Zwischen Verfolgung und Selbstbehauptung
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Zwischen Verfolgung und Selbstbehauptung

Schwul-lesbische Lebenswelten an Ruhr und Emscher im 20. Jahrhundert

  1. 274 Seiten
  2. German
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Zwischen Verfolgung und Selbstbehauptung

Schwul-lesbische Lebenswelten an Ruhr und Emscher im 20. Jahrhundert

Über dieses Buch

Die Geschichte der Homosexuellen und der HomosexualitĂ€t an der Ruhr ist noch immer ungeschrieben. Weder gibt es eine Darstellung fĂŒr die Gesamtregion, noch liegen Studien auf lokaler Ebene vor. Es war an der Zeit, das zu Ă€ndern.Erstmals trafen sich 2015 zwölf Wissenschaftler_innen und dem Thema verbundene Personen auf Einladung des Arbeitskreises Schwule Geschichte Dortmunds im SLADO und des Forums Geschichtskultur an Ruhr und Emscher in der Mahn- und GedenkstĂ€tte Steinwache in Dortmund. Sie berichteten ĂŒber ihre Forschungsprojekte, ĂŒber GesprĂ€che mit Zeitzeugen und ihr ehrenamtliches Engagement. Die Ergebnisse der Konferenz liegen mit diesem Sammelband nun vor.Der zeitliche und thematische Bogen der BeitrĂ€ge reicht von einem feministischen, "lesbian-like" lebenden Netzwerk um 1900 bis zu den Diskursen ĂŒber Körper und MĂ€nnlichkeit in der Zeitschrift Rosa Zone in den 1990er Jahren. Die BeitrĂ€ge befassen sich kritisch mit Formen der Selbstbehauptung, mit der Ausgrenzung und Verfolgung, insbesondere im Nationalsozialismus bis hinein in die Bundesrepublik, sowie mit den etablierten Gedenk- und Erinnerungskulturen.

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Information

Teil 1

Entrechtung und Verfolgung

Wolfgang D. Berude

„Alle sind nach meiner Meinung typische Homosexuelle”

Der Essener Theaterskandal 1936

Jene Lokale, in denen ausschließlich oder ĂŒberwiegend Personen verkehrten, die „der widernatĂŒrlichen Unzucht huldigen”, seien zu schließen, ordnete der kommissarische preußische MinisterprĂ€sident Hermann Göring am 23. Februar 1933 an. Damit begann die sich zunehmend verschĂ€rfende Verfolgung der Homosexuellen unter dem Nationalsozialismus. Auf Grundlage dieser Verordnung verfĂŒgte der Essener PolizeiprĂ€sident Anfang April die Schließung eines Trefflokals, das in den 1920er Jahren ĂŒber die Stadtgrenzen hinaus bekannt gewesen war: das Eldorado am Gerlingplatz 4. Zur BegrĂŒndung fĂŒhrte er an, es handele sich um eine Schankwirtschaft, „die ĂŒberwiegend von Homosexuellen besucht wurde”. Am 2. Mai wurde das Lokal geschlossen, am 10. Mai organisierten die Nazis vor dem Lokal auf dem Gerlingplatz die BĂŒcherverbrennung. Der Aktion zur Vernichtung sogenannter Schmutz- und Schundliteratur fielen auch die Arbeiten des Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld zum Opfer, eines VorkĂ€mpfers fĂŒr die Abschaffung des § 175 StGB.15
Damit begannen die Repressalien gegen gleichgeschlechtlich orientierte MĂ€nner und Frauen. Im Juni 1934 wurden der SA-Stabschef Ernst Röhm und ca. 200 weitere SA-FĂŒhrer im Deutschen Reich umgebracht, um die SA als Konkurrent um die Macht im Reich auszuschalten. Die NS-Propaganda beschuldigte viele einer homosexuellen Veranlagung. Adolf Hitler selbst gab den Befehl zur „rĂŒcksichtslosen Ausrottung dieser Pestbeule”.16 Im September 1935 wurde der Strafrechtsparagraf 175, der sexuelle Handlungen zwischen MĂ€nnern unter Strafe stellte, deutlich verschĂ€rft. 1936 wurde in Berlin die Reichszentrale zur BekĂ€mpfung der HomosexualitĂ€t und der Abtreibung gegrĂŒndet, um die Verfolgung von Homosexuellen systematisch angehen zu können.
Auch in Essen nahm die Verfolgung zu. Bei einer Razzia in der Wirtschaft Schmitz, Ecke Steeler- und Söllingstraße, nahm die Polizei etwa 60 bis 80 Personen fest – unter ihnen auch ein Staatsanwalt. Bis Ende April 1936 wurden erneut mehr als 50 MĂ€nner festgenommen. Am 25. September 1936 verurteilte die Erste Große Strafkammer des Landgerichtes 14 Angeklagte, sie stammten aus unterschiedlichen Schichten und Berufsgruppen. Einer der Verurteilten war ein 18-jĂ€hriger Autoschlosser, der nach der VerbĂŒĂŸung seiner GefĂ€ngnisstrafe ins KZ Sachsenhausen ĂŒberfĂŒhrt wurde. Von dort aus folgten Jahre in den Konzentrationslagern FlossenbĂŒrg und Dachau. Dokumentiert sind die vergeblichen BemĂŒhungen seiner Eltern und Geschwister um Begnadigung. Der Bedarf an wehrfĂ€higen MĂ€nnern fĂŒr den Krieg rettete den jungen Mann schließlich vor weiterer Lagerhaft: Am 11. Juni 1943 entließ man ihn aus dem Lager mit der Auflage, unverzĂŒglich dem Einberufungsbefehl zur Wehrmacht zu folgen.
Zu den NS-Maßnahmen zur vorbeugenden VerbrechensbekĂ€mpfung, die alle sogenannten VolksschĂ€dlinge erfassen sollten, gehörte auch die VerhĂ€ngung der sogenannten Vorbeuge- oder Schutzhaft und die willkĂŒrliche Einweisung in Konzentrationslager. Das belegen zahlreiche Gestapo-Akten, die die Verfolgung Essener homosexueller MĂ€nner belegen. „Da die Ermittlungen einen derartigen Umfang angenommen haben, daß eine sachgemĂ€ĂŸe Bearbeitung in der kurzen zur VerfĂŒgung stehenden Zeit nicht möglich ist [
], halte ich Schutzhaft bis auf weiteres fĂŒr dringend erforderlich”, heißt es etwa in einem Brief vom 7. April 1936.17 Auch sind Suizide in der GefĂ€ngniszelle aus Angst vor Misshandlung und aus Scham in den Akten der Essener Gestapo dokumentiert. Ein ehemaliger Kellner, der vor Gericht sein gegenĂŒber der Gestapo abgelegtes GestĂ€ndnis widerrief, wird in indirekter Rede mit den Worten wiedergegeben, „unter Druck erreichte man meine GestĂ€ndnisse – der vernehmende SS-OberscharfĂŒhrer habe eine Peitsche in der Hand gehabt und [
] Kastration und Konzentrationslager angedroht. Er habe das GestĂ€ndnis nur zu dem Zwecke abgelegt, um nicht öfter vernommen zu werden”.

„Homosexuell veranlagte Angestellte der Essener BĂŒhnen”
Im FrĂŒhjahr 1936 folgte mit dem Essener Theaterskandal eine Gestapo-Aktion gegen Homosexuelle. Wie weit seine Wellen schlugen, wird nicht zuletzt daran deutlich, dass Reichspropagandaminister Joseph Goebbels ihn in seinem Tagebuch vermerkte. Drei Jahre zuvor war das Essener Theaterensemble von rund 20 jĂŒdischen KĂŒnstlern und sogenannten Salonbolschewisten „gesĂ€ubert” und mit Alfred Noller ein linientreuer Intendant eingesetzt worden. Damit standen die Essener BĂŒhnen ganz „im Dienste der nationalsozialistischen Kulturpolitik”.18 Im Zusammenwirken mit OberbĂŒrgermeister Dr. Theodor Reismann-Grone propagierte Alfred Noller nun das Ziel, „mit dem Volkstheater zur Volksgemeinschaft” beizutragen.
Auch der OberbĂŒrgermeister beabsichtigte, die „Kultur der Stadt zu heben” und „die MitbĂŒrger durch die Taten zu ĂŒberzeugen vom Wert des Nationalsozialismus”.19 Obwohl die Stadt, die durch die Weltwirtschaftskrise in große finanzielle und ökonomische Probleme geraten war, jahrelang die Schließung der StĂ€dtischen BĂŒhnen oder eine Fusion mit dem Duisburger Stadttheater nicht ausschließen konnte, zeigte sich Reismann-Grone ĂŒberzeugt, „daß wir vor einer großen nationalen Kunst stehen”. Die Unsicherheit um den Fortbestand der Essener BĂŒhnen prĂ€gte nicht nur die Auseinandersetzungen zwischen dem Stadtoberhaupt und seinem Intendanten Noller, sie dĂŒrften auch nicht ohne Folgen auf das Arbeitsklima unter den Ensemblemitgliedern geblieben sein. Hinter den Kulissen erreichte im Sommer 1935 das Gerangel zwischen den NSDAP-Parteigenossen auf der einen und den ĂŒbrigen Ensemblemitgliedern auf der anderen Seite eine neue Dimension. Linientreue Parteigenossen suchten UnterstĂŒtzung bei Reichsminister Joseph Goebbels, dem als Minister fĂŒr Propaganda und VolksaufklĂ€rung der gesamte Kulturbereich unterstand. Der Minister forderte daraufhin, fĂŒnf Parteimitglieder einzustellen, die Noller zuvor als „ganz unbrauchbare SĂ€nger” beschrieben hatte. Dies berichtete der Intendant dem OberbĂŒrgermeister am 29. August 1935.20
WĂ€hrend dieser Auseinandersetzungen wurde im Reich die VerschĂ€rfung des §175 StGB öffentlich vorbereitet, die schließlich am 1. September 1935 in Kraft trat.21 Im Essener Ensemble gerieten nun jene, von denen angenommen wurde, sie gehörten zur „Clique” der „homosexuell veranlagten Angestellten der StĂ€dt. BĂŒhnen”, in die Schusslinie.22 Bereits zwei Tage spĂ€ter sah sich Operettenspielleiter und Schauspieler Otto Zedler23 veranlasst, gegen die „gemeine VerĂ€chtlichmachung” seiner Person und die „durch nichts gerechtfertigten erotischen Klatschereien” vorzugehen. In Schreiben vom 3. und 4. September forderte er die OperettensĂ€ngerin Klara K. auf, die â€žĂŒblen Nachreden” sofort zu unterlassen, was jedoch unterblieb. Ob BĂŒhnenmaler, Gewandmeisterin oder OpernsĂ€ngerin – alle tuschelten, unterstellten, vermuteten und bestellten den Boden der Denunziation.

„Ein treuer und lustiger Herrscher”
Als Otto Zedler am 12. Februar 1936 von den Essener BĂŒhnen im Rahmen eines „frohen Festes” der 14 Essener Karnevalsgesellschaften im großen Festsaal des Saalbaues zum Prinz Karneval Otto I. der Stadt Essen ernannt wurde, versprach er seinen ausgelassenen Untertanen, ein „treuer und lustiger Herrscher” zu sein. Von den neuen GerĂŒchten um seine Person, die im Umlauf waren, wird er zu diesem Zeitpunkt gehört haben. Bei den GerĂŒchten blieb es aber nicht. „Von absolut glaubwĂŒrdiger Seite” und „streng vertraulich” bekam Kriminalkommissar Peter Nohles von der Gestapo-Außenstelle Essen Informationen ĂŒber Zedler selbst und die VerhĂ€ltnisse am Stadttheater. In seinen Aufzeichnungen vom 20. Februar notierte er, die homosexuelle Veranlagung Zedlers sei in weiten Bevölkerungskreisen bekannt. Deshalb habe man an seiner Wahl zum Prinz Karneval nicht nur Anstoß genommen, sie habe vielmehr ausgesprochenes Befremden ausgelöst. Nohles resĂŒmierte: „So erscheint es doch schon jetzt angezeigt, sich mit seiner Person nĂ€her zu befassen und zu erwĂ€gen, ob man ihn trotz der GerĂŒchte als Prinz Karneval auftreten lĂ€ĂŸt, um ggf. einen etwaigen spĂ€teren fĂŒr die Stadt Essen blamablen Skandal vorzubeugen”. Auch Intendant Noller wurde zur Zielscheibe der Kritik. Nohles nannte ihn in seinen Aufzeichnungen einen „ehemaligen Kommunisten”, der NS-Parteigenossen an den StĂ€dtischen BĂŒhnen wirtschaftlich benachteilige. Einige der wenige Wochen spĂ€ter Verhafteten wurden bereits hier mit Namen genannt. Nohles schloss, daß „eine eingehende PrĂŒfung all dieser Dinge dringend geboten erscheint, da zu besorgen ist, daß sie sich zu einem Skandal auswachsen”.24
Wer der Geheimen Staatspolizei als Quelle diente, muss Vermutung bleiben. Im Theaterskandal verwickelte Personen wie die OperettensĂ€ngerin Glanka Z. bezogen sich in ihren Aussagen vor der Gestapo auf einen gewissen Heinrich oder Heinz M.,25 der nach eigenen Angaben Kreispropagandaleiter der NSDAP und maßgeblich an der Denunziation beteiligt war. OpernsĂ€nger Erwin R., zugleich NSDAP-Parteigenosse und BĂŒhnenfachschaftsleiter, berichtete der Gestapo, Glanka Z. habe ihm vertraulich mitgeteilt, die Gestapo beabsichtige, Otto Zedler wĂ€hrend der großen Karnevalsprunksitzung, der er als Prinz Karneval beiwohnen werde, zu verhaften und im Ornat abzufĂŒhren. Doch sahen die seit Wochen ermittelnden Beamten der Geheimen Staatspolizei von einem derart spektakulĂ€ren Zugriff auf Otto Zedler ab.
Bild3

Beim Rosenmontagszug schließlich jubelten dem Prinzen Karneval Otto I. und seiner Prinzessin Assindia, mit bĂŒrgerlichem Namen Hilde, „Zuschauer wie noch nie” zu, wie der Essener Anzeiger in großer Aufmachung titelte. Weiter heißt es: „Prinz Otto I. war in solcher angenehmen Hochzeitsstimmung, dass er warme Worte des Dankes fĂŒr die UnterstĂŒtzung des Essener Karnevals durch die Stadtverwaltung, Bevölkerung und Presse fand.”26 Die „warmen Worte des Dankes”27 und der Jubel von vielen tausend Narren in den Straßen der Essener Innenstadt dĂŒrften SS-SturmfĂŒhrer Albert Schweim von der Gestapo-Außenstelle nicht beeindruckt haben. Er hatte schon am 15. Februar mit sofortiger Wirkung die Postkontrolle ĂŒber Otto Zedler veranlasst, doch „noch hatten sich keine positiven Beweise fĂŒr seine anormale Veranlagung und strafbare Beziehungen” erbringen lassen. FĂŒnf Wochen spĂ€ter lagen die gesuchten Beweise jedoch vor und der umjubelte Prinz Karneval Otto I. wurde festgenommen.

„Alle sind nach meiner Meinung typische Homosexuelle”
Doch nicht die Überwachung der Post lieferte der Gestapo die notwendigen Beweise der HomosexualitĂ€t Otto Zedlers, sie fielen ihr vielmehr als Folge einer weiteren Denunziation nebenbei in die HĂ€nde. Am 15. Februar 1936 erreichte die Essener Gestapo eine kurze Mitteilung des Sicherheitsdienstes des ReichsfĂŒhrers SS: „Betrifft: Lothar Sch., Essen, Rellinghauser Str., Abteilungsleiter beim Ruhrverband. Der Genannte ist homosexuell.”28 Diese Mitteilung veranlasste die Essener Gestapo, gegen die „homosexuellen Umtriebe” einzuschreiten, und löste damit den Theaterskandal und die Aktion gegen Homosexuelle in Essen aus.
Durch Denunziation eines Nachbarn geriet der gutsituierte 53-jĂ€hrige Abteilungsleiter ins Blickfeld der Gestapo. Der Nachbar, ein NSDAP-Parteigenosse, gab an, seit fĂŒnf Jahren „das Treiben in der Wohnung des Sch.” beobachtet zu haben, und bot an, bei dem nĂ€chsten, Anfang des Monats stattfindenden Sonntagnachmittagstreffen mit „5-6 jungen Burschen” der Gestapo telefonisch Nachricht zu geben. Dass es sich dabei um ein geselliges Treffen zum Kartenspiel, einen RommĂ©-Kreis unter Gleichgesinnten handelte, spielte in den kommenden Monaten keine Rolle mehr. Die Festnahmen vom 4. MĂ€rz boten der Gestapo den Anlass fĂŒr die große Aktion gegen homosexuelle Umtriebe in Essen. An den Verhören beteiligte sich neben Kriminalkommissar Nohles auch der junge Kriminalkommissar-AnwĂ€rter Erich Weiler, der spĂ€ter durch seine Erfolge gegen Homosexuelle in Essen, Duisburg und DĂŒsseldorf schnell Karriere machen sollte. Im Organisations- und GeschĂ€ftsverteilungsplan der Gestapo-Leitstelle DĂŒsseldorf wurde er 1938 als Referatsleiter fĂŒr „SonderauftrĂ€ge”, „Homosexuelle und Abtreibungen” aufgefĂŒhrt, spĂ€ter stand er im Rang eines SS-OberscharfĂŒhrers.29
Gemeinsam mit Lothar Sch. wurde auch der junge TĂ€nzer Walter B. in Polizeigewahrsam genommen und intensiven Verhören unterzogen. Gezielt wurden beide nach den Essener BĂŒhnen und den „dortigen UmstĂ€nden” befragt. Auf Fragen nach dem OpernsĂ€nger Otto Zedler oder dem Kapellmeister Puhlmann gab Lothar Sch. zur Antwort: „Von den Herren Zedler u. Puhlmann weiß ich aus eigener Kenntnis nichts. Es ist mir jedoch zu Ohren gekommen, das Zedler mit einem Freund namens Brand zusammen wohnt.”30 TatsĂ€chlich wohnten und lebten beide seit 1927 zusammen, Brand bestritt aber im Gestapo-Verhör, mit Zedler sexuelle Handlungen begangen zu haben.31 Auch weitere Ensemblemitglieder wurden verhört. Der OpernsĂ€nger Kurt R. gab am 6. MĂ€rz der Gestapo zu Protokoll: „Ich kenne auch die GerĂŒchte, die ĂŒber homosexuell veranlagte Personen an der Essener Oper im Umlauf sind. Nach dem Verhalten der TĂ€nzertruppe zu urteilen – alle sind nach meiner Ansicht typische Homosexuelle [
]. Auch ĂŒber den Operettenspielleiter Zedler kursiert das GerĂŒcht, daß er homosexuell veranlagt sei.”32

„Es ist ein schlimmer Skandal fĂŒr Essen”
Mitte MĂ€rz 1936 bat Intendant Noller wegen des sich abzeichnenden Skandals OberbĂŒrgermeister Reismann-Grone um Hilfe. Der Angesprochene Ă€ußerte sich in seinen Aufzeichnungen ebenso knapp wie dramatisch: „Ein böser Schlag: Am Freitag, den 13. 3., kommt Noller blaß.” Als der – so der OB – „lĂ€hmende Skandal am Theater ausbrach”, „angeblich auf Grund eines Klatsches eines entlassenen Parteigenossen”, wurden von der Gestapo nach §175 StGB verhaftet: BĂŒhnenbildner Paul StrĂ€ter, Schauspieler Otto Zedler, Kapellmeister Kurt Puhlmann und Opernspielleiter H. Intendant Noller bat den OB „um Hilfe”.33
Am nĂ€chsten Tag suchte der OberbĂŒrgermeister Kriminalpolizeirat Braschwitz auf, den Leiter der „Politischen Inspektion Essen” der Gestapo.34 Den „nationalgesinnten Verleger” Reismann-Grone, dessen Herz „an Kunst und Kultur im weitesten Sinne” hing und der 1933 als 72-JĂ€hriger mit der Absicht angetreten war, „Essen zu einem Weimar zu machen”, dĂŒrften die Nachrichten aus der Gestapo-Außenstelle schockiert haben. In seiner Chronik hielt er fest: „Es ist ein schlimmer Skandal fĂŒr Essen.”35 In den MĂ€rztagen kam es zu immer neuen Verhaftungen. Intendant Noller „brach darĂŒber ganz zusammen”, als BĂŒhnenbildner StrĂ€ter und Operettenspielleiter und Faschingsprinz Otto Zedler, wenige Tage zuvor noch „von den Massen bejubelt”, verhaftet wurden. Auf Anraten des OberbĂŒrgermeisters musste der „schwer zerrĂŒttete” Noller fĂŒr „wenige Tage” in den Erholungsurlaub geschickt werden. Noller ließ den OberbĂŒrgermeister wissen, die SĂ€ngerin Glanka Z. habe ihm ĂŒber eine „gewisse AffĂ€re” berichtet. Im Zusammenhang mit der Verhaftung Otto Zedlers gab sie in „aller Bescheidenheit” an, „dass doch die auf Grund der Sonderaktion engagierte Klara K., die wegen kĂŒnstlerischer UnzulĂ€nglichkeit in der nĂ€chsten Spielzeit nicht wiederverpflichtet wird, eine Hauptperson in dieser AffĂ€re abgibt”. Mit Brief vom 17. MĂ€rz fragte Noller weiter, „ob nicht in diesem Fall die allseitig unbeliebte und kĂŒnstlerisch vollkommen unzulĂ€ngliche Klara K., die mich und unser Theater bereits bei der Reichstheaterkammer denunziert hatte, fristlos zu entlassen ist. Eine solche Maßnahme wĂŒrde die ganze AtmosphĂ€re um unser Theater sĂ€ubern [
].”
Er konnte nicht ahnen, dass die Verhaftung des TĂ€nzers Peter Roleff am 23. MĂ€rz dem „Skandal” neue Brisanz verleihen und fĂŒr die Beamten der Gestapo-Außenstelle Essen zu einer öffentlichen Blamage werden sollte. Denn nicht der LebensgefĂ€hrte von Otto Zedler erbrachte die gesuchten Beweise, die zur Verhaftung notwendig waren. Erst die Aussagen des Ballettmeisters Peter Roleff, der ĂŒber seine intimen Kontakte zu Zedler und anderen Personen Auskunft gab, fĂŒhrten am 30. MĂ€rz zur Verhaftung des Operettenspielleiters. In seinen Aussagen, die mutmaßlich nicht ohne physischen und psychischen Druck zustande kamen, nannte er zahlreiche Personen, die homosexuell veranlagt seien. Unter ihnen der von Noller geschĂ€tzte BĂŒhnenbildner Paul StrĂ€ter.36
Im MĂ€rz 1936 wurden fast tĂ€glich MĂ€nner unter dem Verdacht verhaftet, homosexuell zu sein. Die mehr als zwanzig Festnahmen zwischen dem 4. MĂ€rz und dem Monatsende sorgten in breiten Bevölkerungsteilen der Ruhrmetropole fĂŒr Klatsch. Die National-Zeitung sah sich am 5. April 1936 genötigt, auf die GerĂŒchte zu reagieren. Bevor der anonyme Autor des Artikels auf die „Reihe der Verhaftungen” dieser Tage einging, legte er die generelle Position des Nationalsozialismus „gegen die Erscheinung des Verfalles” dar: „Mit einer verschĂ€rften Gesetzgebung hat der Nationalsozialismus die Grundlage fĂŒr diesen Kampf um die Reinhaltung unseres Volkskörpers geschaffen.” Dann erst ging er auf die lokalen Verhaftungen ein, „die aus dieser unerbittlichen Kampfhaltung [
] herrĂŒhren. In der Öffentlichkeit gehen darĂŒber GerĂŒchte mit den ĂŒblichen Übertreibungen und Entstellungen um. [
] Uns darf das Bewußtsein genĂŒgen, daß der neue Staat von der Waffe, die er sich in der verschĂ€rften Gesetzgebung geschaffen hat, rĂŒcksichtslos Gebrauch macht, wo immer er auf Eiterbeulen stĂ¶ĂŸt, ohne Ansehung des Namens wie des Standes.”37
Einen Eindruck von der AtmosphĂ€re in der Stadt in jenen Wochen vermitteln die Aussagen, die spĂ€ter Verhaftete gegenĂŒber der Gestapo machten. „Als die Festnahmen von Homosexuellen-Mitgliedern des Essener Stadttheaters von der Polizei vorgenommen worden waren, erschien eines nachmittags ‚Natascha’ reisefertig mit einem Koffer in der Wohnung von K. und erklĂ€rte, er mĂŒsse flĂŒchten [
]. K. hatte ihm einen Paß besorgt.”38 Ein Ende 1936 verdĂ€chtigter Folkwang-SchĂŒler sagte aus: „WĂ€hrend der Mahlzeit sagte mir Frau D., daß ich auf ihren Sohn recht aufpassen solle. Er wĂ€re so leichtsinnig. Die Worte von Frau D. wurden deshalb zu mir gesprochen, da das GesprĂ€ch sich beim Essen auf die Vorkommnisse homosexueller Art im Stadttheater in Essen bezog.”39 Noch liefen die Ermittlungen und Razzien de...

Inhaltsverzeichnis

  1. Grußworte
  2. Erkundungen in der logischen Familie
  3. Teil 1 – Entrechtung und Verfolgung
  4. Teil 2 – Erinnern und Gedenken
  5. Teil 3 – Stationen der Selbstbehauptung
  6. Anmerkungen
  7. Autorinnen und Autoren