von dem Vortragenden beliebten Auffassung. Anstatt nämlich über die gefährlichen Stellen leicht hinwegzugleiten, ruhte Kapeller sich auf ihnen mit seiner ganzen Schwere aus. Er vergrub die Hände in die Hosentaschen, er schob den Bauch vor, er legte den Kopf zurück, dass die niedrige Stirn verschwand und das Doppelkinn, in voller Breite entfaltet, die Stelle des Gesichts einnahm. Zwischen den Sätzen streckte er die Zungenspitze heraus und ließ sie von einem Mundwinkel in den anderen wandern. Nach Andreas’ Ansicht verkörperte Kapeller den schmutzigsten, abstoßendsten Zynismus. Dennoch erfüllten gerade die Verse, die ihm dazu Gelegenheit gaben, ihren Schöpfer mit besonderem Stolze.
Er sah gespannt im Kreise umher; nur zwei unter den sechs Dichtern waren errötet. Frau Pimbusch schlug sich mit den Handschuhen auf die Knie, dass es schallte. Sie hatte die Augen geschlossen und wand ihren langen, dünnen Hals beängstigend hin und her in dem engen Kragen, über dem der Kopf gleich einer zu farbenprächtigen, gedunsenen Giftblume schwankte. Die kleine Frau Goldherz hüpfte leise zwitschernd durch das Zimmer, Frau Bescheerer, reglos, versuchte die Miene zu verziehen. Wie gewöhnlich bewegten sich nur die Falten ihrer Stirn, zwischen denen der grünliche Moosfleck wie lebend hervorkroch. Frau Mohr lächelte gütig, und Pimbusch überließ sich, in abwartender Haltung, der Betrachtung seiner Fingernägel. Der Gesamtanblick des Publikums war beruhigend.
Kapeller war zu Ende. Er wiederholte nochmals den Refrain, diesmal nicht im Trompetenton, sondern mit versagender Stimme und mit einer Miene, durchgeistigt von müder Weltweisheit, die ihm niemand zugetraut hätte. Dann nahm er, bescheiden auf den Dichter deutend, die Glückwünsche entgegen. Unter den Anwesenden verbreitete sich blitzschnell die Meinung, dass man soeben zwei große Künstler entdeckt habe. Pimbusch, in den erst jetzt Leben kam, lief erregt von einem zum anderen, um überall nachzuforschen, ob man die Leistung des Rezitators ultrasmart und die Poesie des Herrn Zumsee copurchic und vollkommen auf der Höhe finde. Nachdem er sämtliche Stimmen eingesammelt und seine eigene Überzeugung gebildet hatte, trat er feierlich auf die Künstler zu, schüttelte ihnen in seiner sakramentalen Weise die Hand und vers...