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Neunzehnhundertfünfundsechzig
Die Chronik eines Jahres, gespiegelt an unserer Gegenwart
- 408 Seiten
- German
- ePUB (handyfreundlich)
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Neunzehnhundertfünfundsechzig
Die Chronik eines Jahres, gespiegelt an unserer Gegenwart
Über dieses Buch
"Achtundsechzig" fing irgendwie schon '65 an.So die en passant dahingeworfene Bemerkung eines Düsseldorfer Werbemenschen Anfang der neunziger Jahre.Möglich, dass Werner B. nach einem Vierteljahrhundert damals nicht so falsch lag.Schauen wir doch heute einmal genauer hin!
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Information
Dezember
Mit dem vollendeten 65. Lebensjahr gehen in diesen Wochen die letzten in Rente, die noch im 19. Jahrhundert gezeugt worden waren. Die allermeisten haben ihre komplette Schul- und Berufsausbildung noch im Kaiserreich abgeschlossen, sehr viele junge Männer haben zu seinem Ende freiwillig oder unwillig noch seine Uniform getragen und die Knochen hingehalten. Für die Akademiker fällt zumindest ihre komplette Schulzeit noch ins Kaiserreich, denn sogenannte „Notabiture“ waren keine Erfindung des nachfolgenden „Tausendjährigen Reiches“. Ist man Lehrer geworden, so ist für viele in ein paar Wochen zu Ostern Schluss - man musste sich also angesichts der anstehenden Veränderungen in einigen Bundesländern, was die Terminierung künftiger Schuljahre angeht, nicht mehr umgewöhnen. Theoretisch, denn ein Wort wird für die nächsten zehn Jahre eine steile Karriere machen: Lehrermangel.
Der knapp Achtjährige wird bis weit in die Mittelstufe, also bis Anfang der Siebziger Jahre auf seiner Penne, dem Helmholtz-Gymnasium in Essen, Lehrer antreffen, die nicht nur im Neunzehnten Jahrhundert gezeugt, sondern geboren, in krassen Fällen sogar eingeschult worden waren. Und dabei war (und zum Glück: ist noch immer) die Helmholtzschule nicht irgendein popeliges Gymnasium aus der dritten Reihe. 1971 in NRW die erste weiterführende Schule mit einem „Sportzweig“ ab der Mittelstufe, analog zu den klassischen sprachlichen, naturwissenschaftlichen oder musischen Spezialisierungen. Auch die „reformierte Oberstufe“ mit dem noch heute aktuellen „Kurssystem“ der Leistungs- und Grundkurse hatte auf Helmholtz ihre Premiere einige Jahre vor den anderen Gymnasien, und dennoch: frische, junge Lehrer konnte man sich damals sogar auch dort nicht schnitzen. So wird der Quartaner und noch der Tertianer neben Details pflanzlicher Staubgefäße, chemischer oder binomischer Formeln, den Tücken geometrischer Flächenberechnungen oder klassischer Sätze und Sonaten viele Geschichten vom Chemin des Dames und seinen typischen Bodenbeschaffenheiten, den Eigenheiten der Ardennen-Hügellandschaft rund um Verdun oder dem stupiden Dienst auf der in diversen Häfen nutzlos vor sich hin rostenden Kaiserlichen Hochseeflotte erfahren, deren willkürlicher und politisch geradezu idiotischer Anschaffung wir übrigens bis heute die Sektsteuer verdanken.
Völlig unnötig - all diese Geschichten und in keinem Lehrplan vorgesehen, war er doch zudem vom „nahen“ Großvater mit Geschichten WK 1 und 2 und zu Hause mit Geschichten WK 2 inklusive Geschichten aus der folgenden Zeit „hinter Draht“ (zum Glück englischem, dazu noch in der Britischen Zone gespannt) bestens versorgt. Doch, wenn man den Blick vom kleinen eigenen Visier aufs Große und Ganze richtet, so wird auch hier deutlich, welche Lücken und: wie weit reichende! der Hitlerkrieg nur an dieser einen Stelle gerissen hatte. Bis in die große Politik hinein: zeigt es doch bei Adenauer, dass es 1945 nicht nur Hekatomben Toter, sondern auch schwer Belasteter gab, die zumindest für die erste Reihe nicht mehr in Frage kamen. Zu Gericht, an der Universität, in Krankenhäusern, an Schulen und in Behörden konnte man es sich dagegen nicht leisten, allzu genau hinzusehen.
Adenauers schlichter Satz: „Ich muss die Menschen nehmen, die da sind, andere gibt es nicht.“ ist nicht zu bestreiten und auch nicht zu kritisieren. Naseweise Kritik, die sich daran bis in unsere Tage noch immer abarbeitet, ist so wohlfeil wie blind für den historischen Kontext. Angesichts der immensen Aufgaben, inklusive der über fünfzehn Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen nichts als ein altkluges, Korinthen kackendes Nach-Urteil zeitgenössischer, in der Regel nur rhetorischer Bessermacher, die zum Glück nie Diktatur und Krieg erlebt haben. In Summe abwegig und bei ihrem in der Regel dürftigem Wissen und klaffender Wissenslücken um die in Rede stehende Zeit „voll“ peinlich.
Im Westen war es immerhin möglich, nach und nach und spätestens ab Mitte der Sechziger Jahre das Visier auf „unhaltbare“ Fälle schärfer einzustellen; manche schlichten Gemüter glauben tatsächlich bis in die heutige Zeit noch, dass nebenan im Mauergärtchen alle tausendjährigen Altfälle und Täter verschwunden und/oder entlarvt waren. Plumpe Propaganda, auf die man nur zu gerne hereinfallen wollte, hat eine sehr gedehnte Halbwertzeit. Braun und Rot haben sich in dieser Hinsicht bezogen auf den allzu bereitwilligen deutschen Zeit- und Volksgenossen hervorragend ergänzt und gegenseitig befruchtet.
*
Beleidigter Protest in Godesberg: Schröders Außenamt beschwert sich scharf beim russischen Botschafter wegen des „Prawda“-Artikels von Mitte November. Man hatte nicht nur, wie berichtet, Lübkes Auftritt in Westberlin gerügt, sondern auch seine Vergangenheit im Hitlerreich angesprochen. In beiden Angelegenheiten hatte Moskau im Ton und in der Sache übertrieben. Doch der Protest war es ebenso, taktisch ohnehin eine Dummheit; vierzehn Tage hatte man dafür gebraucht, ihn in die Welt zu setzen - man kann sich plastisch vorstellen, wie es aus den hohlen Köpfen geraucht hatte. Das letzte Schröder-Jahr des AA hatte gerade begonnen, in Westberlin dasjenige von Willy Brandt als Regierender Bürgermeister. In Berlin werden unruhige Zeiten anbrechen, nicht nur wegen eines fehlbesetzten direkten Nachfolgers und eines uninspirierten Nach-Nachfolgers. Im Auswärtigen Amt konnte alles nur besser werden. Wird es auch.
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Südafrika, 1. Dezember 1965
Vor fünf Jahren hatte man das Commonwealth verlassen. Zur Feier des Tages hat Pieter Willem Botha, der Mann ist vorläufig noch „nur“ Städtebauminister, eine Idee: Jedes Paar, jedes weiße Paar versteht sich, solle doch bitte zum Jubiläum ein Kind zeugen. In deutschen Ohren klingt das besonders bizarr. Anderseits: Warum hatte ER - bei so vielen gloriosen Anlässen und Jubiläen - die Volksgenossen nie in dieser Form animiert? ER hielt es wohl angesichts des dauerhaften nationalen Deliriums nicht mehr für erforderlich, und überhaupt - solch irdische Dinge...standen bei IHM ja ohnehin nicht auf der Tagesorrrdnung. Und außerdem - man hatte ja schließlich auch eine vortreffliche Organisation für so etwas: „Lebensborn“. Lauter rassereine Zuchtstuten, jederzeit deckungsbereit, wenn die Helden-Hengste nach dem nächsten Sieg auf einen Sprung vorbei kamen.
Die geforderten „Botha-Babys werden also nun etwa Mitte fünfzig sein! Und wer weiß - vielleicht ist ja das eine oder andere Lebensborn-Kind mit seinen Eltern nach der Götterdämmerung am Kap gelandet. Nicht alle strammen Nazis, die sich vom Acker gemacht hatten, gingen nach Südamerika oder in den arabischen Raum. Deutsch-Südwest („Namibia“ sagt auch von den Nachfahren kein Mensch, bis heute) und das rassisch so hübsch sortierte Südafrika hatten für diese Kreise auch eine nicht unerhebliche Anziehungskraft. Außerdem musste man sich weder mit Spanisch, Portugiesisch oder gar Arabisch herumschlagen. Für Norddeutsche ist das Afrikaans, was die meisten Weißen sprechen, eine Variante des Niederländisch-Niederdeutschen - so wie sich Leute aus der Eifel und dem Erzgebirge am Ende irgendwie auch verstehen, und ein paar Brocken Englisch konnte man ja zur Not aufpicken.
Die Babys wurden also produziert zum Gedeihen von Apartheid und Rassismus, das eine oder andere gleichsam schon in zweiter Generation, interkontinental sozusagen. Botha wird in den folgenden Jahren noch in weit mehr Angelegenheiten als dem Hausbau das Sagen bekommen: nicht gut für das Land, konkret die schwarze Mehrheit. Sein Nachfolger wird das isolierte und moralisch abgewirtschaftete Schurkenregime halbwegs gesittet abwickeln. Es ist die Zeit der Abwicklungen auch anderswo: Zwischen 1989 und 1994 gelingt mit F.W. de Klerk ein würdiger und vor allem friedlicher Übergang zu gerechteren Verhältnissen. Man schafft es sogar in bemerkenswerter Weise, vergangenes Unrecht miteinander zu besprechen. Alle Gruppen sitzen gemeinsam am Tisch. Neben dem großen Nelson Mandela, den mehr als ein Vierteljahrhundert Haft weder hatte brechen können, noch ihn verbittert und zur Versöhnung unfähig zurückgelassen hatte, sei hier endlich einmal ein Mann der Kirche ohne Einschränkung lobend erwähnt, dem auch ein großer Anteil am Gelingen zukommt: Desmond Tutu, Jahrgang 1931. Zwei läppische Jahre jünger als Dr. ML King, dem in dieser Hinsicht alles versagt blieb. Bitter für King und seine Familie, noch bitterer für sein Land in der Langzeitperspektive.
Am bittersten: Sogar ein schwarzer Präsident wird nicht in der Lage gewesen sein, diesen Befund trotz zweier Amtszeiten zu widerlegen, im Gegenteil: „Vereinigt“ sind diese in jeder nur denkbaren Hinsicht ohnehin sehr heterogenen Staaten weniger denn je. Die Gefahr, dass das Obama-Pendel sehr übel zurückschlagen könnte, ist real. Das Gezücht der Nixon-Ära und das Gesindel aus den Jahren des doppelten Bush - für alle globalen Zeitgenossen bleibt noch ein klein wenig Hoffnung, dass man sich ihrer nicht etwa irgendwann nostalgisch-verklärend erinnern möge.
Das bedeutet aber, dass man das Tea-Party-Trump-Pack vom vermeintlich hohen europäischen Ross nicht nur hochnäsig und angewidert ridikülisiert, sondern ernst nimmt und bekämpft, mit harten, am besten ohne Bandagen. Limbaugh als Fernsehhetzer mag für uns eine weitere durchgeknallte mediale Witzfigur sein, für mindestens fünf Achtel der US-Bürger ist er es keineswegs, sondern derjenige, der die Tagesparole herausschreit. Man kann unsererseits nur diejenigen stärken, die zum noch nicht kontaminierten Rest gehören. Nicht mit guten Worten - die fallen ihnen schon selber und treffender ein. Limbaugh und das andere Geschmeiß ernährt sich von Geld und der moralisch verrottete Teil des „Großen Geldes“ schiebt es ihm hin und erwartet die tägliche Dosis Hetze und Verblödung für die im Wortsinne breite Masse.
Die anderen müssen in Stand gesetzt werden, ihm medial immer wieder den Stecker zu ziehen, bis zum Kurzschluss. Dann kann man immer noch über das TPTP Witze machen, entspannt, nach getaner Arbeit. Vorläufig brauchen die Leute mit Verstand und Anstand in den USA nur eines: GELD. Der integre Teil des „Großen Geldes“, den es, jawohl! auch gibt, wäre verblüfft, irritiert, vielleicht auch einen Moment beschämt: Euros von Europäern für amerikanische Anliegen? Ja, warum denn nicht, verdammt und zugenäht!? Am Ende wären sie ganz sicher froh, auch dank der Ermutigung. Doch warum nicht auch das Geld annehmen? Hopp&Gates, Otto&Soros, Filmmogule, Wissenschaftler, Sportler, Musiker schmeißen zusammen für eine gute Sache. Euros und Dollars, damit der Nordatlantik zwischen Shannon und Ellis Island wieder schmaler werden möge. Genau das nämlich ist die Horrorvorstellung des TeaPartyTrumpPacks. Europäer neigen dazu, vermutlich aufgrund der Erfahrungen dieses, unseres vermaledeiten 20. Jahrhunderts, sich klein zu machen und sich in ihren Verzagtheiten ständig irgendwo zu verheddern. Doch auch wir können ein wenig am Rad mitdrehen, noch immer - wieso eigentlich nicht? Auch, ob für amerikanische Fanatiker und Kryptofaschisten ihre feuchten Träume wahr werden oder eben doch nicht. Im Englischen ist das Gegenteil von Traum nicht wie im Deutschen abhängig von einer Vorsilbe - wäre doch eine schöne Vorstellung, wenn das üble Gesocks dort hingeriete, wo es hingehört: Ins tiefe Schattenreich der Nacht. Nachtrag: Fünf Wochen nach Trumps Entfernung aus dem White House und sieben nach dem mit knapper Not vereitelten Putsch des Landesverräters haben die Metastasen Limbaugh besiegt. Wenig wahrscheinlich, dass man den bigotten Hetzer verbrannt hat - nebbich! Ein pompöser Eichensarg fifteen feet under plus Granitplatte reichen vermutlich auch.
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In Bonn endet die mehrtägige Debatte zu Erhards Regierungserklärung.
Drei Wochen danach. Man hat den Eindruck, dass alles in Zeitlupe abläuft. Liegt es an der Erschöpfung, der Auszehrung der Beteiligten oder herrscht das Gefühl vor, dass die Verhältnisse neuerdings mehr Bedenk- und Redezeit benötigen? Schaut man auf das „Familienphoto“ des Kabinetts, kommen dem Betrachter andere Gedanken: Der greise und allzu häufig nur noch teilorientierte Bundespräsident inmitten alter, in einigen Fällen ebenfalls schon der Vergreisung anheimgefallener Männer. Zwei Ausnahmen: Eine Frau - Elisabeth Schwarzhaupt, in punkto Alter allerdings den Herren angepasst und für „Gedöns“ zuständig, so die Formulierung eines großen Frauenverstehers gut drei Jahrzehnte später. Die einzige echte Ausnahme ist ein wirklich junger, wenn auch keineswegs jugendlich wirkender Neuling im Kabinett: Der „Lange Klare aus dem Norden“: Gerhard Stoltenberg. „Jugend forscht“ könnte man sagen, erst zwei Jahrzehnte später unter Kohl wird er „klassisch“ ressortieren: Finanzen, später Verteidigung.
Zuvor wird er als Ministerpräsident „Schläfrig“-Holstein für gut zehn Jahre ein wenig aufgeweckt haben: wirtschaftlich, administrativ. Als er nach Bonn ging, überließ er das Land einem dreisten, in letzter Konsequenz sehr kranken Emporkömmling. Auch dieser hatte wie KT eine „Sprösslingin“ aus dem Bismarck-Clan geehelicht. Wenige Jahre später endete alles im Desaster - für alle Beteiligten. Das Land ist wieder zurückgefallen, relativ und absolut. In Fragen politischer Hygiene ist es seit Jahrzehnten ein Sanierungsfall - in der Fläche, vor allem aber auch in Kiel selber. Hier hatte in jüngerer Vergangenheit - wie schon im ganzen Land zehn Jahre zuvor - eine Frau neuerlich nicht nur „keine Fortune“, sondern als Stadtoberhaupt keinen Instinkt. Viele Jahre hatte sie den Politikbetrieb in ihrem Hamburger Welterklärerblatt publizistisch begleitet, kaum selber in einem - vergleichsweise schlichten - Amt scheitert sie deswegen, weil sie triviale Spielregeln auf geradezu anrührend naiv-doofe Weise missachtet. So kann man sich als Land auch überflüssig machen - man sollte darauf achten, dass es irgendwann noch Körperschaften gibt, die bereit wären, Fusionen einzugehen.
Im Fall von Berlin und Brandenburg ist der Zeitpunkt schon lange verpasst: in letzter Konsequenz holt sich dort, wo nichts mehr passiert, die Natur alles zurück. Der ehemalige Zentralflughafen soll nach einem „Bürger“-Entscheid Wiese werden - man arbeitet der Versteppung also aktiv zu. Auch an diesem Beispiel wieder wunderbar zu beobachten: Das Sagen haben in dieser grotesken Agglomeration Leute, die wohl älter, aber nie erwachsen geworden sind; der polnische Philosoph Leszek Kolakowski konstatierte in seinem 1967 veröffentlichen „Traktat über die Sterblichkeit der Vernunft“, dass die meisten Weltanschauungen und Religionen nichts als Instrumente zur unbegrenzten Verlängerung der Kindheit seien. Der Natur ist das alles wurscht. Sie hat da ein sehr gelassenes Zeitmaß. Bei dem „geplanten“ sogenannten Flughafen allerdings werden es noch sehr viele Zeitgenossen erleben, nach der minutiösen Beräumung durch „Urban Mining“. Die letzten übriggebliebenen hohlen „Wutbürger“ gegen den „Fluglärm“ werden in ihrer endgültig stillgelegten Senke zügig zugewuchert werden. Ihren Bocksgesang: „So haben wir aber nicht gewettet!“ wird niemand mehr hören können, hören wollen. Hilfe für infantile und demente Greise ist dann auch nicht mehr um die Ecke zu erwarten.
Schleswig-Holstein wollte der Weltstadt Hamburg fliegerisch übrigens auch einmal in die Quere kommen: Kaldenkirchen oder so ähnlich hieß das wohl einmal. Oder Kaltenkirchen? Letzteres hätte besser gepasst - liegt aber dann doch wohl eher am noch immer tiefschwarzen „linken Niederrhein“. Nebbich, verweht.
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Katarina Witt kommt am 3. Dezember direkt an der Schnittstelle zum Klassenfeind und nicht etwa in Karl-Marx-Stadt zur Welt. West-Staaken heißt die Siedlung, direkt am westlichsten Punkt Spandaus, also im Osten gelegen. David Bowie soll einmal in seiner Berliner Zeit Ende der Siebziger/Anfang der Achtziger Jahre gesagt haben, Berlin, genauer Westberlin, sei die einzige Stadt der Welt, wo in alle Richtungen Osten ist... Wer lebte dort in der östlichen Sperrzone, im Jahre 65, in West-Staaken? In aller Regel Waffen- und Geheimnisträger, jedenfalls ideologisch geschultes, gefestigtes, uneingeschränkt regimetreues Personal. Witts eigentliche Heimatstadt, man hört es noch immer an ihrem eigenartig verschwurbelten Genuschel, ist allerdings in der Tat Karl-Marx-Stadt, am Fuße des Erzgebirges. Wenn man von ihr jenseits der Eisflächen Bilder vor allem aus der zweiten Hälfte der Achtziger sieht, kann man sich nur schwer vorstellen, dass es ihr sehr viel ausgemacht hätte, wenn diese vom Krieg und dem, was ihm für vierzig Jahre folgte, schwerst heimgesuchte Stadt heute noch immer so hieße - vorausgesetzt, die Gunst des Regimes wäre ungebrochen, vice versa.
Dem ehemaligen Sport- und Lateinlehrer, dessen Enkel in jenen Jahren in unserem Tennisclub Trainerstunden erhielten, kamen bei diesen frischen Bildern aus der Volkskammer oder anderen Lokalitäten des Arbeiter- und Bauern-Reichs schwarzweiße Wochenschauszenen aus seiner Kindheit wieder hoch. Er sagte, für ihn sei neben den regelmäßig und kollektiv im Anstoßkreis „deutsch“ grüßenden Schalkern fünfzig Jahre zuvor im Nachhinein dieses strahlende, stets grotesk überschminkte Jungmitglied der Staatspartei im Blauhemd die erbärmlichste Selbst-Erniedrigung von Sportlern auf deutschem Boden. Zudem noch geherzt von ekelhaften und fistelnden Greisen, obwohl man als Sportler vom Wortsinn her eigentlich zur Zerstreuung, mitnichten aber, um beim Publikum Ekel zu erregen, angetreten sei.
KW müssen diese Szenen und Bilder, die anlassweise immer wieder auftauchen, peinlich sein. Sie ist zwar hochgradig eitel, aber nicht doof. „Das schönste Gesicht des Sozialismus“: welch ein Brandmal! Irgendwann fasste sie den Entschluss, angefeuert von einem unfassbaren Honorar, der Welt via Playboy den Rest zu zeigen. Zieht man Make-up, Digitaltechnik und die handelsüblichen Fotografen-Tricks ins Kalkül, war das Ergebnis eher mäßig, etwa fünfkommafünf. Ansonsten möchte sie die Öffentlichkeit seit drei Jahrzehnten glauben machen, dass ihr die Zeit in „Amerika“ zu einem Schuss Weltläufigkeit verholfen habe. Jeder, der ein bisschen von der Welt wirklich kennt, merkt nach ein paar Minuten: alles Fassade. Ihre ewig gleiche lärmende, keckernde Aufgekratztheit in nach wie vor sächsischem Timbre erinnert an den Volksgenossen Rühmann 1945ff. Wenn Regime-Profiteure post festum lärmend zur Tagesordnung drängen, ist das bei den namenslosen Zeit- und Volksgenossen populär, leider menschlich, allzu menschlich, ob in Essen 1955 oder Chemnitz 1995. Letzter Punkt zum Thema „Weltläufigkeit“: Man sollte sie sich weniger nackt gönnen, als auf „Englisch“. Mit dem schwäbischen Sprachschöpfer G.Oettinger hätte sie in Las Vegas durchaus Chancen auf Kabarett- oder Slapstick-Bühnen: „Guenzi&Kati“ - RCD. Real Crazy Denglish. By the way: Gleich am nächsten Tag kommt noch ein weiterer Sportler zur Welt, dem man auch seine sächsische Klangfarbe bis heute „anhört“. Anders als die feuchte Phantasie- und Lichtgestalt der widerwärtigen Zittergreise, bis weit über deren Ende hinaus noch aktiv im Vereinten Deutschland, dabei acht Jahre National- nicht mehr nur „Auswahlspieler“, drei Mal sogar Torschützenkönig der Bundesliga: Ulf Kirsten, „der Schwatte“, aus Riesa. Netter Typ.
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Die „Hörzu“ stiftet die „Goldene Kamera“. Dieser Preis, nur hin und wieder sogar eine wirkliche Auszeichnung echter Qualität, wird alle Zeitbrüche der nächsten Jahrzehnte überleben. Die Branche feiert sich selbst: ein paar Planeten, mancher Satellit, sehr viele schnell verglühte Sternchen. Die Veranstaltung ist zuletzt jedes Jahr immer aufdringlicher geworden und durch immer lächerlicher werdenden Strass-Sprühnebel und hollywoodeske Kitschfanfaren eine Kleinstadtattrappe imaginierten P...
Inhaltsverzeichnis
- Inhaltsverzeichnis
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- Auswahlbibliographie
- Impressum