Praktiken von „Entwicklung“ und „Solidarität“ brachten Menschen, Waren, Gelder und Ideen in Bewegung. Als Tanganjika 1961 als erstes ostafrikanisches Land die politische Unabhängigkeit von Großbritannien erlangte, konnten die Posten in Wirtschaft und der wachsenden Staatsmaschinerie von Verwaltung, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen nicht sofort von Kolonialbeamten an BürgerInnen des neuen Staates übergeben werden. Als Resultat der kolonialen Politik, in der die Bildung der Bevölkerungsmehrheit und insbesondere die höhere Bildung vernachlässigt worden war, fehlte es an einheimischen Fachkräften. Von 184 ÄrztInnen im Land waren nur 16 afrikanischer Herkunft, unter 57 Anwälten gab es nur zwei Afrikaner und unter 84 Ingenieuren gar nur einen einzigen Afrikaner mit Universitätsabschluss.1 Zwei Strategien verfolgte die postkoloniale Regierung, um den Personalmangel bis zur vollständigen Etablierung eines leistungsfähigen Bildungssystems zu überbrücken und so auch de facto unabhängig zu werden: die Rekrutierung ausländischer Fachkräfte sowie die Ausbildung von TansanierInnen (nach der Union mit Sansibar 1964 wurde Tanganjika Teil der Vereinten Republik Tansania) im Ausland. Diese Zirkulation von Menschen aus und nach Tansania wurde durch das entwicklungspolitische Feld ermöglicht. Tausende TansanierInnen brachten zu Ausbildungszwecken ein Jahr, ein halbes Jahrzehnt und länger in der Sowjetunion, Großbritannien, den USA, der DDR, Indien oder der BRD zu, während Entwicklungspersonal in ähnlicher Größenordnung aus der ganzen Welt nach Tansania kam, um Personallücken im schnell wachsenden Staatsapparat zu schließen und die Umsetzung von Projekten voranzutreiben. „It was a topsy-turvy world“, erinnerte sich der Ire und ehemalige Kolonialbeamte Randal Sadleir an diese 1960er Jahre: „As the Tanzanian youth moved out, so the foreign youth moved in, fired with idealistic enthusiasm, but not always skill or tact.“2 Zu dieser Zeit nahm auch der tansanische Versuch, unter dem Namen Ujamaa einen eigenständigen „Afrikanischen Sozialismus“ aufzubauen, Gestalt an.
Überseestudium und Rekrutierung ausländischen Personals waren Strategien, um das Wirtschaftswachstum, den Aufbau des Staates und die Ausweitung sozialer Dienstleistungen weiter voranzutreiben – teils im Bruch mit und teils in Fortsetzung und Erweiterung kolonialer Politik. Gleichzeitig galten diese Strategien aber auch als Gefährdung der gerade erlangten, aber in vielerlei Hinsicht prekären und unvollständigen nationalstaatlichen Souveränität und des sozialistischen Experiments, das die Regierung zunehmend forcierte. Wie Beziehungen auf dem entwicklungspolitischen Feld allgemein stellten diese Zirkulationen gleichermaßen eine Bedingung wie auch eine Unterwanderung des postkolonialen Entwicklungsstaates dar: Der Versuch der Dekolonisierung durch Entwicklung konnte auch zur Neu- oder Reetablierung von Abhängigkeiten führen.
1.1 „Trojanische Pferde im sozialistischen Lager“: Zur Fragestellung
Im August 1961, wenige Monate vor der Unabhängigkeitsfeier in Dar es Salaam, auf der die Bonner Regierung umfassende Entwicklungshilfeleistungen zusagte, hatte die Parteiführung in der DDR den Bau der Mauer veranlasst, um dem westwärts gerichteten Exodus von Fachkräften, die dringend für den Aufbau des Sozialismus benötigt wurden, Einhalt zu gebieten. Damit war die DDR jedoch keinesfalls ein isolierter und abgekapselter Staat, denn zur selben Zeit nahm die Verflechtung der DDR mit der postkolonialen Welt zu. Zirkulationen im Rahmen von Ausbildungsprogrammen und Experteneinsätzen führten zu Verbindungen mit geografischen Räumen, die zuletzt im Rahmen des Imperialismus der Kaiserzeit so eng mit Deutschland verflochten gewesen waren – so auch Ostafrika.
1964 kam es in Sansibar zur Revolution, die dort einen ähnlichen Fachkräfteexodus wie in der DDR verursachte. Schnell etablierten sansibarische Marxisten Beziehungen mit China, der Sowjetunion und der DDR und veranlassten die SED-Regierung zur Entsendung von ExpertInnen, Beratern und FDJ-„Freundschaftsbrigaden“, um der Revolution in Sansibar – und womöglich in ganz Ostafrika – zum Sieg zu verhelfen. Noch im selben Jahr wurde Sansibar Teil der politischen Union mit dem Festland (Tanganjika), blieb aber in vielen Bereichen autonom. Die DDR wurde zeitweise zum wichtigsten Geber Sansibars und Sansibar – nunmehr das „Kuba Ostafrikas“, wie man im Westen fürchtete – zum Ort des ersten großen DDR-Engagements in Afrika. 1965, ein Jahr nachdem die ersten DDR-„Auslandskader“ nach Sansibar gekommen waren, erteilte der tansanische Präsident Julius Nyerere Weisung, dass sämtliches BRD-Entwicklungspersonal Tansania zu verlassen hatte. Nyerere reagierte so auf den vorangegangenen westdeutschen Erpressungsversuch, Tansania durch den Abzug westdeutscher Militärausbilder zur Schließung des DDR-Generalkonsulats zu drängen – ein direkter Eingriff in die politische Entscheidungshoheit eines unabhängigen Staates. Die meisten westdeutschen Entsandten reagierten allerdings mit Unverständnis für die Linie der BRD-Regierung und setzten sich für Nyereres Position ein. Nach einigem Gerangel auf diplomatischer Ebene blieben fast alle von ihnen im Land – zumal auch Nyerere ein Interesse an der reibungslosen Fortführung von Entwicklungsprojekten und dem Funktionieren der staatlichen Institutionen hatte und dabei auf das westdeutsche Personal setzte.
Erfahrungen wie jene mit der BRD verdeutlichten Tansania, wie Unterstützung von außen zur Bedrohung der nationalen Souveränität werden konnte. Gerade der Aufbau des Sozialismus schien durch ausländisches Personal, die expatriates, gefährdet. John Saul, ein junger marxistischer Politikwissenschaftler aus Kanada, der an der Universität Dar es Salaam unterrichtete, warnte 1972 vor den „fremden Experten, die allzu leicht trojanische Pferde im sozialistischen Lager“ werden könnten.3 Der tansanische Intellektuelle Peter Temu bekräftigte ein Jahr nach Saul, dass viele expatriates aus kapitalistischen Ländern zwar Sozialismus predigten, damit aber nur ihre reaktionären Handlungsweisen und kapitalistischen Ratschläge maskierten. Wie Saul schlug auch Temu alarmierende Töne an: „Wir können den Sozialismus nicht nach dem Rat der Feinde des Sozialismus aufbauen“.4 Die „trojanischen Pferde“ wurden nicht nur verdächtigt, „fremde“ Ideologien und Verhaltensweisen einzuschleusen – ein Verdacht, mit dem sich auch tansanische AbsolventInnen von Überseestudien konfrontiert sahen – sondern auch technologische Abhängigkeiten zu konsolidieren und die finanzielle Verschuldung Tansanias in die Höhe zu treiben. Der sansibarische Präsident Abeid Amani Karume verkündete 1970: „In der Politik haben wir ständig Erfolge erreicht, aber in der Ökonomie haben uns die ausländischen Experten“ – womit er DDR-Berater meinte – „alles verdorben“.5
Diese Auseinandersetzungen über die Rolle „fremder Experten“ weisen auf zentrale Widersprüche des entwicklungspolitischen Feldes hin, das sich zwischen den Rivalitäten des Kalten Krieges und den Bemühungen postkolonialer Staaten, nationale Souveränität zu erlangen, aufspannte und Globalisierungsprozesse vorantrieb. Externe Unterstützung wurde dringend benötigt, aber sie anzunehmen, brachte Risiken mit sich. Im Zentrum dieser Arbeit steht die Frage nach Personaltransfers und Handlungsspielräumen in der Entwicklungspolitik und Entwicklungsarbeit. Auf verschiedenen Ebenen wird ausgelotet, wie sich Handlungsspielräume für die Regierungen und das entsandte Entwicklungspersonal zu verschiedenen Zeiten gestalteten, welche politischen Visionen dabei eine Rolle spielten und in welcher Weise ideologische Faktoren in konkreten Interaktionen wirksam wurden. Die Arbeit führt in die Auseinandersetzungen und Spielregeln des entwicklungspolitischen Feldes während der Ära der Dekolonisierung und des Kalten Krieges ein und diskutiert, wie sich Akteure in diesem umkämpften Feld bewegten: Was waren ihre Motive, Zukunftsvorstellungen und Lebensbedingungen? Wie verhielten sie sich zu den Interessen des Entsende- und Aufnahmelandes? Wie beeinflussten die konkurrierenden Entwicklungskonzepte und ideologischen Vorgaben die Praxis der Entwicklungsarbeit? Wie gestalteten sich die Beziehungen mit den „Counterparts“ vor Ort und was waren deren Handlungsstrategien? Diese Frage zielen darauf ab, ein besseres Verständnis für die Prozesse an der Schnittstelle zwischen Visionen und Praktiken zu erhalten, denn hier stießen Rollenbilder und Ansprüche an ihre Grenzen. Im Laufe von Personaleinsätzen wurden Theorien angewendet oder – weitaus häufiger – als unzureichend erkannt und einer kritischen Prüfung unterzogen. So soll dabei auch deutlich werden, welchen Einfluss die Entsandten hatten – sowohl in ihrer Selbstwahrnehmung als auch in der Sicht von außen.
In der Literatur lassen sich im Wesentlichen zwei gegensätzliche Antworten auf die Frage finden, welchen Einfluss Entwicklungspersonal hatte. Einer ersten Reihe von Arbeiten zufolge handelte es sich bei den Entsandten um mal mehr, mal weniger aufrichtige HelferInnen mit wenig Einfluss und Wirkung. Dem Entwicklungsforscher Michael Jennings zufolge ließen sich westliche NGOs wie Oxfam, deren Personal sich von Tansanias sozialistischem Projekt begeistert zeigte, bereitwillig als „Surrogate des Staates“ einspannen. Sie „erwiesen sich weder als trojanische Pferde, in denen westliche imperialistische Absichten verborgen waren“, noch stellten sie die staatliche Hoheit in Politik und Planung infrage.6 Ihre Wirkung war somit in erster Linie jene einer indirekten Konsolidierung und Legitimierung des Entwicklungsstaates. Auch andere Studien westlicher Entsendungsformen betonen die Grenzen der Handlungsmacht, selbst bei jenen Entsandten mit höherem Status. Der Anthropologe Thomas Hüsken zitiert einen westdeutschen Experten, der sich im Präsidialamt eines arabischen Landes „vom Counterpart kaltgestellt und von den Arbeitsprozessen im Amt isoliert“ fand.7 Ähnlich lamentierte einer der Schweizer Berater beim ruandischen Präsidenten, die der Historiker Lukas Zürcher porträtiert hat: „Suis-je consulté? Non!“8 In Zürchers chronologischer Darstellung fällt auf, dass zwar alle fünf Berater nacheinander strukturell in der gleichen Position tätig waren, ihr Wirksamkeitsspektrum aber von erheblichem Einfluss bis hin zu völliger Bedeutungslosigkeit reichte. Wolfgang Stolper, ein US-amerikanischer Berater im nigerianischen Planungsministerium, beschwerte sich wiederum weniger über die einheimischen Counterparts als über einen indischen Berater, der häufig diametral entgegengesetzte Ratschläge abgab und somit eine direkte Konkurrenz darstellte.9
Auch die Ratschläge von Beratern aus kommunistischen Ländern10 mussten auf fruchtbaren Boden fallen, um zu gedeihen. Hinter den Fassaden sozialistischer Solidaritäts- und Freundschaftsrhetorik herrschten oft weder Einigkeit noch Interessengleichheit. Deborah Kaple hat darauf hingewiesen, dass die Verschlechterung der chinesisch-sowjetischen Beziehungen Ende der 1950er-Jahre dazu führte, dass sowjetische Berater in China kaum mehr Gehör fanden.11 Auch in sowjetischen Allianzen mit Äthiopien, Somalia, dem Irak oder dem Südjemen zeigten sich, so der Historiker Odd Arne Westad, die Eliten in den Einsatzländern oft „beratungsresistent“ und unwillig, ihr eigenes politisches Kalkül, das sich oft in erster Linie an den lokalen Machtverhältnissen ausrichten musste, für marxistisch-leninistische Prinzipien und „Gesetzmäßigkeiten“ zu opfern.12 Diesen Darstellungen der personellen Zusammenarbeit von „Ost“, „West“ und „Süd“ zufolge gab es also viele entsandte Berater und ExpertInnen, die sich der Politik des Gastlandes verschrieben oder sie auch nach eigenen Vorstellungen ändern wollten – aber dabei nur selten eine nennenswerte oder gar geschichtsträchtige Wirksamkeit entfalteten.
Eine zweite Strömung beurteilt den Wirkungsradius als generell deutlich größer, dabei aber auch viel stärker an Eigeninteressen ausgerichtet und mit negativen bis verheerenden Folgen verbunden. Entsandte waren in dieser Hinsicht „trojanische Pferde“, die die nationale Souveränität und politischen Zielstellungen des Aufnahmelandes mit ihrer Präsenz intendiert oder unabsichtlich unterliefen. Der Soziologe Ronald Aminzade argumentiert, dass westliche expatriates direkt und indirekt großen Anteil am Scheitern des tansanischen Ujamaa-Experiments hatten, indem sie kapitalintensive und importabhängige Entwicklungsprojekte empfahlen, westlich-technokratische anstelle partizipativer Managementtechniken bevorzugten und durch ihren luxuriösen Lebensstil die sozialistischen Forderungen nach Verzicht und Egalitarismus unterminierten – was die lokale Bürokratenschicht korrumpiert habe.13 Aminzades Ausführungen ähneln den Kritiken der 1960er und 1970er-Jahre, etwa der Theorie seines Soziologie-Kollegen Erik Cohen. Cohen konzipierte expatriate communities in postkolonialen Gesellschaften (eine Gruppe, die entsandte EntwicklungsarbeiterInnen einschließt) in einem einflussreichen Artikel von 1977 als Gruppe, die Machtpositionen in Wirtschaft und Bildung sowie sogar in Militär, Verwaltung und Politik einnimmt. Für Cohen war die Präsenz von expatriates samt ihrem Lebensstil ein neokoloniales Phänomen.14 In dieser von der damals breit rezipierten Dependenztheorie beeinflussten Perspektive galt die Entsendung von Entwicklungspersonal nicht als Instrument zur Überwindung von Abhängigkeit, sondern im Gegenteil als Manifestation von Ungleichheitsbeziehungen und „Mittel zur Fortsetzung sozialer und wirtschaftlicher Vorherrschaft“, was das Fortwirken kolonialer rassistisc...