Gesammelte Aufsätze
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Gesammelte Aufsätze

Mit einem Vorwort von Peter Mercer

  1. 136 Seiten
  2. German
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Gesammelte Aufsätze

Mit einem Vorwort von Peter Mercer

Über dieses Buch

Die hier in einer kompakten Edition zusammengefassten Texte Nettlaus erschienen in der zweiten Folge der anarchosyndikalistischen Zeitschrift 'Die Internationale', die von der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) herausgegeben wurde. Die FAUD war eine im Dezember 1919 gegründete anarchosyndikalistische Gewerkschaft, die aus der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften (FVDG) hervorgegangen war. Nettlau schrieb regelmäßig für diese Zeitschrift. In seinen Artikeln formulierte er seine grundlegendsten Gedanken in kompakter Form, weshalb diese Edition einen guten Überblick vermittelt und als Einstieg in Nettlaus Gedankenwelt zu verstehen ist.

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Information

Nationalismus und Internationalismus (1932)

(Erstpublikation Februar 1932, erschienen in: „Die Internationale“)
Nationalismus und Internationalismus sind wie Individualismus und Sozialismus Teile des allgemeinen Problems der Menschheit, das Leben jedes einzelnen unbeeinträchtigt und möglichst gefördert durch das Leben seiner Mitmenschen sich abspielen zu sehen. Frühere Entwicklungsstufen ließen den einzelnen in der Gesamtheit untergehen oder nahmen Eingriffe des einzelnen in das Leben Schwächerer als unvermeidliche Tatsache hin, für die sich immer Apologeten fanden. Ersteres war das Schicksal der Tierwelt, wenn wir mit Recht vermuten, daß diese Unterwerfung unter einen überlieferten Gesamtwillen die individuelle Betätigung derart hemmte und verkümmern ließ, daß nur jener Gehorsam festen Regeln gegenüber, den wir “Instinkt” nennen, im Tier wirksam zu sein scheint, neben welchem eigenes Denken zwar die Wahl der zweckmäßigen Instinkthandlung bestimmt, sonst aber keine wirklich neuen Wege mehr sucht - soweit wir dies beurteilen können. In den Menschentieren aber gewann unter uns unbekannten Umständen dieses eigene Denken doch das Übergewicht über die Instinkthandlungen, setzte allmählich wirksamere Handlungen an deren Stelle und erwarb sich so Hilfskräfte, das Werkzeug und die Arbeit an erster Stelle, um dann in sehr langsamer Entwicklung, von der nur ein kleiner Zeitraum, wenige Jahrtausende, uns näher bekannt ist, die Menschen auf eine gewisse Höhe zu bringen, auf der sie sich “Herren der Schöpfung” nennen, weil sie allen übrigen Lebewesen überlegen zu sein glauben. Im Lauf dieser Entwicklung spielte gewiß Differenzierung eine Hauptrolle, das heißt größerer Fortschritt unter besonders günstigen Verhältnissen, die Individualisierung einer Masse gegenüber, und daraus entstanden die materielle Vormacht von Kraft und Intelligenz und die Massenpsychose der Resignation und des Gehorsams, auch die geistige Passivität der großen Mehrheit, und diese Ungleichheit wurde mit allen UnterdrückungsmitteIn verewigt, mit aller Betörung eingeprägt und wird erst der vollständigen sozialen Revolution weichen, deren Kommen also mit dem Aufstieg der Menschheit untrennbar verbunden ist. Bis dahin verkörpert jede uns umgebende von der heutigen Öffentlichkeit sanktionierte Einrichtung das Vorrecht der Stärkeren und sucht dasselbe zu erhalten und zu verstärken. Individualismus, höchste persönliche Entwicklung in dem wahren Sinn dieses Wortes, bedeutet unter solchen Umständen heute vor allem Egoismus und nach Möglichkeit Tyrannei und Ausbeutung, sowie Nationalismus unter den gleichen Umständen nationalen Dünkel und Haß, unbedingtes Vorrecht der eigenen Nationalität und Feindseligkeit gegen alle anderen Nationalitäten bedeutet, und zwar, da der Staat die unsozialste Zusammenfassung materieller Machtmittel ist, vorzugsweise in der Form des Nationalstaats. Es ist wesentlich, einzusehen, daß all diese uns umgebenden so vielfachen Unvollkommenheiten ein Ganzes bilden, eine Entwicklungsstufe, gegen die jetzt allerseits sie zu überwinden entschlossene Kräfte heranwachsen: diese Kräfte, deren Zahl noch beschränkt ist, müssen mit besonderer Klugheit eingesetzt werden. Die letzten 150 Jahre, in denen erst dieser Kampf in größerem Umfang aufgenommen wurde, zeigen, daß es nicht möglich war, die Vergangenheit zu überrennen, weder durch große Revolutionen, noch durch die wunderbare Blüte der Wissenschaft des neunzehnten, die Blüte der Technik des zwanzigsten Jahrhunderts, noch durch die geistige Aufklärung des achtzehnten, auch nicht durch den grandiosen Appell an alle Unterdrückten und Ausgebeuteten, den der Sozialismus in seiner ersten Blüte und Organisationsformen, wie die Internationale von 1864, und so viele Taten sozialer Empörung bilden. Es ist nötig, auf all diesen Gebieten fortzufahren, aber auch die Angriffskräfte zu spezialisieren, um ihre Wirkung zu vertiefen. Da hierbei manchmal das Gesamtziel aus dem Auge verloren wird, ist die richtige Verteilung dieser Kräfte sehr schwer. Manche schreiten vor, andere bleiben zurück, andere irren sich bezüglich der Richtung, in der das Hauptziel liegt oder überschätzen Teilerfolge und ruhen bei ihnen vorzeitig aus. Man sprach wohl schon von einer Internationale des Fortschritts, aber sie scheint jetzt praktisch in weiter Ferne zu liegen, während die internationale Reaktion die Welt beherrscht. So kam es auch, daß für uns selbst so viele Fragen noch nicht geklärt sind und immer wieder aufgeworfen und debattiert werden, so die des Verhältnisses von Individualismus und Sozialismus, von Kollektivismus und Kommunismus, die der verschiedenen Organisationsformen usw. und auch die von Nationalismus und Internationalismus, die ich hier betrachten möchte.
Spärliche Menschenhorden, nahrungsuchend und vor allem auf ihren Schutz bedacht, durchwanderten die ergiebigsten Gegenden, begründeten Siedlungen und wurden bei Begegnung mit anderen Horden Sieger oder Besiegte, Herren über sie oder ihre Sklaven, mit ihnen verschmelzend oder oft ganz ausgerottet. So wurden die Menschen ungezählte Jahrtausende hindurch gruppiert und umgruppiert, von erfolgreichen Despoten zusammengerafft, und bald wieder in Volksgruppen zerfallend, mit manchen Nachbarn sich allmählich befreundend, mit anderen beständig verfeindet. Die Geschichte dieser unsern wenigen Jahrtausenden gegenüber endlos langen Zeit ist nicht überliefert, und unsere Kenntnis beginnt mit der Kunde großer orientalischer Despotien, in welche die verschiedenartigsten Volksstämme hineingezwungen waren, und kleinere Gebiete die jenen Despotien noch Widerstand leisteten, und jenseits derselben vielleicht lockerer Bünde von Stämmen, bis ein Despot die Vormacht erlangte. Europa, das uns ja gerade für jene Zeit so wenig bekannt ist, bot noch Raum für Stammeswanderungen, die von ärmeren Gegenden in fruchtbarere führen sollten, wodurch die nach Süden dringenden Stämme dann mit dem Orient in direkte Berührung kamen (Balkanhalbinsel), oder von ihm durch die Mittelmeerschiffahrt kolonisiert und in Handelsverkehr gezogen wurden. Diese Begegnung von so verschiedenen Völkergruppen, auf dem zu einer Massenbeherrschung nicht geeigneten Gebirgs- und Inselterrain des südöstlichen Europa, erlaubte weder jenen europäischen Stämmen, die ältere vorderasiatische und ägyptische Kultur zu zerstören, noch dem asiatischen Despotismus, sich dieselben zu unterwerfen, und sich selbst nach Europa vorzuschieben, und dieser erste und bekannte relative Gleichgewichtszustand, bei dem aber kein Erschlaffung eintrat, war wohl der erste Zustand, in welchem wenigstens kleine, sehr kleine Teile der Menschheit bedeutenden geistigen Fortschritt machten. Wäre dies schon jemals früher geschehen, würde der Faden der Überlieferung wohl nicht abgerissen sein, wie er seit jener urgriechischen Zeit vor etwa 3000 Jahren nicht abgerissen ist. Aus früherer Zeit und von anderen Völkern kennen wir nur die primitiven religiösen Vorstellungen, ausgebildete Gesetz- und Verwaltungsnormen despotischer und monopolistischer Art und die Anfänge astronomischer Beobachtungen; daneben hatte jedes Volk seine Stammsagen, in denen seine Kämpfe verherrlicht wurden, analog der heutigen Verbreitung des Patriotismus durch Schule, Presse und so viele andere Mittel. Dies war eine der Quellen des Nationalismus. Als die griechischen Denker und Künstler zum ersten Male von der Religion und Tradition unabhängig zu denken und zu schaffen wagten, und die Künstler dem allgemein menschlichen Schönheitsideal so nahe kamen, und einiges von dieser Denk- und Schönheitsfreude sich auch in weitere Kreise eines Teiles dieses Volkes verbreitete, entstand daneben schon jener Bildungsstolz, der weniger begünstigte Teile dieses Volkes als Böotier oder ungebildete Spartaner verhöhnte und für den die übrigen Völker nur “Barbaren” waren - dies war eine zweite Quelle des Nationalismus und rächte sich schon innerhalb von Griechenland selbst, indem das hochmütige Athen von Sparta ruiniert wurde, und später kam ganz Griechenland unter die Faust der mazedonischen Halbbarbaren. Der schwere Kampf zur Abwehr des persischen Despotismus intensivierte den kriegerischen Patriotismus und den Stolz, relativ freie Einrichtungen gegen den Despotismus zu verteidigen. Eine Menschheitssolidarität kannte man in jenem Zeitalter des Sklaventums nicht, und jedes Volk glaubte aufrichtig, das beste zu tun, wenn es sich aufs äußerste verteidigte, da ihm sonst nur Plünderung, Tod oder Sklaverei bevorstanden. Ein Lichtblick waren Föderationen wie die griechische und Bündnisse und Verträge, zu welchen die Sicherung des durch Städtegründungen usw. sich ausdehnenden Handelns einen Anstoß gab.
Bald wurde aber Griechenland ein Teil des Weltreichs Alexanders von Mazedonien, dann des römischen Weltreichs und seine Patrioten fanden sich mit der verlorenen Unabhängigkeit ab, da ihnen ihre kulturelle Überlegenheit gute Behandlung und Einfluß sicherte, wurden meist überzeugte Imperialisten und gelangten dadurch zum erstenmal zu einem falschen Internationalismus, der Völkersolidarität innerhalb dieser Weltreiche gegenüber den “Barbaren” außerhalb derselben und den aus der Menschheit gestrichenen Sklaven überall. Immerhin lag darin eine diskrete Zurückweisung des Standpunktes des römischen Bürgers, der eben nur eroberte und zum Frieden zugelassene Völker vernichtete, und zu Sklaven gemachte Völker und “Barbaren” außerhalb der Grenzen kannte und für die beschönigende griechische Ideologie keinen Sinn hatte.
Das Christentum, als verfolgte Sekte allen Völkerschaften offenstehend und auch die Sklaven nicht ausschließend, gelangte bald unter die Kontrolle seiner Priesterschaft, die es verstand, die Völker innerhalb und außerhalb der römischen Grenzen unter ihr geistiges Joch zu beugen. Wieder entstand ein Weltreich mit gemeinsamem geistigen Patriotismus, der offiziellen Religion, und bitterster Feindschaft gegen Andersdenkende, innerhalb und außerhalb der religiösen Grenzen - Ketzer, freie Denker und Heiden, d.h. Andersgläubige, und im Interesse der alleinherrschenden neuen Religion wurde die alte Kultur preisgegeben, wurden West und Ost blutig getrennt, vollzogen sich die Gräuel der Kreuzzüge und wurde noch nach vierzehn und fünfzehn Jahrhunderten diese Diktatur durch Inquisition und Jesuitengründung neu befestigt, und die endlich aus ihr flüchtenden, die protestantischen Richtungen, waren zu wirklicher, geistiger Selbstbefreiung unfähig und tragen freiwillig das religiöse Joch bis heute weiter.
Hierdurch wurden für mehr als ein Jahrtausend die antiken Keime allgemein menschlicher Anschauungen und beginnenden wissenschaftlichen Denkens zertreten. Das Altertum schien nur ein Erbstück hinterlassen zu haben: römische Machtgier, Härte, Grausamkeit, und jeder Barbarenstaat, groß oder klein, suchte ein neues Rom zu werden, allen anderen feindlich, beutegierig und nur die überall gleichmächtige Kirche respektierend, die eben - wie heute das Finanzkapital - jederzeit überall eine Krise erregen, eine Katastrophe herbeiführen konnte. Die Völker waren da nicht nationalistisch und nicht internationalistisch, weil sie einfach gar nichts bedeuteten; sie hatten zu gehorchen und führten die Kriege aus, die weltliche und geistliche Macht- und Beutegier ihnen diktierten. Gewiß versuchten die Städte ihr eigenes Leben zu führen und wurden zeitweilig ein Machtfaktor durch Städtebünde, und die Bauern empörten sich an vielen Orten, aber all dieser Widerstand wurde blutig unterdrückt, und die modernen Staaten, auf den Trümmern kleinerer Staaten und lokaler Unabhängigkeiten errichtet, gingen als Sieger hervor. Das immer methodischere Gewaltregime des sechszehnten bis achtzehnten Jahrhunderts wurde begründet.
So wurde also wieder unzähligen Menschen ihre engere Heimat genommen, um sie von der Beamtenschaft ferner Staatszentren regieren zu lassen. Dies gereichte manchen den Zentren nahen oder aus diesem oder jenem Grund gefügigen Bevölkerungen zum Vorteil, und bei diesen bildete sich das sogenannte Staatsgefühl aus, und sie verschmerzten und vergaßen das verlorene lokale Leben. Für andere blieben die Wunden offen, und ihre Sehnsucht oder ihr Wunsch nach Rache war eine neue Quelle des Nationalismus.
Dynastische Interessen, Diplomatenränke und die allseitige Gier nach Besitz- und Machtvermehrung auf Kosten Schwächerer begründeten also die modernen Staaten, neben ihnen aber auch der wachsende Einfluß ökonomischer Verhältnisse, sobald nur die Produktion und der Handel den mittelalterlichen Verhältnissen lokaler Kleinproduktion und Selbstversorgung entwuchsen. Von da ab waren Gebiete von gewisser Größe zweckmäßig und mußten für jeden Staat geschaffen werden, der lebens- und verteidigungsfähig bleiben wollte. Dies wurde für Frankreich, für Österreich-Ungarn, für England - Schottland - Irland, im neunzehnten Jahrhundert für Deutschland und Italien verwirklicht und hatte sich auch für Spanien und Rußland längst ergeben, während die Türkei nach einer Eroberungsperiode in eine kontinuierliche Verlustperiode eintrat, die skandinavischen Staaten schließlich auf ihr eigenes Territorium beschränkt wurden und Polen durch mehr als ein Jahrhundert als Staat eliminiert wurde. Dazu kamen die ungeheuren amerikanischen Wirtschaftsgebiete, die sich erst mit Europäern füllten und lange die europäischen Verhältnisse nur wenig beeinflußten.
Diesen Entwicklungen gegenüber schwieg der Nationalismus, denn sie kamen ökonomisch auch den national unbefriedigsten zugute. Ja, er stimmte mit allen Einigungsbestrebungen überein; das geeinte Deutschland und Italien waren seine Ziele, wie vorher das unteilbare Frankreich und die nordamerikanischen Vereinigten Staaten. Im achtzehnten Jahrhundert schien die Existenz der ökonomischen staatlichen Einheiten so gesichert, daß freundliche internationale Gefühle die vorgeschrittensten Kreise beseelten - Freimaurer, Illuminaten, Kosmopoliten (Weltbürger), eine Strömung die in der entstehenden internationalen Naturforschung des siebzehnten und im philosophisch-historisch-ästhetischen Humanismus des fünfzehnten und sechszehnten Jahrhunderts Vorbegründer hatte.
Dann wurden die fortschrittlichen Entwicklungen jäh gestört durch das Entarten der französischen Revolution zur militärischen Diktatur Napoleons und die französische Eroberung großer Teile des europäischen Festlandes. Diese gewaltsame Beeinträchtigung des nationalen Lebens erweckte den kulturellen Nationalismus, der zunächst in romantischer Pflege der lokalen Geschichte, Tradition und Eigenart z.B. der Wachrufung früherer Blüteperioden der Kunst und der Literatur, des verklungenen Volksliedes und der Märchen, Trost suchte. Hieraus entwickelten sich später und besonders da, wo eine solche Vergangenheit nicht die erhoffte Reichlichkeit bot, viel einseitigere nationale Reklamationen, besonders die nach der Wiederbelebung von Sprachen, deren Geltungskreis beschränkt geblieben war, auf dem Fuß der Gleichheit mit allgemein verbreiteten Sprachen. Mit einem Wort, der kulturelle Nationalismus wurde zum politischen Kampfmittel gemacht, und dies erregte auf der anderen Seite Erbitterung, da es in das praktische Leben der Gegenwart um jeden Preis störende, d.h. den allgemeinen Verkehr erschwerende Faktoren aus der Vergangenheit hineinbrachte, die man als der fernen Vergangenheit angehörend zu betrachten gewohnt war.
Hier stießen eben notwendigerweise verschiedene Auffassungen zusammen, diejenige großer Völker, welche kaum begriff, daß man die durch zunehmende Bildung erleichterte Verständigung über weite Gebiete hin durch besondere Pflege lokaler Sprachen wieder erschweren wollte, und diejenige der Angehörigen dieser lokalen Sprachen, deren nationale Bewegungselemente wenigstens unermüdlich diese Sprachen neu beleben und ihnen öffentliche Gleichstellung usw. verschaffen wollten, und die zu diesem Zweck allmählich für Separatismus und nationale Einheitsstaaten eintraten, was diese Fragen zu allgemein politischen, und was man lange Zeit wenig beachtete und zu spät in seiner vollen Bedeutung erkannte, auch wirtschaftlichen Fragen machte.
Es war den Nationalisten sehr leicht, sich als Opfer früherer geschichtlicher Niederlagen, manchmal vor vielen Jahrhunderten, zu betrachten, und ebenso vom abstrakten Gleichheitsstandpunkt aus die Gleichberechtigung aller Sprachen zu erklären. Wenn dagegen behauptet wurde, daß die jetzige Menschheit ihren eigenen Weg zu gehen habe, Gerechtigkeit unter sich selbst herstellend - eine ungeheure Aufgabe, die nicht noch durch die Wiedergutmachung aller in der früheren Geschichte begangenen Irrtümer kompliziert werden könne -, erschien dies natürlich als grausame Abweisung. Ebenso konnte geltend gemacht werden, daß die Sprachen als Verständigungsmittel je nach der Zahl der von ihnen erreichten Menschen einen verschiedenen Nutzwert besitzen, und daß der Ausbau von Sprachinseln für kleine Sprachen der allgemein angestrebten Verkehrserleichterung zuwiderlaufe; dem wurde manchmal mit der Drohung des Anschlusses an andere Weltsprachen geantwortet, einer politischen Kampfhandlung also, die das Fehlen des Verständigungswillens zeigte. Kaum beachtet blieb die Tatsache, daß auch die größten Sprachen seinerzeit dadurch entstanden, daß von zahlreichen Dialekten sprachlich gleichen Werts und Rechts durch historische Verhältnisse ein einziger allmählich die Hauptgeltung bekam, und daß alle anderen Dialekte längst ihm gegenüber auf öffentliche Gleichstellung usw. verzichtet haben, ohne dadurch ihr eigenes lokales Leben und manchmal ihre literarische Ausübung aufzugeben. Wenn die englische, französische, spanische, italienische, deutsche, russische und andere Weltsprachen so durch den Verzicht unzähliger Dialekte ihre jetzige Form erhielten, dann konnte von den Angehörigen kleiner Sprachen, die sie ja ohnedies praktisch benützen, auf diesem Gebiet ähnliche Rücksicht verlangt werden.
So ist z.B. die bis zum siebzehnten Jahrhundert auch im Druck vielfach gebrauchte niederdeutsche Sprache seit damals dem Hochdeutsch im öffentlichen Leben, im Druck usw., vollständig gewichen, ohne daß sie in den vielen Formen des Plattdeutsch je sprachlich zurückgewichen wäre. Das Hochdeutsch selbst beruht auf dem Verzicht der südlichen Mundarten zugunsten eines von ihnen allen ziemlich entfernten Mitteldeutsch, während die Mundart von der Schweiz und dem Elsaß bis zu den östlichen Sprachinseln hin ungestört weiterblüht.
Ebenso sind die schottische Form des Englischen, alle italienischen Dialekte, die südfranzösischen und katalonischen Schwester sprachen des Nordfranzösischen und des kastilianischen Spanisch zurückgetreten, ohne dadurch ihr Eigenleben zu verlieren; kurz, überall wo heute fünf Sprachen sind, sind gewiß fünfzig Dialekte und Dutzende darunter, aus denen mit Leichtigkeit lokale Sprachen werden könnten, die dann einen lokalen Nationalstaat erfordern würden. Da die Menschen aber sich nicht als ethnographisches Museum gruppieren, sondern frei auf der Erde bewegen wollen, so werden in der Regel für Dialekte und kleine Spracheinheiten keine Staaten gegründet. Jedes Kind in allen Ländern lernt zum Dialekt und zur häuslichen Umgangssprache die Schriftsprache dazu, und eine große Welt eröffnet sich ihm auf Kosten einiger Mühe im meist arbeitsfreien Schulalter. Statt dessen Heranwachsende in kleine Sprachen einzusperren, wie es z.B. jetzt mit dem Litauischen und dem Irischen geschieht, empfinden viele als Rückschritt, ohne der lokalen Pflege solcher Sprachen nahetreten zu wollen. Wir sahen auch, daß man z.B. in Frankreich den tatsächlich bescheidenen Wünschen der Bretonen nie entgegenkam, und ebensowenig hatte man im früheren Großbritannien für die ganz künstliche Wiederverbreitung des lokal sehr begrenzten und beinahe schriftlos gewordenen Irländischen Sympathien, und das noch lebende schottische Gälisch blieb auch tatsächlich in diesem schlummernden Zustand, während mit dem Irischen Freistaat das Irische jetzt dem Englischen im öffentlichen Leben gleichsteht. Die verbreitetste keltische Sprache, das Cymrische in Wales, ist eine der wenigen kleinen Sprachen, um die nie Kämpfe entstanden, weil ihr öffentlicher Gebrauch und der dortige Gebrauch des Englischen nach dem praktischen Bedürfnis geregelt wurde und nicht im Sinn weder des Nationalismus noch der unbedingten Vorherrschaft der großen Sprache, wie sie in Frankreich dem Bretonischen gegenüber besteht.
Manche kleineren Sprachen traten im neunzehnten Jahrhundert erfolgreich in die öffentliche Sprachwelt ein, nachdem die erwähnte romantische Periode den Geist der Vergangenheit neu belebt und nachdem auch örtliche Hindernisse, nicht nur staatlicher Druck oder Fremdherrschaft, sondern auch in manchen Fällen weitverbreiteter Bildungsmangel weggefallen waren oder sich vermindert hatten. So die Neugriechische, Rumänische, Serbisch-Kroatische, Slovenische, Tschechische, die Vlämische und die Katalonische, ebenso die Magyarische, Finnische und das ferne Isländische, auch das Kleinrussische. Daß sie dies konnten, zeigt, daß sie in
früheren Jahrhunderten nichts weniger als Ausrottungsprozessen ausgesetzt waren; sie waren und sind jederzeit die lokalen Volkssprachen, die durch Unterrichts- und andere Beschränkungen nur um so fester im Volk wurzelten und bei dem geringen Verkehrsleben jener Jahrhunderte in ihrem Wachstum wenig gestört wurden.
Das zwanzigste Jahrhundert belebte nun die letzten, noch Generationen länger schlummernden kleinen europäischen Sprachen mit nationalen Geltungswünschen, und gab manchen derselben Nationalstaaten - das Estnische, Lettische, Litauische, Albanische, das Bretonische, das Irische (das Cymrische hatte nie eine Unterbrechung seiner literarischen Ausübung erfahren), das Baskische, das Galizische (Galaico, in Nordwestspanien). Ich sehe hier von den nicht wenigen im heutigen Rußland, vom Weißrussischen zu den vielen innerrussischen und Kaukasussprachen, zu lokaler Geltung gekommenen Sprachen ab, ebenso vom Armenischen. Lokal sich betätigend, aber ohne nationalstaatliche Ambitionen sind noch die keltischen Sprachen der Insel Man und des schottischen Hochlands, die rhaeto-romanischen Dialekte, das Jiddische, das Slawische der Slowakei und der Lausitz, das Lappländische, die Zigeunersprache, Maltesische usw. War es nun wirklich von der europäischen Menschheit, die im neunzehnten Jahrhundert ins Weite hinausstrebte, und die übrigen Weltteile durch die neuen Verkehrsmittel (Eisenbahn und Dampfschiff) an sich heranrückte, zu erwarten, daß sie zugleich den extrem lokalen Wünschen all dieser Angehörigen kleiner Sprachen gerecht wurde und Zersplitterungen eintreten ließ, die nur an die Vergangenheit erinnern konnten, der man entwachsen zu sein sich freute? Frankreich hatte sich straff zentralisiert, Italien strebte nach dem Einheitsstaat, Deutschland wendete sich von der Kleinstaaterei ab, die Vereinigten Staaten verhinderten die Sezession der Südstaaten durch Jahre des schwersten Bürgerkrieges, England verweigerte Irland die einfachste Selbstverwaltung (home rule) - war es da ein für die öffentliche Meinung damals faßbares Vorgehen, etwa diesen dreißig bis vierzig kleinen Sprachgebieten wenn möglich Nationalstaaten zu geben? Soviel für einzelne sich direkt unterdrückt fühlende und empörte Völker geschah - die Griechen, Polen, Italiener usw. - so wenig Interesse hatte die liberale öffentliche Meinung an den meisten anderen dieser Kleinvölker, die eben durch ihre Abgeschlossenheit Stützpunkte der Reaktion bildeten, das verläßlichste Militär gegen die radikalen Städte lieferten, dem Klerikalismus Untertan waren usw. Oder man wußte, daß die politischen Führer eines Teils derselben mit dem Zarismus und andern ausländischen Machtfaktoren, von denen sie Unterstützung erwarteten oder erhielten, in Verbindung standen.
So kam es, daß Bakunin, der die Losreißung der Slawen durch eigene Kraft und ihre freie Föderation wünschte, so vereinzelt blieb (1848 bis 1849, 1862 bis 1863), weil eben alle vorhandenen nationalistischen Kräfte schon ihre anderweitigen Hoffnungen oder Verpflichtungen hatten. Wurde denn je eine der nationalen Fragen dieser Art ohne Krieg oder ohne Verbindung mit einem Krieg gelöst? Ich kenne nur eine einzige Ausnahme - die Lostrennung von Norwegen von Schweden, nach welcher Schweden so klug war, nicht in eine Kriegsfalle zu gehen (1905). Griechenland - durch die englische Seeschlacht von Navarino (1827), Belgien - durch den französisch-holländischen Krieg, seit 1830, Bulgarien - durch den russisch-türkischen Krieg (1877 bis 1878), Cuba - durch den amerikanisch-spanischen Krieg (1898), die neuen Nationalstaaten - durch den Weltkrieg, ganz abgesehen von den Kriegen der deutschen und italienischen nationalen Einigungen, - immer waren die sogenannten nationalen Befreiungen oder Einigungen mit Kriegen verbunden, deren Ausgang sie ermöglichte und ihnen jene Form aufprägte, die den Intentionen, den Interessen also, der siegenden Staaten entsprach. Anders kann es wohl nicht sein, weil solche Veränderungen in vorhandene Interessensphären so sehr eingreifen, daß sie in dem verlangten Ausmaß freiwillig nicht gewährt werden. Ob die nationalen Autonomien in Spanien (die Katalonische, Baskische, Galizische) kampflos in ausreichendem Grade errungen werden, ist noch unbekannt.
Machtwille, Eigensinn, Selbstsucht sind Ursachen des Widerstandes, manchmal aber auch die Empfindung, daß eine Trennung eine wirkliche Schädigung bedeuten würden, wie zweifellos die vielen Millionen Nordamerikaner empfanden, die dem Austritt der Südstaaten Jahre des intensivsten Krieges entgegensetzten. Wie immer dies sein mag, das Resultat bleibt dasselbe. Die Dezennien österreichischer Versöhnungspolitik mit den Slawen seit 1879 (System Taaffe) führten zu nichts. Friedliche Lösungen, mit einem Wort, sind hier nicht möglich, weil keine Seite je ihr Spiel ganz verloren gibt und jede einen moralischen Rückhalt zu besitzen glaubt: daher kann nur die Macht Entscheidungen diktieren, und da dies unendlich selten die alleinige eigene Macht der Nationalisten ist, ist ihr Sieg kein reiner und voller, sondern verwickelt sie in neue Bindungen. Dadurch entsteht wohl die Frage, si le jeux vaut la chandelle, ob die ganze nationalistische Aktion der Mühe wert ist.
Als Wesen des Nationalismus ergaben sich in den vorhergehenden Ausführungen sein äußerst sympathischer Inhalt, die besondere Vorliebe für ein gewohntes und befriedigendes Milieu und die Tatsache, d...

Inhaltsverzeichnis

  1. Inhalt
  2. Vorwort zur Edition
  3. Verantwortlichkeit und Solidarität im Klassenkampf (1899)
  4. Einige Worte über konstruktiven Sozialismus (1930)
  5. Klassensozialismus und Menschheitssozialismus (1931)
  6. Die nächste Ausbreitungssphäre des freiheitlichen Sozialismus (1930)
  7. Autoritärer und freiheitlicher Sozialismus (1930)
  8. Quantitätskrise und schwindender Kulturboden erfordern neue Mittel der Abwehr (1932)
  9. Über die Möglichkeiten freiheitlich revolutionären Fortschritts (1929)
  10. Von der Organisation zur Assoziation (1930)
  11. Die heutigen Aufgaben der freiheitlichsozialistischen Organisationen (1930)
  12. Nachwort (1922)
  13. Zwischen Autorität und Freiheit (1932)
  14. Rußland und der Sozialismus (1930)
  15. Nationalismus und Internationalismus (1932)
  16. Kurzbiografie von Max Nettlau