Ein Phantom der Weltmarkt-Oper?
Verleugnung und Realität der krisenkapitalistischen Transnationalisierung in Zahlen und Fakten
Die genauere Betrachtung hat gezeigt, dass die Globalisierung nicht nur eine neue Qualität des historisch prozessierenden Weltmarkts markiert, sondern die kapitalistische Expansion überhaupt in Kontraktion umschlägt, ganz im Gegensatz zu den offiziellen Interpretationen. Es handelt sich um eine Realparadoxie: Was äußerlich als Expansion über alle nationalen Grenzen hinaus erscheint, stellt innerlich die Selbstzerstörung der Voraussetzungen kapitalistischer Reproduktion dar. Notwendiger Universalismus und notwendiger Partikularismus des Kapitalverhältnisses zerfleischen sich gegenseitig.
Genau das darf das Räsonnement des modernen bürgerlichen Bewusstseins nicht wahrhaben, das sich deshalb in seinem ganzen ideologischen Spektrum bis in den so genannten Linksradikalismus hinein in Ignoranz übt. Diese Ignoranz zeigt sich aber nicht nur im falschen Berufsoptimismus der ökonomischen Theoretiker oder im seichten Moralismus der meisten Kritiker der Globalisierung, wie einleitend gezeigt wurde, sondern auch in einer dritten Variante: nämlich als schlichte Verleugnungs- und Verdrängungsstrategie. Die Globalisierung soll womöglich gar nicht wirklich existieren und nur eine Erfindung von Ideologen sein, oder sie soll überhaupt nur in einer Art Putsch des Neoliberalismus auf dem Gebiet der »Wirtschaftspolitik« bestehen; und wenn es sie ökonomisch doch gibt, dann soll sie keine neue Qualität darstellen, sondern schon immer da gewesen sein und nur ihre oberflächliche Gestalt geändert haben. Auf diesen Verleugnungsdiskurs ist nun näher einzugehen, da er eine bedeutende Rolle spielt. Zumindest einigen Historikern ist der Argumentationsunterschied bewusst:
»Schließlich fehlt es auch nicht an Globalisierungsskeptikern. Sie dürfen nicht mit den zuweilen sehr militanten Globalisierungsgegnern verwechselt werden. Diese teilen mit ihren Widersachern, den Aposteln der Globalisierung, den Glauben, Zeugen einer fundamentalen Umwälzung der gesellschaftlich-politischen Welt zu sein. Die Skeptiker hingegen halten dies für eine Übertreibung und zuweilen sogar das gesamte Reden über Globalisierung für eine ideologische Verschleierung amerikanischer Strategien ökonomischer Kontrolle oder für einen Propagandatrick neoliberal gesinnter Geschäftseliten und Technokraten. So sehen Paul Hirst und Grahame Thompson in der üblichen Globalisierungsliteratur wenig mehr als eine Sammlung von Anekdoten, Impressionen und aus dem Zusammenhang gerissener Einzeltatsachen. Es werde suggeriert, aus deren Addition ergebe sich das geschlossene ›Phänomen‹ der Globalisierung. Hirst und Thompson, die sich auf die wirtschaftlichen Aspekte konzentrieren, vermögen hinter den zahlreichen Beispielen einen solchen Zusammenhang nicht zu sehen« (Osterhammel/Petersson 2004, 15).
Während die beiden Engländer Paul Hirst und Grahame Thompson in ihrem Buch »Globalization in Question« (Hirst/Thompson 1999) die Globalisierung gänzlich in Frage stellen und behaupten, das Kapital investiere überall weiterhin völlig national zentriert, verlegen sich die meisten anderen Verleugnungsstrategen darauf, den qualitativ neuen Charakter der Globalisierung abzustreiten und ähnliche Erscheinungen schon in jüngerer oder gar grauer Vergangenheit ausfindig zu machen.
Historische Geisterfahrer
Die Behauptung, dass die Globalisierung eigentlich schon ein altbekanntes Phänomen sei, hat natürlich vor allem eine Entlastungsfunktion: Das Problem soll entdramatisiert werden, indem es historisiert wird, weil man damit zugleich eine Bewältigungskompetenz suggerieren kann. Womit der Kapitalismus (oder sogar die Menschheit überhaupt) in der Vergangenheit fertig geworden ist, so die direkte oder indirekte Botschaft, damit können wir auch heute fertig werden, ohne gleich die ganze Produktions- und Lebensweise umstürzen zu müssen. Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird usw. In diesem Sinne stellen gerade auch stramm marktradikale Professoren das G-Wort gern in eine »historische Perspektive«, so etwa Peter Bernholz von der Universität Basel in einem Beschwich-tigungs-Dossier der Neuen Zürcher Zeitung:
»Aber bei Globalisierung und Strukturwandel handelt es sich keineswegs um neue Erscheinungen. Tatsächlich sind die mit den neuen Schlagworten bezeichneten Zusammenhänge alt und schon seit mindestens 150 Jahren bekannt« (Bernholz 1999, 11).
Beschworen wird dabei meistens die »Globalisierung« des 19. Jahrhunderts; und in diesem Zusammenhang darf schon mal die Berührungsangst gegenüber dem Marxismus vergessen werden: »Schlag nach bei Marx und Engels« (Bernholz, a.a.O.) heißt es dann; habe doch bereits das Kommunistische Manifest eben die Globalisierung beschrieben und als zivilisatorische Tat gefeiert. dass Marx und Engels die abstrakte Logik einer immanenten Tendenz des Kapitals erfassten und keineswegs einen zu ihrer Zeit globalen empirischen Sachverhalt darstellten, kann dabei ebenso unberücksichtigt bleiben wie der im Kern radikal kapitalismuskritische Charakter ihrer Aussagen (trotz der Schlacken einer aufklärungsideologischen »Fortschritts«Metaphysik im Manifest). Noch weiter zurück greift der US-Historiker Harold James, ein Breitband-Ideologe vom Typus »Mahner und Warner«:
»Das 16. Jahrhundert liest sich wie eine Parabel über die Gefahren der Globalisierung ... Völker standen über große Entfernungen hinweg in Kontakt miteinander (hauptsächlich durch Handelsbeziehungen). Im 16. Jahrhundert nahm dieser Kontakt die Form eines Warenaustauschs an, der die europäischen Staaten mit dem Mittelmeer, dem Atlantik und dem Baltikum verband« (James 2005/2001, 29 ff.).
Rein assoziativ wird hier die Existenz von Handelsbeziehungen überhaupt und »über große Entfernungen hinweg« als Beleg für eine Art Globalisierung genommen, ohne jede Rücksicht auf den historischen Kontext, auf die gesellschaftlichen Formen und auf Quantität und Qualität dieser Beziehungen. Mit demselben Recht könnte man auch schon für die Jungsteinzeit »eine Art Globalisierung« nachweisen, denn bereits in dieser vorgeschichtlichen Epoche gab es weitgespannte, durch Handel vermittelte Verkettungszusammenhänge, wie Artefakte zeigen. Gar nicht weit weg von einer derart grotesken Analogisierung ist Jürgen Horsch, Professor für Finanzwirtschaft und Controlling an der Fachhochschule Hildesheim/Holzminden/Göttingen, der sich dabei ins prähistorische Mesopotamien verirrt:
»Ein historischer Rückblick zeigt, dass die internationale Geschäftstätigkeit bereits eine sehr lange Tradition aufweist und schon Jahrtausende vor Christi Geburt (!) die Stadtkulturen des Alten Orients Stützpunkte außerhalb des eigenen Stadtgebietes gründeten, die als Basis für regen Fernhandel dienten. Gleichwohl (!) ist vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten eine vermehrt zunehmende Internationalisierung der wirtschaftlichen Aktivitäten festzustellen.« (Horsch 2003, 6).
Solches Räsonnement über »vermehrt zunehmende« Internationalisierung, das locker die beiden letzten Jahrzehnte mit Vorgängen »Jahrtausende vor Christi Geburt« zusammenschließt, ist geradezu kabarettreif. Irgendwie knüpften sich halt schon immer Fäden zwischen den diversen menschlichen Sozietäten in der Welt, egal wie dünn sie sein mochten; und daraus kann dann der Entwarnungsdiskurs sein Garn spinnen, selbst wenn die Argumentationsbrücken noch so brüchig und haltlos sind. Der deutsche demokratische Globalisierungs-Philosoph Otfried Höffe gibt diesem grotesken Diskurs die höheren Weihen, indem er in die Globalisierungsdebatte auch noch die Begriffe der »Erinnerungskultur« und gar der »anamnetischen Gerechtigkeit« hineinbastelt:
»Diese schließt eine ›Verblüffungsresistenz‹ ein: die Fähigkeit, nicht jede Neuerung von heute für revolutionär neu zu halten. Im Zeitalter der Globalisierung beispielsweise erinnert sie an eine Reihe sehr viel älterer Globalisierungen: dass sich Philosophie und Wissenschaften, auch...