Ordnung kann zwar als „geregelter (d. h. nicht-beliebiger) Zusammenhang von diesem und jenem“1 definiert werden, doch klärt eine solche Definition einen entscheidenden Punkt nicht, nämlich kraft welcher Normen, Gesetzlichkeiten oder Konventionen ein solcher geregelter Zusammenhang besteht. Sind es rechtliche Vorgaben, Naturgesetze oder bloße Gewohnheiten, die den geregelten Zusammenhang erzeugen? Sind die Regeln implizit oder explizit definiert und wie und in welcher Form werden Irregularitäten sanktioniert? Gerade in den Geschichts- und Literaturwissenschaften wird der Ordnungsbegriff häufig für ‚geregelte Zusammenhänge‘ benutzt, deren Regeln nicht kodifiziert oder explizit festgelegt sind. Doch was begründet in einem solchen Fall die Regelmäßigkeit?2 Die Kultursoziologie kann hier, wie die Frühneuzeithistorikerin Barbara Stollberg-Rilinger gezeigt hat, wichtige Anregungen geben. Viele soziale Ordnungen gründen auf Erwartungs-Erwartungen:3 Der Einzelne erwartet, dass auch die anderen Beteiligten eine bestimmte soziale Ordnung, beispielsweise eine Rangordnung, voraussetzen. Wenn er mit seinen Erwartungs-Erwartungen richtig liegt und sich diesen entsprechend verhält, bestätigt er wiederum die Erwartungen der anderen und stabilisiert die entsprechende Ordnung. Der Inszenierung von Ordnung kommt dabei eine wichtige Funktion zu. Soziale Ordnungen müssen durch Rituale, Tischordnungen usf. sichtbar gemacht werden, damit sie Erwartungen und Erwartungs-Erwartungen normativ steuern. Sie erzeugen so eine „Aura der Notwendigkeit“.4 Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass solche Ordnungen nicht wandelbar wären. Vielmehr lassen sich Ordnungen gerade deshalb verändern, weil gleichbleibende Ordnungsinszenierungen (wie Tischordnung oder Rituale) den Eindruck von Dauer und Stabilität schaffen.
Das hier beschriebene Verständnis von Ordnung setzt die Geregeltheit einer Ordnung nicht voraus, sondern fragt, wie Regelmäßigkeiten und damit Ordnungen erzeugt und auf Dauer gestellt werden. Dabei wird angenommen, dass Ordnungen performativ bestätigt werden müssen. Nur wenn die Erwartungen bekräftigt werden, bleibt die Ordnung erhalten. Zugleich handelt es sich um einen prozessualen Ordnungsbegriff. Ordnungen konstituieren und wandeln sich abhängig von kollektiven Erwartungen und Praktiken. Sie sind damit per se zeitlich. Doch wann handelt es sich um eine, wann um mehrere Ordnungen? Häufig hängt dies vom gewählten Blickwinkel, von Rahmungen und Fokussierungen ab: Je größer der Ausschnitt und je weniger gerahmt soziale Phänomene betrachtet werden, umso mehr werden konkurrierende oder sich überlagernde Ordnungen bzw. Ordnungsinszenierungen sichtbar und umso weniger scheinen die Phänomene in einer Ordnung aufzugehen. Erscheinen dagegen eine Vielzahl von Phänomenen als Teil einer alles umfassenden Ordnung, so gründet dies auf Fokussierungs- und Harmonisierungsbestrebungen.5
Auch in literarischen Texten ist häufig unklar, ob wir es mit einer oder mehreren Ordnungen zu tun haben. Ebenso werden erzählte Ordnungen höchst selten benannt oder begründet. Stattdessen indizieren Erzählungen soziale Ordnungen durch das exemplarische Vorführen von Unterordnung, durch das Sanktionieren von Ordnungsvergehen oder durch Parallelen zwischen sozialen und natürlichen Ordnungen. Auch mittels Ordnungsindikatoren wie Kleidern oder mittels der Figurenerwartungen können Erzählungen funktionierende soziale Ordnungen darstellen. Sie erzählen aber auch gerne vom Scheitern von Ordnungserwartungen oder wie aus den Trümmern alter Ordnungen neue entstehen. Erzählte Ordnungen sind deshalb als Repräsentationen, Inszenierungen oder Reflexionen von sozialen Ordnungen zu verstehen. Sie bilden diese jedoch nicht nur ab, sondern sie prägen die Erwartungen der Rezipienten und sie reflektieren darüber, wie sich Ordnungen konstituieren und wandeln.
Als Ordnungen des Erzählens sind dagegen Regelmäßigkeiten auf der discours-Ebene zu verstehen (Erzählstrukturen, gattungstypische Erzählmuster usf.). Sie gehen den erzählten sozialen Ordnungen voran und prägen, wie diese wahrgenommen werden. Sie können die erzählte soziale Ordnung bestätigen, aber diese auch zur Disposition stellen. Es hängt somit entscheidend von den Ordnungen des Erzählens ab, ob und wie Erzählungen die Erwartungen der Rezipienten prägen.
Neben diesem Ineinander von erzählter und erzählender Ordnung sind jedoch literarhistorisch auch die Ordnungssemantiken zu beachten, also die Begriffe, die die Quellen benutzen, um einen ‚geregelten Zusammenhang‘ zu bezeichnen. Für mittelalterliche Texte ist neben den historisch-semantisch viel erforschten, aber auch umstrittenen Begrifflichkeiten von ordo6 (lat.) bzw. orden (mhd.) der welt-Begriff von großem Interesse. Mundus oder welt bezeichnen allerdings meist keine positiv definierte Ordnung, sondern eine, die sich durch ihre corruptio, d. h. den Abfall von der göttlichen Ordnung auszeichnet.7 Dieser Weltbegriff steht in der langen Tradition des Contemptus Mundi-Diskurses,8 in dem die Welt als ein defizientes Diesseits entworfen wird. Anders als der moderne Weltbegriff, der eine autarke Einheit impliziert, bleibt ein solcher Weltbegriff auf ein positives Gegenstück bezogen.9 Doch diese großen begriffsgeschichtlichen Thesen sollen hier nicht automatisch übernommen werden, sondern geben bloß die Fragerichtung vor: Welche Ordnungsreflexion lässt sich anhand des mhd. welt-Begriffs beobachten und welche Rolle spielen dabei die Ordnungen des Erzählens, also die Art und Weise, wie von welt erzählt bzw. über sie gesprochen wird?
Ich möchte diese Fragen an einen in fünf Handschriften überlieferten Text stellen, in dem ganz unterschiedliche Darstellungsformen zusammentreffen und der in der Forschung meist als Der Weltlohn bezeichnet wird. In einem ersten Teil beklagt ein Ich seine Sünden und adressiert die welt, die ihm falsche Werte vermittelt habe (V. 9). Im zweiten Teil transformiert sich die Ich-Rede in eine Erzählung: Das Ich begegnet einer schönen, reich gekleideten Frau. Diese entpuppt sich dank des Eingreifens eines Pilgers (Christus) als Frau Welt. Sie geht mit ihren Dienern in Flammen auf. Die Erzählung geht in eine lange Mahnrede über, in der eine Predigerstimme an das Endgericht erinnert und das geschilderte Geschehen auf die Situation des einzelnen Gläubigen bezieht.
Unser Text wurde 1934 von August Closs10 ediert, wobei ihm nur vier der heute fünf bekannten Handschriften vorlagen.11 Um die Ähnlichkeit zu Konrads von Würzburg Der Welt Lohn zu unterstreichen, gab er der Erzählung den Titel Weltlohn.12 Doch unterscheidet sich nicht nur das Ende des narrativen Teils signifikant von der Erzählung Konrads sowie den damit zusammenhängenden lateinischen Exempla13, sondern auch die Rahmung ist eine andere: Während wir bei Konrad einen klar konturierten Protagonisten haben, von dem in der dritten Person erzählt und der zur Umkehr bewegt wird, beginnt unser Text mit der Reue eines Ich über sein früheres sündiges Leben (JC 1 f.). Die Umkehr hat also bereits vor dem Erzählbeginn stattgefunden. Die Begegnung mit der Frau Welt geschieht als Antwort auf die Frage Waʒ wil dir got ze důne geben? (JC 50). Allerdings ist unklar, ob in der daran anschließenden Ich-Erzählung von derselben Ich-Instanz ausgegangen werden kann.14 Denn im zweiten Teil fehlen Bezugnahmen zum Ich des ersten Teils15 und das Ich ist vor allem Beobachter und Zeuge des Geschehens.16 Ein Prediger-Ich im dritten Teil, der Mahnrede, unterscheidet sich wiederum von den vorangehenden Ich-Instanzen dadurch, dass es ausgehend von der (ihm bekannten, aber nicht selbst erfahrenen) Erzählung mahnt und belehrt.17 Wir haben somit kein Bekehrungsnarrativ, sondern eine Erzählung in der ersten Person in der Mitte, die durch eine Rede eines Ich am Beginn und eine Rede am Ende gerahmt und mit Deutung versehen wird.
Handelt es sich also gar nicht um einen Text mit drei Teilen, sondern um drei lose verknüpfte eigenständige Texte? Die Handschriften gestalten den Zusammenhang der drei Teile unterschiedlich. Wie Nicole Eichenberger gezeigt hat, präsentiert die Karlsruher Handschrift den gesamten Text (Ich-Rede, narrativer Mittelteil und Mahnrede) fast ohne Binnengliederung.18 Die anderen vier Handschriften unterbrechen den Text dagegen mit Rubriken und z. T. Bildern (D, Dü, B): Sie gliedern ihn jedoch nicht in die kompositorisch naheliegenden drei Teile, sondern heben den Beginn des narrativen Mittelteils bzw. das Auftreten der Frau Welt, ihr...