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III Perspektiven
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Welche AdressatInnen und welche Ziele hat eine zukunftsgerichtete Erwachsenenbildung?
Monika Jakobs
1. Erwachsene als alte und neue Zielgruppe religiöser Bildung
Religiöse Sozialisation und systematische Katechese sind in den etablierten Kirchen weitgehend auf Kinder und Jugendliche ausgerichtet. Mit dem Ende der Jugendzeit gelten diese Prozesse als beendet, die kirchliche Initiation ist mit Firmung bzw. Konfirmation abgeschlossen. Die Erwachsenenbildung in der katholischen Kirche hat mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine neue Wichtigkeit erhalten. Sowohl in Pfarreien als auch in kirchlichen Bildungshäusern wurden die grossen, durch das Konzil ausgelösten Veränderungen seit den 1970er Jahren vermittelt und diskutiert. Für viele Katholikinnen und Katholiken wurde die Aufwertung der Laien zu mündigen Gläubigen eine existenzielle Angelegenheit – entsprechend war das Interesse an theologischer Bildung gross. Typische Anlässe hierfür sind nach wie vor Bibelabende, Vorträge und Glaubensgespräche. Ihre Resonanz ist gekoppelt an ein funktionierendes kirchliches bzw. pfarreiliches Milieu, weshalb diese Formen mit dessen Ausdünnung unter abnehmender Nachfrage leiden. Darüber hinaus ist die Konkurrenzsituation für ein freies kirchliches Angebot theologischer Erwachsenenbildung härter geworden. Selbst die kirchliche Kerngruppe klagt über Zeitmangel durch Arbeitsbelastung, Ansprüche an die Freizeit, z. B. Sport, und eine enge Familienagenda.
Vor etwa 20 Jahren sind Erwachsene als Zielgruppe religiöser Bildung neu in den Fokus gerückt, exemplarisch sichtbar an der grossen Anzahl von neu entstandenen Glaubenskursen, in der katholischen Kirche auch an der steigenden Bedeutung des Begriffes Evangelisierung und einem Revival von Missionierung sowie der Errichtung einer entsprechenden Arbeitsstelle in Deutschland. Evangelisierung sei in Mitteleuropa notwendig, da der christliche Glaube hier immer mehr an Boden verliere. In der Kinderkatechese sind die Folgen spürbar: Die Tradierungskrise des Glaubens zeigt sich nicht mehr als Problem zwischen der Eltern- und der Kindergeneration, sondern als ein Problem der Erwachsenen selbst. Ihre eigene religiöse Sozialisation ist für viele nur noch brüchiges Fundament mit unbrauchbaren Fragmenten kindlichen Glaubens. Wo aber Erwachsene nicht überzeugt sind, geht die nächste Generation erst recht verloren. Das Motto |72| «Wenn man die Kinder hat, hat man die Erwachsenen» gilt nicht mehr. Als Folge dieser Einsicht erhielt die Elternbildung im Rahmen der Kinder- und Jugendkatechese einen höheren Stellenwert.
Durch die Wiedervereinigung und die Öffnung Osteuropas kam es zudem in manchen Gebieten Deutschlands zu einer bemerkenswerten Anzahl erwachsener TaufbewerberInnen. Für diese Zielgruppe existieren heute niedrigschwellige Zugänge z. B. über das Internet, es gibt ausgearbeitete Kurse und standardisierte Wege in den Bistümern. Aufgrund der niedrigen Zahlen an erwachsenen TaufbewerberInnen in der Schweiz soll das Erwachsenenkatechumenat hier nicht weiter thematisiert werden.
Das neue kirchliche Interesse an Erwachsenenbildung erhält durch die in der Arbeitswelt selbstverständlich gewordene Idee des lebenslangen Lernens zusätzlichen Antrieb. Warum sollte dieses Ideal nicht auch für den religiösen Bereich gelten? Die Wissensgesellschaft sowie der rasante technologische und soziale Wandel verlangen immer wieder neu, Glaubensüberzeugungen auf ihre Relevanz hin zu befragen und gegebenenfalls zu aktualisieren. Angesichts des Zusammenbruchs milieugestützter Christlichkeit müssen sich Erwachsene aktiv für ihren Glauben entscheiden, ihn Andersdenkenden gegenüber darstellen und begründen können.
Schliesslich sind trotz der Abnahme kirchlich geprägter Religiosität spirituelle Bedürfnisse und Fragen nach wie vor vorhanden. Der Esoterik-Boom legt davon beredtes Zeugnis ab. Könnte ein Revival kirchlicher Erwachsenenbildung, vielleicht mit neuen Formen und Inhalten, eine Chance sein, auf diese Bedürfnisse einzugehen und sie für die Kirchen- oder Gemeindeentwicklung zu nutzen? Ein schwieriges Terrain. Viele religiös Suchende verlangen nach absoluter Sicherheit, nach der unumstösslichen Wahrheit, nach definitiven Antworten. Andere wiederum haben den Verdacht innerhalb der Kirche sei mündiges Christentum nicht erwünscht, und zeigen deshalb kein Interesse an entsprechenden Angeboten. Auch die weit verbreitete antiinstitutionelle und individualistische Haltung erschwert es kirchlichen Anbietern, an die neuen spirituellen Bedürfnisse anzudocken. Religiösen Aktivitäten nachzugehen, ist gesellschaftlich wenig attraktiv. Die Kategorie Erwachsene ist von allen altersbezogenen Zielgruppen die unspezifischste. Die ganze Breite gesellschaftlicher, religiöser, sozialer und biografischer Heterogenität bildet sich in dieser Gruppe ab. Normalbiografien gibt es heute kaum mehr, Lebensläufe haben sich individualisiert. Und doch verstehen sich die Kirchen als Volkskirchen und wollen, gestützt auf die biblische Botschaft des universalen Heils, für alle da sein. Dementsprechend ist die Zielgruppe religiöser Angebote nach wie vor: alle, oder möglichst alle, oder doch möglichst viele. Matthias Ball bemerkt dazu richtig: «Wer alle ansprechen will, spricht am Ende niemanden |73| an.» Religiöse Erwachsenbildung ohne Reflexion der Heterogenität der Zielgruppe(n) ist schlechterdings unmöglich. Orientierung an bestimmten Zielgruppen und an den Interessen der erwünschten und/oder vorhandenen Teilnehmenden ist eine unbedingt notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung für das Gelingen von Angeboten religiöser Erwachsenenbildung.
2. Heterogenität der Entwicklung und der Lebensgeschichte
2.1 Unterschiedliches Niveau der religiösen Bildung und Entwicklung
In der religiösen Entwicklungspsychologie bilden die strukturgenetischen Theorien nach Fowler und Oser/Gmünder – ungeachtet der kritischen Anfragen – nach wir vor das relevante Paradigma zur Beschreibung der Entwicklung von Strukturen und Inhalten des Glaubens. Beide Modelle beschreiben sechs aufsteigende Stufen des Glaubens bzw. des religiösen Urteils, die im unteren, weniger komplexen Bereich relativ deutlich mit Altersstufen verbunden werden. Bei Fowler geht es vom intuitiv-projektiven Glauben des Kleinkindes über den mythisch-wörtlichen des Primarschulkindes zum synthetisch-konventionellen, der im Jugendalter angesiedelt ist. Der individuierend-reflektive Glaube und die folgenden beiden Stufen sind, sofern sie überhaupt erreicht werden, dem Erwachsenenalter zugeordnet. Fowler selbst berichtet, dass die beiden obersten Stufen nur ausnahmsweise gefunden werden, während nach Oser/Gmünder die Mehrheit der Erwachsenen auf Stufe drei verharrt (Trennung zwischen der Selbst- und Eigenverantwortung des Menschen und dem Göttlichen). Demzufolge muss man bei Erwachsenen von einem Spektrum ausgehen, das, in der Fowler-Terminologie, vom mythisch-wörtlichen Verständnis bis zum individuierend-reflektiven reicht. Diese Heterogenität im kognitiven Glaubensverständnis stellt vor allem in der pfarreilichen Erwachsenenbildung eine erhebliche Herausforderung dar. So schreiben Oser und Bucher, dass die Förderung der kognitiven Weiterentwicklung selbst ein Ziel religiöser Erwachsenenbildung ist: «Wünschenswert wäre, dass Menschen eine religiöse Erziehung erfahren, die über die ersten beiden Stufen des religiösen Urteils hinaus resp. zu Autonomie führt.» Als Begründung dafür wird |74| angegeben, dass durch diese Entwicklung problematische Erscheinungsformen von Religiosität im Alter wie Skrupulosität, Schuldgefühle, Ängste und Selbstzweifel überwunden werden können, denn sie entsprächen niedrigen Stufen der kognitiven Glaubensentwicklung. Die Kunst der religiösen Erwachsenenbildung besteht dann darin, kindlich gebliebene Vorstellungen aufzubrechen, ohne sie zu demolieren, also im Sinne einer Zweiten Naivität einen erwachsenengerechten Zugang zu mythischen, symbolischen und rituellen Ausdrucksformen zu finden. Kritisch rückzufragen ist, ob es sich um bedürfnisorientierte Erwachsenenbildung handelt oder um gut gemeinte, aber wenig aussichtsreiche Bildungsabsicht?
Eine weitere Problematik ist bei den über 70-Jährigen auszumachen. Anders als es die strukturgenetischen Theorien insinuieren, scheint die Unumkehrbarkeit der Stufen nicht immer gegeben zu sein. Bei den über 70-Jährigen nimmt der Anteil der Personen auf Stufe zwei wieder zu. Handelt es sich hierbei um die in der Theorie nicht vorgesehene Regression oder um einen Kohorteneffekt derjenigen, die mit religiösen Drohungen und Verheissungen sozialisiert worden sind? Kann es sein, dass eine für eine bestimmte Generation typische Erziehung Glaubensentwicklung verhindert hat? Reich bietet einen weiteren Erklärungsansatz. Ältere Menschen, so seine These, könnten eher unterschiedliche Zugänge zur Wirklichkeit nebeneinander stehen lassen, weshalb konfligierende Themen für sie weniger Dramatik haben. Sie können sich einmal in einer Weise äussern, die eine Zuordnung zu einer niedrigeren Stufe nahelegt, dann wieder so, dass eine Zuordnung zu einer höheren Stufe angemessen erscheint. «Ältere Menschen könnten leichter als jüngere fromm und aufgeklärt sein», ganz im Sinn der Zweiten Naivität, die über die kritische Destruktion kindlicher Glaubensvorstellungen hinausgeht und quasi durch das reinigende Feuer der Aufklärung hindurch wieder Zugang zu Symbolen, Träumen und naiven Vorstellungen findet.
2.2 Lernen als biografisches Anschlusslernen
Lernen ist immer Anschlusslernen. Für die Lernmotivation und den Lernerfolg spielen sog. Präkonzepte, d. h. Vorstellungen und Konzepte über sich selbst, die anderen und die Welt, eine entscheidende Rolle. Nach diesem Lernverständnis |75| ist niemand ein unbeschriebenes Blatt, das mit dem Lerninhalt einfach beschrieben werden kann. Im Hinblick auf Erwachsene bedeutet dies, dass individuelle, soziokulturelle und kohortenspezifische biografische Aspekte bei der Planung und Umsetzung von Lernprozessen mit bedacht werden müssen. Es sind dies u. a.: Erfahrungen mit Glauben, Kirche und Schule sowie die derzeitige Lebenssituation und die körperlich-seelische Verfassung.
Diese Prägungen werden in der kirchlichen Bildung eher unterschätzt und/ oder in der Planung und Durchführung von Bildungsangeboten noch zu wenig berücksichtigt. Will man etwa einen offenen Austausch aller Teilnehmenden mit möglichst breiter Partizipation, darf kirchliche Erwachsenenbildung nicht allzu schulfömig daher kommen. Zu schnell gleicht die Situation lange zurückliegenden schulischen Situationen, in denen es um richtig und falsch ging, bei denen man sich allenfalls auch blamiert hatte. Die erwachsen gewordenen SchülerInnen wollen nicht wieder in die Situation geraten, eine falsche Antwort zu geben und dafür öffentlich gerügt zu werden. Ein anderes Beispiel sind geschlechtsspezifische Prägungen. Viele Bildungsangebote in Gesprächsform werden als weiblich erlebt, weil sie typisch weibliche Kommunikationsformen (über Gefühle sprechen) begünstigen, weshalb wenige Männer daran Interesse zeigen.
Wie sich die Biografie auf die Lernmotivation auswirkt, kann an einem erfolgreichen nichtkirchlichen Angebot verdeutlicht werden. In Luzern gibt es eine ausserordentlich erfolgreiche Seniorenuniversität. Für den grössten Hörsaal der Universität mit 400 Plätzen muss man frühzeitig Tickets lösen. Es handelt sich um Vorlesungen und Vorträge im klassischen Stil zu durchaus anspruchsvollen naturwissenschaftlichen, kulturellen und auch religiösen Themen. Was kann man von dieser Erfolgsgeschichte lernen? Ohne empirische Vergewisserung wage ich zu behaupten, dass dasselbe Angebot von der katholischen Kirche Luzern in einem kirchlichen Saal nicht dieses Echo hätte. Als Erklärung bietet sich an, dass die Universität eine Bildungsinstitution auf höchstem Niveau ist, an der auch diejenigen teilhaben können, denen es während ihres bisherigen Lebens aus unterschiedlichen Gründen nicht möglich war, ein Studium zu absolvieren. Für ältere und pensionierte AkademikerInnen ist es ein Niveau, das sie für sich als angemessen empfinden, wenn sie sich für Fachfremdes interessieren.
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