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II Spezifische Themen der Reformationsgeschichte und deren Wirkungsgeschichte
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Kirchengeschichtlich
Fulvio Ferrario, Rom
Frühere Reformationen und die Reformation: Petrus Valdus, Jan Hus, John Wycliffe, Girolamo Savonarola
Auf der imponierenden Kanzel der Waldenserkirche an der Piazza Cavour, Rom, (so imponierend übrigens, dass sie normalerweise nicht benutzt wird…) sind vier Gestalten abgebildet. Zwei sind bekannt; die anderen viel weniger. Bei den weniger Berühmten handelt es sich um Arnaldo von Brescia und Girolamo Savonarola. Arnaldo (1099-1155) predigte Armut, Verzicht auf die weltliche Macht der Kirche, Laienpredigt, die Ungültigkeit der von unwürdigen Priestern gefeierten Sakramente, das Recht der Laien, nicht nur der Priester, auf die Verwaltung der Beichte. Er wurde exkommuniziert, gehängt, und seine Leiche wurde verbrannt. Savonarola (1452–1498), Dominikaner, predigte eine ethische Erneuerung der Kirche und der Gesellschaft, in der Blütezeit der florentinischen Renaissance. Seine Energie wirkte zwar prophetisch, wurde aber von nicht wenigen Zeitgenossen und Historikern für nicht frei von fanatischen Zügen gehalten. Die regierende Familie Medici und der Papst Alexander VI konspirierten, um Savanarola als Häretiker und Aufrührer zu verurteilen. Auch er wurde gehängt und verbrannt. 1997 leitete die Erzdiözese Florenz das kirchenrechtliche Verfahren für seine Seligsprechung ein.
Warum wollten die Menschen, die vor gut hundert Jahren die Waldenserkirchen an der Piazza Cavour bauten, auf diese zwei Figuren neben Luther und Calvin aufmerksam machen? Die Antwort ist klar genug. Zuerst will diese evangelische Kirche in der Papststadt mit Bildern, Pseudomosaiken und mit altkirchlichen Motiven bemalten Fenstern daran erinnern, dass das evangelische Christentum in der apostolischen Tradition (!) verwurzelt ist. Darüber hinaus aber wollen die Gestalten von Arnaldo und Savonarola darauf aufmerksam machen, dass |128| es auch und gerade in Italien eine vorlutherische und vorcalvinische reformatorische Geschichte gibt. Die Kirche der sola scriptura hat also nicht nur eine traditio, sondern ist traditio, nicht weniger als der römische Katholizismus, aber anders als er, auch in Italien.
Damit wird aber auch die Problematik des ganzen Themas erkennbar: Genügt es, irgendwie «gegen Rom» zu sein, um als «vorreformatorisch» zu gelten? Sind «unsere Protestanten», wie der Waldenser Historiker Emilio Comba am Ende des 19. Jahrhunderts Männer wie Petrus Valdus, aber eben auch Arnaldo und Savonarola bezeichnete, wirklich als Vorgänger Luthers und Calvins zu betrachten? Oder wird in dieser Weise der Begriff «Reformation» historisch und theologisch unsachgemäß verallgemeinert? Eine sinnvolle Antwort sollte natürlich, umso mehr wenn man auf europäischer Ebene denkt, sehr differenziert aussehen: Es scheint unmöglich, Valdus und Savonarola, Arnaldo und Wycliffe in einem Atem zu nennen. Dennoch kann man zweifellos, nicht ohne ein gewisses Recht, einige Themen auflisten, die als Merkmale einer Kontinuität bezeichnet werden könnten: etwa die theologische Bedeutung der Schrift, eine mehr oder weniger radikale Infragestellung der mittelalterlichen Zuordnung von Wort und Sakrament, die Kritik des Klerikalismus und die Betonung der Rolle der Laien. Das würde aber direkt zur großen Debatte über Kontinuität und Diskontinuität zwischen der sogenannten «ersten» und «zweiten» Reformation führen, eine Debatte, die hier unmöglich zusammenzufassen ist und noch weniger mit originellen Beiträgen bereichert werden kann. Deswegen werde ich mich auf zwei Dimensionen beschränken. «Dimension» bedeutet hier etwas mehr als «Thema». Es geht um Dynamiken, die «das Kirchesein» gestalten und die m. E. für die heutige spirituelle, gesellschaftliche und ökumenische Lage des europäischen Protestantismus entscheidend sind.
Die erste kann mit einer berühmten Lutherstelle eingeleitet werden: «Ich habe bisher unbewusst den ganzen Johann Hus gelehrt und gehalten, auch Johannes Staupitz hat in derselben Unwissenheit gelehrt. Kurz, wir sind alle unbewusst Hussiten. Ja, auch Paulus und Augustin sind richtige Hussiten. Siehe doch bitte, in welche Ungeheuerlichkeiten wir ohne die böhmischen Führer und Lehrer geraten sind. Ich weiß vor Staunen nicht, was ich denken soll, wenn ich solch fürchterliches Gericht Gottes über die Menschen sehe: die klare, offenbare evangelische Wahrheit, die vor nun schon mehr als hundert Jahren öffentlich verbrannt worden ist, wird für |129| verdammt gehalten, und man darf dies nicht bekennen. Wehe der Erde! Lebe wohl.» (Luther an Spalatin, Februar 1520)
Augustin und Luther sind unbewusst Hussiten, weil Paulus ein solcher ist: nämlich, weil sie, wie Jan Hus, lehren, was Paulus gelehrt hat. Es geht um die Apostolizität der Kirche. Genauer gesagt, es geht um eine bestimmte Auffassung der Apostolizität: Apostolisch ist, was die Apostel gelehrt haben (was Luther bekanntlich auch zugespitzt sagen kann: was Christ um treibt). Die Apostolizität der Kirche wird durch den apostolischen Inhalt der Verkündigung charakterisiert, die Tradition hängt entscheidend, und letztlich ausschließlich, von dem apostolischen Diktum ab. Das impliziert, was besonders Hus theologisch reflektiert zum Ausdruck gebracht hat, eine spezifische Ekklesiologie: Die Kirche kann und muss Zeugin und Dienerin der Wahrheit des Evangeliums sein. Sie kann aber nie Besitzerin und Verwalterin einer Garantie dieser Wahrheit werden. Das Evangelium garantiert sich selbst. Genau das wollten die mittelalterlichen Waldenser sagen, als sie ihre Apostolizität betonten, auch wenn spätere Generationen diese Überzeugung mit einer merkwürdigen Legende untermauern wollten, nach der ihr Ursprung auf eine Reise von Paulus selbst in die Waldensertäler zurückzuführen sei. Und das gilt auch für die anderen Vertreter der «ersten» Reformation: Sie kämpften für eine inhaltlich (und nicht lehramtlich) bestimmte Deutung der Apostolizität der Kirche, also der apostolischen Sukzession, der Kontinuität in der Wahrheit.
Wenn ich aber richtig sehe, ist die vollständige theologische Darstellung dieser Auffassung erst bei Luther zu finden, nämlich in seiner Kategorie der promissio: Die Wahrheit des Evangeliums wird im Glauben als certitudo (nicht als securitas, und das gilt auch gegen die Waldenserlegende!) in der Kraft der Verheißung wahrgenommen, also nicht als Besitz, sondern als freie Gnade und Treue Gottes, all Morgen frisch und neu. In der vertieften Deutung Luthers kann die Apostolizität der Kirche, streng genommen, nicht «beansprucht», sondern ausschließlich in der Dankbarkeit des Glaubens empfangen werden; und die Kategorie der promissio ist m. E. die evangelische Alternative zum römisch-katholischen Gebrauch der Begrifflichkeit der kirchlichen (praktisch: bischöflichen) «Garantie» der Apostolizität.
Luther nimmt jedenfalls bei Hus – bei der «ersten» Reformation – die Frage wahr, die heute noch für das Wesen des kirchlichen Zeugnisses und des Kircheseins entscheidend ist: Was heißt, was ist apostolisch, und dementsprechend: Was ist, wer ist, apostolische Kirche? Und ich erlaube |130| mir zu behaupten, dass die heute auch ökumenisch heftig debattierten Themen (inklusiv die viel beredeten «ethischen Fragen») letztlich theologisch unecht sind, wenn sie nicht, wie dialektisch und mittelbar auch immer, auf diese Frage der Apostolizität der kirchlichen Botschaft zurückgeführt werden.
Das zweite Erbe der «vorreformatorischen» Tradition, die ich an dieser Stelle signalisieren möchte, stellt dem «klassischen» mitteleuropäischen Protestantismus eine kritische Frage. Es handelt sich um die Kritik der «konstatinischen» Auffassung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat und generell um die ganze Konstellation von finanzieller, politischer und gesellschaftlicher Macht. «Konstantinismus» und ähnliche Kategorien sind natürlich Begriffe, die schon historisch gar nicht einfach zu präzisieren sind, geschweige denn theologisch. Die politische Verwicklung der mittelalterlichen Kirche, die die Waldenser ablehnten, um nur dieses Beispiel zu nennen, ist kaum mit jener des Kaiserreichs in der Zeit Luthers zu vergleichen. Es bleibt aber die einfache Tatsache: Verschiedene «vorreformatorische» Bewegungen vertraten eine Auffassung der Nachfolge Jesu, die die christliche Gemeinde als «alternative» oder «kontrakulturelle» Gesellschaft verstand. Die mitteleuropäische Reformation des 16. Jahrhunderts fasste hingegen ihre Radikalität in der Nachfolge so auf, dass sie Kirche in der Gesellschaft sein wollte, und erarbeitete eine entsprechende Theologie (die übrigens auch von verfolgten reformatorischen Minderheitskirchen wie den Hugenotten und den reformierten Waldensern übernommen wurde). Das bedeutete keine unkritische und automatische Annahme der gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse, schaffte aber eine bestimmte Konstellation, die wir Volkskirchentum nennen könnten.
Für Millionen von Männern und Frauen ermöglichte diese Konstellation im Laufe der Jahrhunderte das Hören des Evangeliums und ein christliches Leben. Wer aus einer anderen Geschichte kommt (praktisch aus einer freikirchlichen: so sieht sozioreligiös die Geschichte von verschiedenen Minderheitskirchen aus), muss sich darüber im Klaren sein, dass das Volkskirchentum in seinen verschiedenen Versionen eine ekklesiologische und seelsorgerliche Möglichkeit war und häufig noch ist. Aber eben: eine Möglichkeit. Wird diese Möglichkeit im zukünftigen Europa noch vorhanden sein? Noch einmal: Eine pauschale Antwort, ja oder nein, wäre sinnlos, aber die sowohl Gemeindemitglieder als auch finanzielle Mittel betreffenden Statistiken sprechen eine ziemlich klare Sprache. Es |131| kann auch nicht mehr als selbstverständlich gelten, dass die Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat, wie sie heute etwa in Deutschland vorhanden ist, langfristig unverändert bleibt: Schon heute stellt sie in Europa und in der Welt eher die Ausnahme als die Regel dar. Kann in einer nachkonstantinischen Zeit das Erbe der nicht-konstantinischen «ersten» Reformation fruchtbar sein? Um die Frage in verantwortlicher Weise zu stellen, muss man vor allem jede Idealisierung entschieden ablehnen. Eine kleinere, ärmere und gesellschaftlich weniger etablierte evangelische Christenheit wird nicht unbedingt zu einer überzeugteren und überzeugenderen Verkündigerin des Evangeliums, wie die Lage von nicht wenigen Diasporakirchen allzu klar zeigt. Klar ist auch, dass die evangelische Kirche, so wie sie durch die Reformation und die vielfältige Geschichte des Protestantismus gestaltet wurde, sich immer in der Spannung zwischen bekennender und «inklusiver» Gemeinschaft bewegt. Diese Dialektik hat in den großen Volks- und in den Minderheitskirchen verschiedene Konturen, sie ist aber bei diesen und bei jenen vorhanden, und zwar nicht nur aus sozioreligiösen, sondern auch und vor allem aus theologischen Gründen.
Das Gleichgewicht zwischen den beiden Dimensionen muss aber in der heutigen Situation neu gedacht werden. Eine kleinere und ärmere Kirche muss, wenn sie nicht nur überleben, sondern leben will, ihre profiliert bekennende Identität entschiedener zur Geltung bringen, besonders was die tägliche Praxis betrifft. Zwischen der volkskirchlichen Auffassung der protestantischen (aber auch römisch-katholischen und orthodoxen) Vergangenheit und der Sekte im troeltschen Sinne des Wortes besteht ein breiter Raum, in dem der europäische Protestantismus seinen Weg in die Zukunft suchen kann. In dieser schwierigen, aber faszinierenden und spirituell tief herausfordernden Suche kann das «vorreformatorische» Erbe bereichernd wirken. Die Kirche lebt grundsätzlich nicht von Erben, sie lebt von der kommenden Zukunft Gottes. Aber, wir haben gesehen, dass diese Zukunft zu uns durch ein Wort, also durch ein Diktum kommt, die Tradition wurde und wird, in der Dimension der diakonischen Gemeinschaft der Heiligen. So gesehen ist diese Tradition der vorreformatorischen Kirche kein bloßes historisches «Beispiel», sondern ein gelebtes Zeugnis und ein theologischer Beitrag zur Gestaltung unseres Weges in die Zukunft.
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Volker Leppin, Tübingen
Mit dem Mittelalter gebrochen oder aus ihm emporgewachsen?
Erwägungen zur Einordnung der Reformation
Das Mittelalter hat keinen guten Ruf unter Evangelischen – ganz gleich ob lutherisch, reformiert oder uniert. Das gilt selbst bei denen, die sich über die Errungenschaften der europäischen Universität freuen, deren Wurzeln bekanntlich im 13. Jahrhundert liegen, oder bei denen, die den Gottesdienst in Kirchen feiern, die wie etwa das Zürcher Großmünster oder die Stadtkirche von Wittenberg schon lange vor der Reformation errichtet wurden. Man mag dies schlicht Geschichtsvergessenheit nennen – oft aber verbinden sich mit solchen Haltungen Konzepte von Theologie und Geschichte, die eines gemeinsam haben: Identität über Bruch und Abgrenzung zu bestimmen.
Dergleichen hat im Protestantismus eine lange Tradition. Als Karl Holl im Jahre 1917, also beim letzten Jahrhundertjubiläum der Reformation, an die Bedeutung der Rechtfertigungslehre für Martin Luther erinnerte, tat er dies mit einem Denkmodell, nach dem der Wittenberger Reformator sich in einem einzigen Moment biografisch und theologisch vom Mittelalter gelöst habe: Neu sollte nur sein, was als Bruch mit dem Alten daherkam. Dieses Modell strahlte auf die gesamte Reformationsdeutung, auch jener der Schweizer Reformation, aus. In gewisser Weise gab es einem vortheoretischen Selbstverständnis theoretischen Ausdruck.
Dem wurde kurz vor und nach dem Zweiten Weltkrieg ein noch heute für die römisch-katholische Forschung prägendes Bild entgegengehalten, das vor allem Joseph Lortz und Erwin Iserloh entwickelten: Sie gestanden der Reformation auch aus römisch-katholischer Sicht eine gewisse Legiti...