„Inwendig lernt kein Mensch sein Innerstes erkennen. Denn er misst nach eigenem Mass sich bald zu klein, aber leider oft zu gross. Der Mensch erkennt sich nur im Menschen. Und nur das Leben lehret jeden, was er sei.“ Johann Wolfgang von Goethe (in: Torquato Tasso, 1807, 2. Akt, 3. Szene, Antonio zu Tasso)
Die 1. Kernfrage:
Wer bin ich?
Eine Frage im Interview lautet: „Wer sind Sie?“
Die Frage erstaunt viele Menschen im ersten Moment. Nicht jeder hat sich diese Frage schon gestellt. „Ja, stimmt eigentlich, wer bin ich?“, sagen sie dann. „Was macht mich wirklich aus?“
Dass die Frage so schwer zu beantworten ist, hat nichts mit dem jeweiligen Ausbildungsgrad zu tun. Wir sind es einfach nicht gewohnt, uns derart mit uns selbst zu beschäftigen. Und nur mit uns allein geht es ja auch gar nicht. Es braucht immer einen Spiegel, ein Gegenüber oder ein Umfeld, in dem wir uns erkennen. So wie es Goethe schon sagt: Nur das Leben zeigt uns, was oder wer wir sind.
Warum ist es so wichtig, eine Antwort zu haben auf die Frage „Wer bin ich?“?
Wir könnten doch auch einfach sagen: „Ich will gerne den Job XX haben, Position YY besetzen und das möglichst schnell. Wie ist der Weg dorthin?“
Viele Menschen denken so. Sie denken nicht darüber nach, wer sie sind – sondern nur, welchen Job sie gerne hätten.
Doch wenn wir uns einmal das Navigationssystem unseres Autos anschauen, dann würde uns das GPS nicht ans Ziel bringen können, wenn es nicht auch unseren Startpunkt kennen würde, oder?
Wenn wir nach Bern fahren wollen, dann ist der Weg dorthin doch ein anderer, je nachdem, ob wir in Berlin oder in Zürich oder in Wien starten, richtig?
Unser Navigationssystem muss wissen, von wo wir starten, um uns dorthin zu bringen, wo wir hinmöchten. Ohne Standortbestimmung keine Zielerreichung. Unser Ziel ist der Topjob – und der Startpunkt immer unser „Wer bin ich?“. Es ist wichtig, dies zu verstehen. Denn jeder von uns hat ganz andere Voraussetzungen, eine andere Persönlichkeit, eine andere Geschichte oder auch andere Umstände, aus denen er stammt oder in denen er sich gerade befindet. Selbst wenn wir das gleiche Ziel hätten, würde die eine Person von Punkt A starten und die andere von Punkt B. Allein dadurch sind die beiden Wege zum Ziel völlig unterschiedlich, obwohl beide das gleiche Ziel haben.
Wenn ich in der Beratung merke, dass sich jemand mit der Frage „Wer sind Sie?“ schwertut, frage ich:
Wen bekommt das Unternehmen?
Was kommt da für ein Mensch?
Wenn ich Sie dem Team vorstellen sollte – was sollte ich am besten sagen?
Was bekommt das Team für eine Ergänzung durch Sie?
Wer kommt in dieses Team hinein, in Ihrer Person?
Was bringen Sie für Fähigkeiten und Charaktereigenschaften mit?
Diese Art von Fragen ist für viele Menschen leichter zu beantworten – und immer noch für einige herausfordernd genug. Es braucht manchmal ein bisschen Zeit und Ruhe, um die Antworten zu finden.
Es gibt auch Menschen, die rein auf das Ziel fokussiert sind. Das sind zum Beispiel die Visionäre. Auch sie kommen aber nur am Ziel an, wenn sie auch ihren Startpunkt kennen. Sich selbst.
Genauso gibt es Menschen, die sich nur und ausschliesslich mit ihrem Startpunkt – das heisst mit sich selbst – beschäftigen. Man findet diese Menschen häufig auf Esoterikmessen und in Selbsterfahrungskursen. Sie probieren alles Mögliche aus, um sich selbst zu verstehen, doch wenn sie nicht gleichzeitig ein Ziel vor Augen haben, wo die Reise hingehen soll, dann kommen auch sie nicht weiter.
Startpunkt und Zielpunkt sind demnach beide gleich wichtig. Und was noch wichtig ist, ist auch eine gewisse Form der Achtsamkeit. Ich glaube sogar, wie schon gesagt, dass die Achtsamkeit und das Sich-Zeit-Nehmen für den eigenen Rückzug genauso zu den Erkenntnissen führen. Genauso gehört es dazu, wirklich ehrlich zu sich zu sein, sich selbst zu trauen bzw. zu vertrauen. Auch auf diesem Weg gelangen wir zu den Informationen, die wir haben möchten.
2 hilfreiche Fragen unterstützen diesen Prozess:
Was gibt mir Energie,
was raubt mir Energie?
Welche Menschen habe ich gern
in meiner Umgebung?
Mein Tipp: Stellen Sie sich diese beiden Fragen regelmässig.
Eine lebenslange Schulung
In einer Ausbildung bei Daniela Maiwald und Ronald Zürrer hörte ich vom Begriff des „Schulungsplaneten“. Damit ist gemeint: Wir sind hier auf diesem Planeten Erde, um Erfahrungen zu machen. Die Erde ist kein reiner Spassplanet, nur allein für die Freude und den Genuss gedacht. Diese sind natürlich auch wichtig und schön. Doch wir sind auch hier, um zu reifen und um an uns zu schleifen. Wir sind hier, um unser Potenzial auszuleben, uns einzubringen, auch um Tugenden zu entfalten.
Diesen Gedanken finde ich spannend. Er gibt mir persönlich ein Gefühl von Vertrauen, dass die Dinge im Leben in sich stimmig sind. Jeder von uns hat seine ganz persönlichen Herausforderungen und Themen, an denen er wachsen darf. Und zusammen ergibt es ein rundes Bild – unser eigenes Leben und auch das der Menschen und der Gesellschaft, die uns umgibt. Wenn jeder Mensch das Leben als eine grosse Reise begreift, auf der wir alle mehr und mehr lernen, dann wird das Leben für uns alle zu einer wunderbaren Erfahrung.
Problem, das Wort stammt aus dem Griechischen (próblema) und bedeutet „Klippe, Hindernis“, auch „das, was zur Lösung vorgelegt oder vorgeworfen“ wurde. Wir bekommen also etwas in den Weg gelegt, um daran wachsen zu können. Statt mich über ein Problem zu ärgern oder daran zu verzweifeln, könnte ich auch sagen: „Ich hab ein Problem, ich darf wieder wachsen!“
Wenn ich diesen Gedanken in meinen Beratungen und Trainings anspreche, dann sagen viele: „Stimmt, das macht Sinn. Jetzt sehe ich vieles anders. Ich spreche jetzt doch noch mal mit meinem Chef (oder Kollegen), weil ich erkenne, dass er mich in Wahrheit unterstützen will auf meinem Weg!“ Diesen Gedanken möchte ich Ihnen gerne vertiefend an 2 Beispielen zeigen.
2 Beispiele aus der Berufungsberatung
Der kreative Individualist
Mathias (Name zum Schutz der Person geändert) war Mitte 40, als er in meine Beratung kam. Er war sehr unglücklich. Seit 8 Jahren war er schon in seinem derzeitigen Unternehmen tätig und hatte eigentlich eine schöne, ansehnliche Karriere dort hingelegt. Doch er hatte das Gefühl, nicht weiterzukommen. Es war ihm langweilig, er kam nicht mehr voran. Privat war er verheiratet und hatte 2 Kinder.
Von aussen betrachtet wirkte Mathias total erfolgreich. Er hatte eine tolle Position im Unternehmen, seine Projekte liefen rund und er verdiente gutes Geld. Trotzdem fühlte er eine gewisse Leere in sich, auch Frustration und er zeigte die ersten Anzeichen einer Depression. Ich machte das Interview mit ihm. Die Frage „Wer bin ich?“ konnte er nicht beantworten. Man muss dazu sagen: Mathias ist ein sehr technisch orientierter Mann. Seine Stärken und Talente kann er nur schwer benennen.
Ich erklärte ihm den Unterschied zwischen Stärken und Talenten:
Stärken sind Talente plus Wissen plus Können.
Stärken können auch als bewusst und tugendhaft eingesetzte Talente bezeichnet werden. Unsere Talente sind uns von Geburt an gegeben und wir reichern diese im Laufe des Lebens mit angeeignetem Wissen und Können an.
Oft sind wir uns unserer Talente nicht bewusst und denken: „Das, was ich kann, das müssen doch alle Menschen gut können.“ Wir haben gar nicht das Gefühl, dass es ein Talent sein könnte, über das wir da verfügen. Und doch ist es eines.
Mathias tat sich im Verlauf des Interviews auch sehr schwer damit, eine andere Frage zu beantworten: Warum bin ich hier?
Ich schlug ihm vor, mal in seine Bedienungsanleitung zu schauen. Aufgrund seiner technischen Orientierung ist Mathias das Wort Bedienungsanleitung sehr nah und geläufig. Mein Vorschlag sprach ihn an. Ich erläuterte ihm, dass man mithilfe der Biometrie genau erkennen kann: Welche Talente habe ich? Was steht mir für mein Leben wirklich alles zur Verfügung?
Kennen wir unsere Bedienungsanleitung nicht, dann kennen wir unsere volle Funktionalität nicht und können sie folglich auch nicht voll nutzen. Das leuchtete Mathias sofort ein.
Es stellte sich in der Analyse heraus, dass Mathias’ Lebenszweck lautet: „ein kreativer Individualist sein“. Als er das hörte, war Mathias sehr erstaunt. Darüber hatte er noch nie nachgedacht. Seine Tätigkeit im Unternehmen hatte sehr viel mit Führung zu tun und damit, ein erfolgreicher „Macher“ zu sein. Mit Kreativität und auch Individualität hatte er sich selbst und seine Rolle ...