1.1 Theorie: Globalgeschichte und Migration
Globalhistorische MediĂ€vistik ist als Versuch zu verstehen, eine Geschichte in globalhistorischer Perspektive auch fĂŒr die Zeit der Vormoderne zu schreiben.1 Die Globalgeschichte geht zurĂŒck auf eine neue Geschichtsschreibung ĂŒber die Moderne, welche seit dem Zeitalter der Kolonialisierung wachsende globale (Inter-)Dependenzen in den Blick nahm.2 Im Kontext des Endes der Blockkonfrontation und der Rede vom âEnde der Geschichteâ trugen die Arbeiten auf diesem Gebiet teils ZĂŒge einer Entwicklungsgeschichte des globalisierten Westens, gelangten jedoch angesichts der fortbestehenden politischen und sozialen WidersprĂŒche einer von asymmetrischen Macht- und AusbeutungsverhĂ€ltnissen geprĂ€gten Globalisierung teils auch zu wesentlich differenzierteren, nicht-teleologischen Darstellungen weitrĂ€umiger Beziehungen in der Geschichte.3 Zentraler Aspekt dieser NeuansĂ€tze sind Auseinandersetzungen mit der Einsicht in die DiskursivitĂ€t, HistorizitĂ€t und HeterogenitĂ€t sozialer Gruppen, welche einst als objektiv-empirisch fassbare, ĂŒberzeitliche und monolithische EntitĂ€ten imaginiert wurden. Verbunden mit verschiedenen theoretischen Schlagworten und Metaphern wurde so einerseits untersucht und diskutiert, wie sowohl unmittelbare und vermittelte Interaktionen als auch gruppenbildende Diskurse dazu beitrugen, Humankategorisierungen etwa nach Ethnien, Konfessionen, Geschlecht hervorzubringen, zu festigen oder zu verĂ€ndern. Andererseits wurden die komplexen Beziehungen, Verflechtungen, HybriditĂ€ten zwischen vermeintlich getrennten oder wenigstens unterscheidbaren Kollektiven erforscht. In den Kultur- und Sozialwissenschaften wurden ZwischenrĂ€ume und Heterotopien, Uneindeutigkeiten und konkurrierende Narrative zu zentralen ForschungsgegenstĂ€nden, anhand derer die Bedingungen und Praktiken in den Blick genommen werden konnten, welche grundlegend waren fĂŒr Entstehung, Wandel und Auflösung fĂŒr Humankategorisierungen und Gruppenbildungen, die sinnstiftend wirken und das ungeordnete Weltgeschehen strukturieren. Sie erwiesen sich dabei als ubiquitĂ€re und integrale Elemente von SozialverhĂ€ltnissen ĂŒberhaupt.4
Offensichtlich kann jedoch fĂŒr die Zeit, die wir âMittelalterâ nennen, nicht von globalen Interaktionsnetzwerken ausgegangen werden, die den gesamten Planeten umspannt hĂ€tten. Lateineuropa war in der Zeit von 500 bis 1500 zwar unleugbar in unterschiedlich dichte weitrĂ€umige Netzwerke von Handelskontakten, Herrschaftsbeziehungen, Diplomatie, Migrationen, Gelehrten- und Religiosenreisen und anderem mehr eingewoben. Die Reichweite dieser Netzwerke blieb allerdings auf Eurafrasien beschrĂ€nkt und umfasste auch diese Landmasse nicht ganz.5 Insofern soll mit dem Bezug auf das Label âGlobalgeschichteâ auch kein Anspruch auf einen planetaren Untersuchungsraum verbunden sein. Er spiegelt vielmehr ein Interesse an der transkulturellen Perspektive und den Herangehensweisen der Globalgeschichte wider, welche auch fĂŒr die Zeit der Vormoderne ĂŒbernommen werden.6 Innerhalb der deutschsprachigen Wissenschaft wurde eine solche Globalgeschichte des Mittelalters auf zwei verschiedenen, jedoch eng verknĂŒpften Forschungsfeldern betrieben: Einerseits wurden zunehmend Prozesse von Verflechtungen, Transfers und Hybridisierungen identifiziert und analysiert und so die transkulturelle Verwobenheit unterschiedlicher Kontexte herausgearbeitet.7 Andererseits wurde mit den Methoden historischer Komparatistik der âtranskulturelle Zivilisationsvergleichâ in âgrenzĂŒberschreitend[er] Perspektiveâ erprobt.8 Eine theoretische Diskussion um den Kulturbegriff und die GegenstĂ€nde einer mediĂ€vistischen Globalgeschichte fĂŒhrte in diesem Kontext zu einer ungeheuren wissenschaftlichen Dynamik und zu einer Auseinandersetzung mit Konzepten anderer Disziplinen. So wurden sowohl kulturphilosophische Konzepte wie TranskulturalitĂ€t in die Debatte eingefĂŒhrt als auch kultursoziologische Auffassungen von Kultur als prozesshaft und praxeologisch bestimmt.9 Daneben fĂŒhrten diese Einsichten auch zu einer stĂ€ndigen Weitung des Blicks ĂŒber die vermeintliche Kulturinsel âEuropaâ hinaus.10 Wo die historische Forschung zum mittelalterlichen Jahrtausend jedoch aus manchen Spielarten der Globalgeschichte die UnschĂ€rfe globaler ErzĂ€hlungen ebenso ĂŒbernimmt wie die Umgehung der Machtfrage zugunsten einer inhaltlichen Fokussierung auf MobilitĂ€t und Kontakt, mindestens dort droht sie auch die theoretischen und methodischen SchwĂ€chen zu ĂŒbernehmen, die immer wieder im Bereich der Globalgeschichte ausgemacht werden.11
Folgt man den hier skizzierten AnsĂ€tzen konsequent, so mĂŒssen nicht nur naturalistische und holistische Vorstellungen menschlicher Gruppen abgelehnt werden, vielmehr lĂ€sst die HeterogenitĂ€t und unterschiedliche IntensitĂ€t von Humankategorisierungen auch an Vorstellungen von eindeutigen Gruppenzugehörigkeiten ĂŒberhaupt Zweifel aufkommen.12 Die tief in wissenschaftliche und auĂerwissenschaftliche DiskurszusammenhĂ€nge eingeschriebene Annahme, dass ethnisch, national oder anderweitig kollektiv aufgefasste Gruppen sozial existieren, von groĂer Bedeutung fĂŒr soziale Interaktionen sind oder gar die Grundeinheiten sozialer Praxis darstellen, ist als âGruppismusâ beschrieben worden. Hierunter ist eine kognitive Tendenz zu verstehen, Menschen aufgrund wirklicher oder unterstellter Eigenschaften essentialisierend und naturalisierend als Angehörige vermeintlich homogener Gruppen wahrzunehmen und diese ihrererseits zu reifizieren. Eine solcher Bias wird gerade nicht gemindert oder gar ausgeschlossen, indem er benannt und reflektiert wird.13 Auch dem Konzeptcluster âIdentitĂ€tâ ist eine Tendenz zur kulturalistischen Monolithisierung von SozialverhĂ€ltnissen vorgeworfen worden. Die logischen Grundrelationen des Identisch-Seins miteinander und mit sich selbst bezögen sich sich eben vor allem auf das Sein einer Person, nicht auf ihr Handeln und Interagieren oder auf ihr Wahrnehmen, Urteilen und Kommunizieren. Das IdentitĂ€tsvokabular suggeriert zudem, ein solches Sein könne von einem Ă€uĂeren Standpunkt aus beurteilt und binĂ€r beschrieben werden. In den akademischen Diskursen des zwanzigsten Jahrhunderts war mit dem Begriff der IdentitĂ€t jedoch zunĂ€chst das Problem einer Konstanz individueller Wahrnehmungen, Werte, Beziehungen und Handlungsweisen verbunden angesichts von Rollenzuweisungen und Erwartungen innerhalb verschiedener sozialer Systeme oder Zugehörigkeitsdiskurse. SpĂ€ter wurde der IdentitĂ€tsbegriff stĂ€rker hermeneutisch auf die Selbstinterpretation innerhalb historisch wandelbarer Angebote kulturell verfĂŒgbarer Seme bezogen und auf die Selbsteinschreibung in kulturell verfĂŒgbare Kollektive, deren Angebot und Zuschnitt ebenfalls historisch wandelbar ist. Damit verbunden war die Untersuchung der bestĂ€ndigen Arbeit an der performativen Herstellung und Stabilisierung kollektiver und individueller IdentitĂ€ten, die â als Milieus oder Lebensstile gedacht â tendenziell ĂŒber verschiedene soziale Systeme hinweg bestĂŒnden.14 Dabei bestehe jedoch die Gefahr, kollektive IdentitĂ€ten zu reifizieren und dabei die Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten und Unterscheidungen auszublenden. Die Rede von kollektiver IdentitĂ€t verdeckt die vielschichtigen Ăberschneidungen zwischen den zahlreichen genutzten Kategorien, die Frage nach der Wichtung solcher Kategorien untereinander und eben auch die Möglichkeit, dass eine untersuchte Kategorie in einzelnen konkreten Interaktionen ausgeblendet werden kann, im sozialen GefĂŒge insgesamt an Bedeutung gewinnen oder verlieren kann oder ĂŒberhaupt irrelevant sein kann.15
Innerhalb der breiteren SozialverhĂ€ltnisse mit ihren Humankategorisierungen und Assoziationen stellen soziale Gruppen einen Sonderfall dar. Sie sind gekennzeichnet durch ein hohes MaĂ an StabilitĂ€t, Relevanz und Verbindlichkeit. Zweifellos ist die Annahme primordialer Existenz sozialer Gruppen höchst zweifelhaft, da sie voraussetzt, âdas Hauptmerkmal dieser Welt bestĂŒnde in der fraglosen Existenz von Grenzen, unabhĂ€ngig davon, wer sie mit welcher Hilfe zieht.â16 Die Existenz sozialer Gruppen ist der Akteur-Netzwerk-Theorie zufolge vielmehr das Ergebnis menschlicher Arbeit an der stĂ€ndig erforderlichen Gruppenbildung und nur als relatives VerhĂ€ltnis zwischen Akteuren â als besondere Form der Assoziation â zu denken.17 Solche performativen Gruppenbildungen hinterlieĂen Spuren, die sich beobachten lassen â etwa eine Vielzahl von Sprechern, die sich darĂŒber Ă€uĂern, wer zur jeweiligen Gruppe gehört und was sie ausmacht, benannte Anti-Gruppen, markierte und aufrecht erhaltene Grenzen, ĂuĂerungen von Beobachtern der SozialverhĂ€ltnisse oder auch die Zuweisung von Privilegien und verfĂŒgbaren Handlungsmustern an die Akteure in sozialen Interaktionen, die von Existenz, Fortbestand oder Verschwinden einer Gruppe zeugen.18 Eine Forschung, die der kontingenten Vielheit anthropogener Humankategorisierungen und Gruppenbildungen ebenso Rechnung trĂ€gt wie ihrer prozesshaften Wandelbarkeit, den Praktiken ihrer Aktualisierung und Befolgung im jeweiligen Kontext konkreter sozialer Interaktionen wie schlieĂlich der kognitiven Tendenz, sie zu simplizistischen und naturalisierten Kategorien zu reifizieren, muss nicht nur hergebrachte Konzepte von Grenzen und Gruppen kritisch hinterfragen. Sie muss auch Grade der Relevanz von Differenzen und ihre vielschichtigen Ăberlagerungen und Ăberschneidungen in den Blick nehmen, muss auch die historische und situative Wirksamkeit oder Unwirksamkeit dieser Humankategorisierungen und Gruppenbildungen in diesen konkreten sozialen Interaktionen untersuchen. Sie sucht demnach Antworten auf die Frage: âWelche Differenz ist wo und wann in Kraft?â19 â oder genauer: âWelche Differenz wird wo und wann von welchen Akteuren mit welchen Konsequenzen handelnd geschaffen?â
LĂ€ngst ist Migration ein etabliertes Themenfeld der sozial- und kulturhistorischen Forschung â vor allem in den Disziplinen der neueren Geschichte, aber auch in der Mittelalterforschung. Schon sehr frĂŒh wurde sie als ein aussichtsreicher Gegenstand vormoderner Globalgeschichte empfohlen.20 Viele der Untersuchungen nehmen konkrete Akteure, ihre Interaktionen, Kategorisierungen und Gruppenbildungen in den Blick.21 Zwar wird in der Handbuch- und Lexikaliteratur oft die Existenz einer alle Epochen umfassenden historisch-soziologischen Migrationsforschung konstatiert, die angefĂŒhrte Literatur spart jedoch meist entweder die Zeit von 500 bis 1000 treffsicher aus oder sie setzt bei der Untersuchung von Migrationen in dieser Zeit eben doch ethnische Deutungen zentral.22 Wer sich auf die Suche macht nach Literatur zu MigrationsphĂ€nomenen in der ersten HĂ€lfte des mittelalterlichen Jahrtausends, wird daher schnell den Eindruck bekommen, dass sich die historischen Personen tatsĂ€chlich ânur als Race, Volk, Partei, Korporation, Familie oder sonst irgendeiner Form des Allgemeinenâ23 wahrgenommen hĂ€tten, wie Jacob Burckhardt es dem mittelalterlichen Menschen unterstellt. Ausgangspunkt von Studien zur Migration im FrĂŒhmittelalter ist fast immer eine ethnisch gedachte soziale Gruppe â und dementsprechend sind Ethnonyme oder entsprechende Appellativa hĂ€ufig auch Titelbestandteil.24 Die gemeinte Gruppe wird dabei hĂ€ufig sowohl als primĂ€re Einheit des historischen Geschehens als auch als primĂ€re IdentitĂ€t in der Wahrnehmung der Einzelakteure vorausgesetzt und oft genug gerĂ€t sie darĂŒber zugleich zum Ergebnis der Untersuchung: Wie wurden die Langobarden, was sie zuvor schon waren? Viele kritische Publikationen beschrĂ€nken sich derweil weitgehend auf eine Auseinandersetzung mit ethnischen Deutungen im Allgemeinen oder nehmen EthnizitĂ€t trotz mehr oder minder deutlicher Kritik an diesem Paradigma zum Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen.25 Andere versuchen mit soziologischen Methoden, die ethnographischen Diskurse literarischer Texte des FrĂŒhmittelalters als Beleg fĂŒr die groĂe staats- und gemeinschaftsbildende Bedeutung ethnischer IdentitĂ€ten in diesen Jahrhunderten zu deuten.26 Versuche, Einzelmigrationen oder Migrationen in Gruppen anderen Zuschnitts auch im FrĂŒhmittelalter zu untersuchen, bleiben dagegen marginal.27 Dabei fĂŒhren die theoretischen Einsichten in die RelativitĂ€t, PerformativitĂ€t und Kontingenz von SozialverhĂ€ltnissen letztlich zu der Forderung, nicht nur das Konzept eines Sozialhandelns in primordialen Ethnien zu ĂŒberwinden. Vielmehr muss schon die Frage nach der Entstehung und Verstetigung sozial konstruierter Ethnien zurĂŒckgewiesen werden, weil sie zu eng gestellt ist und auf zu vielen Vorannahmen beruht. Soll EthnizitĂ€t konsequent als soziales PhĂ€nomen aufgefasst werden, so kann sie nur auf der Grundlage ihrer konkret beobachtbaren sozialen Wirkungen, den Spuren von Gruppenbildungen, erforscht werden. Daher soll hier historischen Akteuren bei der performativen und iterativen Re-Konstruktion ihrer Welt in umfassender Weise kritisch gefolgt werden, um Humankategorisierungen und Assoziationen identifizieren und beschreiben zu können, welche sie handelnd schaffen. Der Zuschnitt eines Gegenstandsbereiches fĂŒr eine solche Untersuchung darf dabei nicht bereits eine bestimmte Deutung nahelegen, weshalb sich ein lokales Zentrum mit seinen komplexen SozialverhĂ€ltnissen in weitrĂ€umigen BezĂŒgen anbietet. Auch der globalhistorische Ausgangspunkt dieser Arbeit drĂ€ngt dazu, sachlich begrenzte PhĂ€nomene in weiten rĂ€umlichen und zeitlichen ZusammenhĂ€ngen zu betrachten, die diese Begrenzung hinterfragbar und durchlĂ€ssig werden und auch die Interferenzen zwischen lokalem Sozialhandeln sowie groĂrĂ€umigen VerhĂ€ltnissen und Praktiken hervortreten lĂ€sst.28 Gerade in Bezug auf Migration ist eine solche Herangehensweise gefordert worden, um einen methodischen Nationalismus zu ĂŒberwinden, der die Bedeutung national-staatlicher Körperschaften ĂŒberbetont, indem er sie zum unhinterfragten Bezugsrahmen der Forschungen werden lĂ€sst.29 Analog dazu muss ein methodischer Ethnozentrismus zurĂŒckgewiesen werden, denn erst im Gesamtbild einer umfassenden Analyse des Sozialhandelns konkreter Akteure in ausreichender Dichte mit seinen vielfĂ€ltigen BezĂŒgen kann die Relevanz einzelner Humankategorisierungen und Gruppenbildungen sinnvoll erfasst und ihre jeweilige âMachartâ herausgearbeitet werden. Letztlich geht es der vorliegenden Studie darum, einen Beitrag zu leisten zu der Debatte um die Bedeutung von EthnizitĂ€t â zugleich âmeaningâ als auch ârelevanceâ ethnischer Zuschreibungen in der sozialen Praxis â oder allgemeiner zur Erforschung des kontingenten Geflechts aus Humankategorisierungen in frĂŒhmittelalterlichen Gesellschaften. Diese ĂŒbergeordnete Fragestellung ergibt sich ebenso aus der Globalgeschichte wie der thematische Ansatzpunkt zu ihrer Bearbeitung, wird doch Migrationssituationen schon seit Langem besondere Aufmerksamkeit der globalhistorisch ausgerichteten Forschung gewidmet und lassen diese doch aufgrund womöglich neuer Kategorisierungen zugleich erwarten, dass das Sprechen ĂŒber Grupp...