
- 27 Seiten
- German
- ePUB (handyfreundlich)
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eBook - ePub
Über dieses Buch
Im Beitrag von Philipp Osten geht es um die Geschichte des Impfens als einer Geschichte der Akzeptanz und des Zweifels. Anhand von Quellen aus der Berliner Impfbibliothek beschreibt er einige sozial- und wissenschaftshistorische Wendepunkte der Impf-Geschichte und zeigt, dass Impfskepsis und Impfgegner schon immer dazugehörten.
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Information
Philipp Osten
Pockengift
Geschichten aus der Berliner Impfbibliothek
Pockengift
Geschichten aus der Berliner Impfbibliothek
Bibliotheken und Archive sind derzeit nur eingeschränkt nutzbar. Der ungünstigste Zeitpunkt, so scheint es, nach Recherchemöglichkeiten in einem der Öffentlichkeit ohnehin nicht zugänglichen Bestand zu fragen. Ich hatte von der Berliner Impfbibliothek gehört, einer vor circa 60 Jahren in die Ostberliner Stadtbibliothek gelangten Sammlung. Wissenschaftliche Literatur sei darunter, und Impfgegnerschriften. Auf die war ich besonders neugierig. Die Antwort aus der Berliner Zentral- und Landesbibliothek kam postwendend. Volker Scharnefsky, der Betreuer der Historischen Sammlung, schrieb, einen Katalog gebe es nicht, aber er freue sich, ich sei seit Langem der erste Nutzer.
Eine Woche später saß ich in Berlin zwischen den Regalen und konnte mein Glück kaum fassen, in einer Zeit der geschlossenen Archive zwischen 4000 Sonderdrucken, Zeitungsausschnitten, Flugblättern, Doktorarbeiten und Büchern auf Französisch, Latein, Englisch und Deutsch. Das älteste Buch ist aus dem Jahr 1500, das jüngste von 1940. Der größte Teil stammt aus der Zeit zwischen 1721 und 1921. 1721 wurde zum ersten Mal vor der Royal Society über die Variolation mit Menschenpocken diskutiert, 1921 starb in Weimar der Leiter einer staatlichen »Lymph-Erzeugungsanstalt«. Seine Aufgabe war es, Kühe mit Kuhpocken zu infizieren, um wirksamen Impfstoff zu gewinnen. Auf diesen Arzt, Ludwig Pfeiffer, geht der größte Teil der Sammlung zurück. Nach seinem Tod gelangte sie zusammen mit Beständen anderer staatlicher Impfanstalten nach Halle und von dort nach Ostberlin.
Die Bibliothek repräsentiert die ersten 200 von 300 Jahren europäischer Impfgeschichte. Sie gibt nicht nur den ärztlichen Blick wieder. Die Impfbibliothek bezeugt wissenschaftlichen Streit, politische Debatten und eine unübersehbare Zahl von Irrwegen, Lösungsansätzen und Problemstellungen. Dabei geht es nur um die Pocken. Eine Krankheit, die bei der Eroberung Amerikas 20 Prozent der dortigen Bewohner und in Europa etwa alle fünf Jahre ebenfalls etwa 20 Prozent der nach der jeweils vorangegangenen Epidemie geborenen Kinder tötete. Da ausschließlich Menschen sie bekamen und kein Tier, spekulierte Franz Anton Mesmer, der Entdecker des animalischen Magnetismus, der Ursprung der Pocken sei »anderswo zu suchen, als in der Natur«.1
In einer geschlossenen Bibliothek mitten im leeren Berlin zwischen zweiter und dritter Welle der COVID-19-Pandemie wirken einige der damaligen Debatten frappierend aktuell. Das erhöht die Versuchung, die Quellen aus der Perspektive der Gegenwart zu lesen. Das massive Medieninteresse an Seuchen der Vergangenheit ist ein Charakteristikum dieser Monate. Ein wenig scheint es von dem Wunsch getragen zu sein, auch diese Pandemie rasch zu den erledigten Plagen zählen zu dürfen. Das »Ende der Pandemie« bestimmt die Narration seit ihrem Beginn. »Diese letzte Strecke der Pandemie«, so wird die dritte Welle in politischen Osteransprachen genannt. Wie der brave Soldat Schwejk auf ein Wiedersehen nach dem Krieg »um sechs beim Kelch« hoffen viele auf die Zeit danach. »Stimmung! Es lebe die Nachkriegszeit! Denn bald wird sie wieder zur Vorkriegszeit …«, sangen Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller über die 1920er-Jahre. Einige ahnen: Eine Pandemie endet nicht abrupt mit dem Verschwinden eines neuen Erregers. Er wird sehr langsam variantenreich und endemisch.
Kurz nach der Spanischen Grippe hat Egon Friedell in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit darauf hingewiesen: Jede Zeit bringt ihre eigenen Seuchen hervor. So konstruiert das klingt, abwegig ist Friedells These nicht. Die Pest kam mit den Handelsrouten. In Deutschland wurden die Pocken zum »Skandal des 18. Jahrhunderts« 2, als erstmals jeder Ort regelmäßig von Postkutschen angefahren wurde. Cholera wurde zur Seuche der industriellen Ballungsräume. Und Kriege waren immer Seuchentreiber. In Deutschland gab es die höchsten Tuberkulose-Todesraten in den 1940er-Jahren, kurz vor Entwicklung einer kombinierten Antibiotikatherapie. Danach spielte die Krankheit hier keine Rolle mehr. Dass heute noch Jahr für Jahr 1,5 Millionen Menschen an Tuberkulose sterben, anderswo, ist ein Skandal, der die Weltgemeinschaft nicht so sehr stört, als dass sie effektiv dagegen anginge.
Auch SARS-CoV-2 ist in der Form, in der wir seine Ausbreitung erleben, eine Seuche ihrer Zeit. Als HIV/Aids 1981 bekannt wurde, dauerte es fünf Jahre, bis der erste Antikörpertest eine Diagnose der Infektion erlaubte. Und dieser ELISA-Test war erst drei Wochen nach Exposition verlässlich durchführbar. 2020 gab es Antikörper-Schnelltests für SARS-CoV-2 auch nicht sofort. Aber bereits mit der internationalen Bekanntgabe des Erregers war seine Genomsequenz entschlüsselt. Der COVID-19-Nachweis erfolgte im ersten Jahr fast ausschließlich mithilfe von PCR-Tests. Nach vier Stunden liefern Massenspektrometer das Ergebnis. Diese Technik ist erst seit Kurzem bezahlbar und Teil der alltäglichen Diagnostik. Mit anderen Worten: Noch vor 20 Jahren hätte das Robert Koch-Institut den Pandemieverlauf anhand der Totenscheine und aus der Zahl der Patienten schätzen müssen, die mit Atemwegserkrankungen bei ihren Hausärzten vorstellig wurden. Symptomlose Überträger wären unbekannt geblieben. Und die Kurven hätten das Geschehen mit einer Verzögerung von mehreren Wochen wiedergegeben. Doch auch diese Zahlen wären dann aktuell gewesen. Wir sehen, was wir messen können. Die Hoffnung, Corona möge verschwinden, weicht der Vermutung, dass ein kontinuierlich angepasster Impfschutz die Vision vom Ende der Pandemie ersetzen könnte. Nur die wenigen Infektionskrankheiten, die ausschließlich von Menschen übertragen ...
Inhaltsverzeichnis
- Philipp Osten | Pockengift. Geschichten aus der Berliner Impfbibliothek
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