
- 255 Seiten
- German
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eBook - ePub
Über dieses Buch
Die Krise unseres Planeten ist Chance und Herausforderung zugleich, wenn es darum geht, das Schicksal der Menschheit neu in die Hand zu nehmen. Leonardo Boffs leidenschaftliches Plädoyer für eine neue, ökologisch geprägte Spiritualität weist den Weg hin zu einer wahrhaft solidarischen Gemeinschaft, der das Leben insgesamt anvertraut ist.
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Information
Sechstes Kapitel:
Ein neues Paradigma der Zivilisation
Die bisherigen Überlegungen gipfelten in dem Versuch, die Notwendigkeit eines neuen Lebensstils, einer neuen Produktionsweise, einer neuen Verteilung der Güter und einer neuen Art von Konsum plausibel zu machen. Es geht um ein neues Verhältnis zur Natur und zur Erde. Und dies nennen wir ein „neues Paradigma der Zivilisation“; wir werden es im Folgenden genauer analysieren.
1. Überwindung des herrschenden Paradigmas
Der Mechanismus, der unserer aktuellen zivilisatorischen Krise zutiefst zugrunde liegt, scheint die Haltung zu sein, über den Dingen zu stehen. Das letztendliche Ziel wurde von den Begründern unseres Paradigmas der Moderne, Galileo Galilei, René Descartes, Francis Bacon, Isaac Newton und anderen formvollendet zum Ausdruck gebracht. Descartes lehrte, dass unser Eingreifen in die Natur zu dem Zweck erfolgt, damit wir „Meister und Herren“ über die Natur werden (Descartes 1952, 50 – 64). Francis Bacon sagte, wir müssen die Natur so behandeln wie der Folterknecht der Inquisition sein Opfer behandelt: „sie so lange auf die Folter spannen, bis sie alle ihre Geheimnisse preisgibt, sie uns dienstbar und zu unserer Sklavin zu machen“. (vgl. Duchrow/Liedke 1988)
Damit wurde der Mythos vom gewalttätigen Menschen, vom heldenhaften Bezwinger, vom unbeugsamen Prometheus geschaffen, der stolz ist auf die pharaonischen Ausmaße seiner Werke. Mit einem Wort: Der Mensch steht über den Dingen, um aus ihnen die Bedingungen und Mittel seines Glücks und Fortschritts zu bereiten. Er sieht sich selbst nicht als einer, der mit den Dingen zusammen da ist, der ihnen angehört wie umgekehrt sie ihm und der zusammen mit den Dingen Teil des größeren Ganzen der Gemeinschaft des Lebens ist.
Das stellt eine echte Paradoxie dar: Gerade unser Herrschaftswille bewirkt, dass wir selbst beherrscht und den Imperativen einer zugrunde gerichteten Erde unterworfen werden. Die Utopie von der Verbesserung der konkreten Daseinsbedingungen des Menschen hat die Lebensqualität der großen Mehrheit der Menschheit verschlechtert. Der Traum von einem unbegrenzten Wachstum hat zur Unterentwicklung von zwei Dritteln der Menschheit geführt; die Begierde nach einer optimalen Ausnutzung der Ressourcen der Erde hat zur Erschöpfung der lebenswichtigen Systeme und zur Störung des ökologischen Gleichgewichts geführt. Sowohl im realen Sozialismus als auch im Kapitalismus wurde die Basis des Reichtums, die immer die Erde mit ihren Ressourcen zusammen mit der menschlichen Arbeitskraft ist, untergraben.
Heute befindet sich die Erde in einem Zustand fortgeschrittener Erschöpfung. Aufgrund der technologischen Revolution, der Informationstechnologie und des Einsatzes von Robotern bilden wir uns ein, wir könnten auf Arbeitskraft und Kreativität verzichten, und die Arbeiter werden sogar aus der Reservearmee der ausgebeuteten Arbeitskraft ausgeschlossen. Sowohl die Erde als auch die Arbeiterschaft sind verwundet und erleiden einen gefährlichen Blutverlust.
Innerhalb dieses Prozesses gab es also etwas Reduktionistisches und zutiefst Irreführendes; wie schwerwiegend dies ist, können wir erst heute erkennen und entsprechend in Frage stellen.
Die Frage, die hier spontan auftaucht, lautet: Kann man die Logik der Akkumulation und des unbegrenzten, stetigen Wachstums aufrechterhalten und gleichzeitig vermeiden, dass die Ökosysteme zusammenbrechen, ihre Zukunft aufgrund des Artensterbens aufs Spiel gesetzt wird, und die natürlichen Ressourcen, auf die auch die künftigen Generationen ein Recht haben, geplündert werden? Gibt es nicht einen unauflöslichen Widerspruch zwischen unserem herrschenden Paradigma des Lebens und der Erhaltung und Unversehrtheit der irdischen und kosmischen Gemeinschaft? Können wir es verantworten, dieses Abenteuer genauso weiterzuführen, wie wir es bisher getan haben?
Wäre es vom heutigen Problembewusstsein aus gesehen nicht höchst unverantwortlich und deshalb antiethisch, diese Richtung beizubehalten? Ist es nicht dringend an der Zeit, die Richtung zu ändern?
Es gibt Leute, die an die messianische Kraft von Wissenschaft und Technik glauben, die – so behaupten sie – schädlich sein, aber auch retten und befreien können. Angesichts dessen müssen wir bedenken, dass der Mensch sich weigert, von der Maschine ersetzt zu werden, auch wenn er aus einem Prozess Nutzen zieht, der mit Hilfe der Maschinen seine grundlegenden Bedürfnisse befriedigt. Doch der Mensch hat nicht nur einige grundlegende Bedürfnisse, die befriedigt werden wollen, er ist darüber hinaus mit einigen Fähigkeiten ausgestattet, die er entfalten und auf schöpferische Weise ausleben will. Er ist ein Wesen der Teilhabe und der Schöpferkraft: Er möchte nicht nur einen Plan an die Hand bekommen, sondern er möchte auch zu dessen Entwicklung beitragen und sich auf diese Weise zum Subjekt seiner eigenen Geschichte machen. Er hungert nach Brot, aber auch nach Teilhabe, nach Schönheit und nach Dingen, die ihm die Mittel von Technik und Wissenschaft allein auf keinen Fall garantieren können.
Es gibt Leute, die sagen, der Richtungswechsel ist besser für die Umwelt, für die ökologischen Beziehungen insgesamt und auch für die des Menschen, für das gemeinsame Schicksal aller und für die Sicherstellung der Lebensgrundlagen der künftigen Generationen. Doch dafür bedürfe es tiefgehender Korrekturen wie bestimmter kultureller, gesellschaftlicher, spiritueller und religiöser Transformationsprozesse. Genau das schlägt die Erdcharta vor, der wir uns auch anschließen. Unsere Überlegungen möchten diesen Weg weiterbeschreiten und vertiefen.
Mit anderen Worten: Die Option für die Erde verpflichtet uns, uns auf einen Prozess des Paradigmenwechsels einzulassen. Es ist ein Wandel, der notwendigerweise komplex und deshalb dialektisch sein muss, das heißt der all das aus dem Paradigma der Moderne in sich aufnehmen muss, was assimilierbar und förderlich ist, und er muss dies in ein anderes, umfassendes und integrales Paradigma einbeziehen.
Wir möchten versuchen zu klären, was ein Paradigma ist und wodurch es sich auszeichnet.
2. Das Paradigma und seine Grundzüge
Der nordamerikanische Wissenschaftsphilosoph Thomas Kuhn hat in seinem berühmten Buch „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ zwei Bedeutungen des Ausdrucks „Paradigma“ herausgearbeitet: In der ersten, weiteren Bedeutung, meint es „die ganze Konstellation von Meinungen, Werten, Methoden usw., die von den Mitgliedern einer gegebenen Gemeinschaft geteilt werden“ und ein System begründen, mit Hilfe dessen sich diese Gemeinschaft selbst orientiert und die Gesamtheit ihrer Beziehungen regelt (Kuhn 1967, 186; 193 – 198).
Die zweite Bedeutung im engeren Sinne leitet sich von der ersten her und meint „die konkreten Problemlösungen, die, als Vorbilder oder Beispiele gebraucht, explizite Regeln als Basis für die Lösung der übrigen Probleme der ,normalen Wissenschaft‘ ersetzen können“ (Kuhn 1967, 186).
Es ist einleuchtend, dass für uns die erste Bedeutung von Nutzen ist: das Paradigma als eine organisierte, systematisierte und eingeübte Form, uns in Beziehung zu uns selbst und zu den Anderen zu setzen. Es handelt sich um Modelle und Orientierungspunkte für die Auffassung, die Erklärung und das Handeln im Hinblick auf die uns umgebende Wirklichkeit. Das Paradigma etabliert die logischen Beziehungen zwischen allen Ebenen, denn alle sind, so sehr sie sich auch voneinander unterscheiden mögen, miteinander verbunden.
Und hier ist es angebracht, unseren Zugang zur gesellschaftlichen und natürlichen Realität wissenschaftstheoretisch in einem bestimmten Kontext zu verorten (Pelizzoli 1999; Moraes 2004). Jede Kultur organisiert ihre eigene Art und Weise, die Natur, die konkrete Umgebung und die Geschichte zu bewerten, zu deuten und in sie einzugreifen, und unsere Art ist eine unter vielen anderen, wenngleich sie heute auch weltweit dominiert. Deshalb ist es im Prinzip angemessen, dass wir auf jeden Monopolanspruch verzichten, was das von uns entwickelte Selbstverständnis und unseren Vernunftgebrauch in Vergangenheit und Gegenwart betrifft. Damit wird die Tatsache hervorgehoben, dass Wissenschaft und Technik kulturelle Praxisformen wie so viele andere auch sind, die deshalb auf eine bestimmte Kultur mit den ihr eigenen Interessen beschränkt sind. Es handelt sich übrigens um Praxisformen, die immer beschränkt sind, was die Gemeinschaft der Wissenschaftler seit einiger Zeit auch anerkennt.
Es gibt heute viele, die behaupten – ich beziehe mich insbesondere auf die zwei zeitgenössischen Wissenschaftler und Weisen Alexander Koyré (1973) und Ilya Prigogine (1986) –, dass heute der experimentelle Dialog unsere Beziehung zur Natur und zum Universum definiert. Dieser Dialog umfasst zwei konstitutive Dimensionen: verstehen und verändern. Aus dieser Praxis entstanden die moderne Wissenschaft als etwas über der Natur, mit dem Ziel, sie zu verstehen, und die Technik als Handlungsweise mit dem Ziel, sie zu verändern.
Unsere moderne Wissenschaft begann, anderen Formen des Dialogs mit der Natur – wie etwa der Sinngemeinschaft, dem traditionellen Wissen der indigenen Völker, der Magie und Alchimie – die Daseinsberechtigung abzusprechen. Sie verstieg sich sogar dazu, die Natur selbst zu verleugnen, ihre Komplexität zu ignorieren und zu unterstellen, dass sie eine von einer kleinen Zahl von Gesetzen geregelte Maschine sei, die gleichermaßen einfach wie unveränderlich seien (Newton und auch Einstein).
Doch der experimentelle Dialog selbst brachte Krisen und Entwicklungen hervor. Der Kontakt mit der Natur öffnete uns für Nachfragen und neue Problemstellungen; er veranlasste uns zu fragen, wer wir sind, mit welchem Recht wir in die Rhythmen der Natur eingreifen und was unser Anteil an der Gesamtevolution des Kosmos ist. Insbesondere die moderne Molekularbiologie und Genetik leisteten einen unschätzbaren Beitrag, indem sie die Allgegenwart des genetischen Codes aufzeigten: Alle Lebewesen, von der primitivsten Amöbe über die Dinosaurier und Primaten bis hin zum heutigen homo sapiens/demens benutzen dasselbe genetische Alphabet, das aus den vier grundlegenden Buchstaben (der Basensequenz) A (Adenin), C (Cytosin), G (Guanin) und T (Thymin) sowie aus zwanzig Aminosäuren besteht, um sich zu verwirklichen und zu vermehren. Deshalb sind wir alle miteinander verwandt und bilden Glieder der einen, heiligen Kette des Lebens (Watson 2005).
Franz von Assisi hat bereits im 13. Jahrhundert mit seiner kosmischen Mystik das tiefe Band der Geschwisterlichkeit intuitiv erfasst, das alle Lebewesen vereint. Er nannte sie alle in zärtlicher Weise Brüder und Schwestern und behandelte sie mit dem Respekt und mit der Liebe, die ihnen gebühren. Unser Dialog mit dem Universum vollzieht sich nicht nur auf dem experimentellen Weg von Wissenschaft und Technik, sondern auch, indem wir uns andere Zugangsweisen zur Natur aneignen. Alle Arten, in denen sich die unterschiedlichen Kulturen der Welt genähert haben, können dazu beitragen, dass wir uns und unsere Umgebung besser kennenlernen und erhalten. Hier kommt der Sinn für die Komplementarität, die gegenseitige Ergänzung und damit der Verzicht auf die Monopolstellung der Art und Weise der Moderne ins Spiel, die uns umgebende Welt zu deuten. Ilya Prigogine gelangt schließlich zu folgender Frage: „Wie soll man den modernen Wissenschaftsmenschen vom Magier oder der Hexe, ja selbst von dem unterscheiden, was von der menschliche Gesellschaft denkbar weit entfernt ist: dem Bakterium? Denn auch dieses stellt Fragen bezüglich der Welt und entschlüsselt unablässig die chemischen Zeichen, mit deren Hilfe es sich orientiert.“ (Prigogine 1986, 31)
Mit anderen Worten: Wir alle befinden uns in einem Prozess des Dialogs und der Wechselwirkung mit dem Universum. Wir alle schaffen Informationen, und alle können wir voneinander lernen – so wie Viren mutieren, das Plankton sich an die Veränderungen der Ozeane anpasst und die Menschen die Herausforderungen der unterschiedlichsten Ökosysteme aufnehmen. Das an der Komplexität orientierte Denken versucht, aufmerksam für all diese Verbindungen zu sein.
Unsere Zugangsweise zur Wirklichkeit ist nicht die einzige. Wir bilden ein Moment innerhalb eines immensen Prozesses universaler Wechselwirkung, die sich bereits bei den fundamentalen Energieformen in den ersten Augenblicken des Urknalls zeigt und bis hin zu den subtilsten Kodifizierungen des menschlichen Gehirns sichtbar wird.
3. Die Gemeinschaft des Lebens
Heute entsteht ein neues Paradigma, das heißt eine neue Form des Dialogs mit der Totalität der Dinge und ihren Beziehungen. Selbstverständlich ist das klassische Paradigma der Wissenschaften mit seinen berühmten Dualismen wie z. B. der Aufspaltung der Welt in Materie und Geist, der Trennung zwischen Natur und Kultur, zwischen Mensch und Welt, zwischen Vernunft und Gefühl, zwischen dem Weiblichen und dem Männlichen, Gott und Welt … nicht verschwunden. Die Zersplitterung der wissenschaftlichen Disziplinen ist, besonders an den Universitäten und Forschungseinrichtungen, immer noch vorhanden. Weitgehend herrscht immer noch das vor, was Boaventura Sousa Santos (2000) die Monokulturen der Wissensformen nennt (Monokultur der Wissenschaft, des linearen Zeitverständnisses, der Hierarchien, des Universalen bzw. Globalen, der kapitalistischen Effizienz).
Doch trotzdem entwickelt sich aufgrund der aktuellen Krise eine neue Sensibilität hinsichtlich des Planeten als ganzen. Daraus entstehen neue, alternative Denkweisen – das komplexe Denken (Morin), die Chaostheorie (Prigogine), das „Querdenken“ (Novo 2006, 44 – 46) – neue Werte, neue Verhaltensweisen, die von einer immer größeren Zahl von Menschen und Gemeinschaften übernommen werden.
Aus einer solchen vorgängigen Sensibilisierung entsteht nach Thomas Kuhn ein neues Paradigma; es ist noch im Werden, ist noch nicht ganz zur Welt gekommen, doch es lässt bereits die ersten Lebenszeichen erkennen. Es beginnt bereits eine neue Form des Dialogs mit der Natur und mit dem Universum. Dies ist die Grundlage, auf der unsere Option für die Erde aufruht.
Die Erde kann dennoch nicht auf eine bloße Anhäufung von natürlichen Ressourcen und Wohltaten oder auf ein schlichtes Depot physikalisch-chemischer Grundstoffe reduziert werden. Sie ist mit der eigenen Identität und Autonomie eines äußerst dynamischen und komplexen Organismus ausgestattet und erweist sich grundlegend als die große Mutter, die uns nährt und trägt.
Wir wollen die Erde „aus erster Hand“ erfahren: Wir wollen die Brise auf der Haut spüren, ins frische Bergwasser eintauchen, in den noch naturbelassenen Wald eindringen und die Artenvielfalt in ihren unterschiedlichen Ausdrucksgestalten wahrnehmen. Eine Haltung des Staunens entsteht wieder neu. Eine neue Sakralität wird sichtbar, und ein Gefühl der Innerlichkeit und Dankbarkeit kommt auf. Wir möchten natürliche Produkte in unverfälschtem Zustand schmecken und keine gentechnisch veränderten oder von der Industrie und den menschlichen Interessen geprägten Dinge. Der esprit de finesse (Geist des Feingefühls), der von Franz von Assisi und Blaise Pascal so geschätzt wurde, erreicht hier seinen freiesten Ausdruck. Es entsteht eine postkritische „zweite Naivität“ als Frucht der Wissenschaft selbst, insbesondere der Kosmologie, der Astrophysik, der Molekularbiologie und der Genetik. Sie alle haben uns Dimensionen der Wirklichkeit aufgezeigt, die man zuvor nicht geahnt hat: auf der Ebene des unendlich Großen, des unendlich Kleinen und des unendlich Komplexen. Das Universum der Dinge und Lebewesen erfüllt uns mit einem Gefühl der Achtung, der Verehrung und Würde. Eine emanzipatorische Utopie erscheint am Horizont, dank der Freisetzung eines neuen ethischen, ästhetischen, politischen, partizipativen und solidarischen gemeinsamen Empfindens, das ein neues Gefühl der Verzauberung im Hinblick auf das Leben und die Natur hervorbringt.
Der Gebrauch der instrumentellen Vernunft ist nicht die einzige Art, unsere intellektuellen Fähigkeiten einzusetzen. Es gibt auch die symbolische Vernunft und die Vernunft des Herzens, die emotionale und spirituelle Intelligenz und den Gebrauch all unserer leiblichen und geistigen Sinne. Die Vernunft ist weder die erste noch die letzte Instanz des Lebens. Wir sind ebenso sehr Affektivität und Begehren (eros), Leidenschaft, Berührt-Sein, Kommunikation und Aufmerksamkeit auf die Stimme der Natur, die in uns spricht. Diese Stimme ertönt in unserer Innerlichkeit und bittet um Gehör und unsere Aufmerksamkeit (die Gegenwart des daimonion5 in uns).
Wissen ist nicht nur eine Form, die Wirklichkeit zu beherrschen. Wissen heißt auch, mit den Dingen Gemeinschaft zu pflegen. Deshalb sagt Augustinus in der Gefolgschaft Platons: „Wir wissen in dem Maße, in dem wir lieben.“ Diese neue Liebe zu unserem Ursprung und unserer Heimat verleiht uns eine neue Sanftheit und öffnet uns einen höchst wohltuenden Weg der Beziehung zur Natur. Wir bekommen eine neue Wahrnehmung der Erde als einer riesengroßen Gemeinschaft, deren Teil wir sind. Wir sollten besser anstatt von „Umwelt“ von der „Gemeinschaft des Lebens“ sprechen, denn alle Lebewesen sind miteinander verwandt und voneinander abhängig. Wir erweisen uns als verantwortliche Mitglieder dieser Gemeinschaft, damit alle übrigen Mitglieder und alles, was sonst noch dazugehört – vom energetischen Gleichgewicht der Böden und der Luft angefangen über die Mikroorganismen, die Tiere und Pflanzen bis zu den Ethnien und jeden einzelnen Menschen – in ihr in Harmonie und Frieden zusammenleben können.
Letztlich macht sich hier das Gefühl der Notwendigkeit einer neuen Form bemerkbar, Wissenschaft und Technik einzusetzen: mit der Natur zusammen, für die Natur, und niemals gegen die Natur. Es stellt sich also die Aufgabe, alles, was wir tun und denken, zu „ökologisieren“, die in sich abgeschlossenen Begriffe zurückzuweisen, dem monokausalen Denken und einzigen Lösungen zu misstrauen, integrativ zu sein und sich gegen jede Form von Ausgrenzung zu wenden, verbindend zu sein und jede Aufspaltung zu vermeiden, ganzheitlich zu sein und sich jeder Art von Reduktionismus und Verkürzung zu widersetzen, die Komplexität gegen jede Vereinfachung der Dinge ins Feld zu führen. Auf diese Weise wird das neue Paradigma seine Wirksamkeit innerhalb der Geschichte zu entfalten beginnen.
4. Das Universum: Ausdehnung, Selbstschöpfung und Selbstorganisation
Die Begriffe Ausdehnung/Selbstschöpfung/Selbstorganisation machen den historischen Charakter von Universum und Natur deutlich (Freitas Mourão 1992). Die Geschichtlichkeit ist keine Eigenheit, die ausschließlich den Lebewesen mit Bewusstsein, also uns Menschen, zukommt. Die Natur ist keine Uhr, die ein für alle Mal richtig eingestellt worden wäre, sie ist vielmehr das Ergebnis eines immensen kosmischen Prozesses, der sich als Quantenphänomen zeigt: Er ist von Unwägbarkeiten, Möglichkeiten, Bifurkationen, Rückschritten und Sprüngen nach vorne gekennzeichnet. Dieser Prozess ist die Kosmogenese. Die „Quantenuhr“, um in diesem Bild zu bleiben, wurde nur langsam, Schritt für Schritt, eingestellt. Die verschiedenen Seinsarten sind nach und nach aufgetaucht und haben sich von den einfachsten Formen zu höchst komplexen entwickelt. Alle Faktoren, die mit den jeweiligen Organismen ein Ökosystem konstituieren, verfügen über ihre spezifische latente Anlage, ihre spezifische Herkunft in der Zeit und schließlich ihren Zeitpunkt, an dem sie in Erscheinung treten. Sie sind historisch. All diese natürlichen Prozesse haben eine grundlegende Irreversibilität, das heißt Unumkehrbarkeit, zur Voraussetzung, wie sie der historischen Zeit eigen ist.
Ilya Prigogine hat gezeigt, wie die offenen Systeme – die Natur und das Universum sind solche offene Systeme – den klassis...
Inhaltsverzeichnis
- Inhalt
- Einleitung Das Prinzip Erde
- Erstes Kapitel: Die Lebensgeschichte der Erde
- Zweites Kapitel: Die Erde als Gaia und Gemeinsames Haus
- Drittes Kapitel: Die Bedrohungen, denen Gaia ausgesetzt ist
- Viertes Kapitel: Das Ende der Gattung Mensch?
- Fünftes Kapitel: Die Option für die Erde und die Dringlichkeit der Ökologie
- Sechstes Kapitel: Ein neues Paradigma der Zivilisation
- Siebentes Kapitel: Planetarische Ethik und Spiritualität
- Achtes Kapitel: Die Erdcharta: jenseits der Entzauberung
- Neuntes Kapitel: Praktische Vorschläge, um Gaia zu schützen
- Schluss: Feier der Mutter Erde
- Anmerkungen
- Literaturverzeichnis